Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil II)

Die Konsensfindung ist ein fundamentaler Schweizer Wesenszug. Und der braucht Zeit. Während rundum schon alles einstürzt, kämpfen wir noch um den gemeinsamen Nenner. Das gilt auch für unser nationales Mikro-Management. Waldmeyer weiss schon heute, was auf seinem Grabstein stehen wird. 

Vor ein paar Tagen schon durfte Waldmeyer seine Reflexionen in Sachen internationales Langsamkonzept unseres Landes mit einer konzentrierten Leserschaft teilen. Heute kreisen seine Gedanken um die nationale Geschwindigkeit. Beziehungsweise um unseren tief verwurzelten Habitus, alles mit angezogener Handbremse anzugehen.

Der fundamentale Trick: erst mal nichts tun

Ja, alles muss fein säuberlich austariert werden in unserem Land. Solange diese einzelnen sozialen Arbeitsschritte nicht abgeschlossen sind, passiert nichts. Leider ist Mutti Merkel nicht mehr am Ruder in Deutschland. Denn unser Zeitlupen-System hätte man sehr gut auch mit dem Handlungskonzept der damaligen Kanzlerin vergleichen können: Erst mal nichts tun, dann nicht antworten, dann überlegen, und dann, der fundamentale Trick, einfach weiter nichts zu tun. Sehr oft muss das gar nicht falsch sein, impliziert Nichtstun doch keine Fehler. Aber leider verzögert es das Tempo, ein Land in eine positive Richtung zu entwickeln.

Simbabwe hat das Frauenstimmrecht seit 1919

Waldmeyer fand wunderbare Beispiele für unseren helvetischen Zeitlupen-Ansatz. Man muss nicht bis 1971 zurückgehen, als sich die Schweiz, nachdem sie sich über Jahrzehnte der internationalen Lächerlichkeit preisgegeben hatte, doch noch durchringen konnte, ein Stimm- und Wahlrecht für die Frauen einzuführen. Finnland hatte es seit 1906, Simbabwe seit 1919. Und dann, nur kurz darauf, eben 1971, die Schweiz. Aber die Schweiz steht nicht allein da, in Nordkorea, beispielsweise, wartet man bis heute auf ein Stimm- und Wahlrecht. Diese Zeitlumpe hier wurde allerdings weniger von der Regierung, denn vom Stimmbürger vorgegeben.

Die Gotthardröhre für die Fussgänger?

1981 lehnten wir es ab, uns mitten in Europa der Einführung der Sommerzeit anzuschliessen. Unter anderem, wir erinnern uns vielleicht, wegen der Kühe. Drei Jahre später führten wir sie trotzdem ein, nachdem sich eine Zeitinsel Schweiz – welch Überraschung – als äusserst unpraktisch erwiesen hatte.

Keinen grossen Blumentopf gewinnen wir in Sachen Bauvorhaben. Die neue Gotthardröhre wird 2029 fertig sein – nach Dezennien der Planung und des Baus. Eine grüne Bundesrätin wird dann vielleicht den Tunnel eröffnen. Vielleicht aber gar nicht für den motorisierten Verkehr, sondern nur für Fahrräder, im besten Fall für Lastenräder. Gleichzeitig wird die alte Röhre für Sanierungszwecke geschlossen werden, die Wiedereröffnung ist für 2032 geplant. Vielleicht nur für Fussgänger?

Die dritte Röhre für den Gubristtunnel brauchte ebenso lange. Nun ist sie offen. Allerdings nur als zweite Röhre, die alten werden ein bisschen renoviert. Bis 2027.

Hohe Geschwindigkeit bei der Errichtung von Baustellen

Aber auch ein neues Gymnasium braucht, so hat sich gezeigt, in der Schweiz vom Beschluss bis zur Fertigstellung 20 Jahre. Schneller geht es mit den Baustellen auf den Strassen: Die werden ziemlich flink erstellt. Allerdings passiert nachher nichts, in der Regel wird dort gar nicht gebaut. Baustellen, so meint Freddy Honegger, Waldmeyers Nachbar, sind ein raffiniertes Kampfmittel der Grünen, um unseren Verkehr lahmzulegen. Die Baustellen werden errichtet und möglichst nie mehr abgeräumt. Honegger, wie wir wissen, hängt gerne Verschwörungstheorien nach – aber hier mag er wohl recht haben.

25 Jahre für neue Kampfjets

Besonders schnell geht es bei der eidgenössischen Beschaffung für die Armee. Für neue Kampfjets müssen mindestens 25 Jahre eingeplant werden. Auch für eine neue Fliegerabwehr. Die Ukraine ist heute besser bestückt als die Eidgenossenschaft. Aber 2030 sollten wir wieder ordentlich ausgerüstet sein. In der Zwischenzeit können wir einfach die Bedrohungslagen runterstufen, dann passiert nichts.

Waldmeyer legt sich einen Kerzenvorrat zu

Ein horrendes Tempo wird auch bei der Sicherstellung der Elektrizitätsenergie an den Tag gelegt. Wir wissen, dass in der Zukunft der Strom nicht reichen wird. Schon heute müssen wir während der Winterzeit 40% importieren. Die Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungsanlagen mittels Wärmepumpen wird den Bedarf an Strom nochmals stark ansteigen lassen. Wir bauen zwar die Sonnenenergie aus, können diese aber kaum speichern. Für die Nacht eventuell ein bisschen, aber nicht für den Winter. Speicherseen sind nicht gross in Planung, neue Kraftwerke auch kaum. Ein neues Wasserkraftwerk bräuchte ab Bauentscheid bis zur Funktion 20 Jahre. Der Wind wird es auch nicht richten, zu gross sind überall die Einsprachen für Windkraftwerke. Und irgendwann wird bei den Atomkraftwerken der Stecker gezogen.

Waldmeyer wird sich jetzt einen Kerzenvorrat zulegen. Tatsächlich ist keine Lösung in Sicht. Wir verhalten uns wie das Kaninchen vor der Schlange: sozusagen in Schockstarre – und tun vorerst einfach nichts. Dabei hätten wir es in der Hand, beispielsweise mit riesigen Speicherkraftwerken in den Alpen die ganze Schweiz, und zwar ganzjährig, zu versorgen. Wir könnten dann auch noch etwas Strom nach Deutschland schicken, ganz teuer natürlich.

Das helvetische System eignet sich nicht für Krisen

Ein seltsames Thema ist auch das mit den Flüchtlingen. Der Bundesrat spricht erst mal Solidarität aus. Ja, wir werden helfen. Dann aber tut der Bund nichts. Es ist ja Sache der Kantone. Er schafft es nicht einmal, eine ordentliche Registrierung für Flüchtlinge sicherzustellen – die Software sei nicht vorhanden. Die Kantone warten auch erst mal ab. Die Flüchtlinge werden allerdings so oder so kommen, das lässt sich schwer verhindern. Und trotzdem: erst mal nichts tun, dann warten, dann schauen. Die Armee beispielsweise könnte spielend sinnvoll eingesetzt werden. Sie ist ausgerüstet, könnte Camps errichten, kluge Übungen veranstalten. Das Material könnte so wunderbar getestet werden, die Abläufe, Verhaltensmuster ebenso. Die WK-Soldaten würden mit Begeisterung nach Hause kommen.

Unser helvetisches System eignet sich ganz einfach nicht für Krisen, ist Waldmeyer überzeugt. Nichtstun, wie wir wissen, ist mitunter etwas vom Besten, das Politiker tun können, damit sie keine Fehler begehen. Aber das gilt – bei Gott – nicht für Krisen. Wenn‘s brennt, ist dieses Verhalten eben brandgefährlich. Das helvetische Schönwetterkonzept hatte Krisen offenbar nicht vorgesehen. Das ist nun alles ein bisschen neu für die Schweiz. Ja, Taskforces wären angesagt, mit schwungvollen Leadern.

Also doch das «Mañana-Konzept»?

Ob es um die nicht gesicherte Altersvorsorge geht, um explodierende Gesundheitskosten: Das Muster wiederholt sich. Ukrainerinnen beispielsweise zeigten sich schockiert, als sie das rückständige, analoge und teure helvetische Gesundheitssystem ohne elektronisches Patientendossier entdeckten.

Natürlich hat unsere gemächliche Art auch Vorteile. Neu kommen zum Beispiel vermehrt chinesische Individualreisende in die Schweiz. Unter anderem nicht nur wegen der schönen Bergwelt und den Uhren, sondern auch wegen des « langsamen Lebensrhythmus ». Diese Wahrnehmung dürfen wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Also doch das Konzept des „Mañana“?

Die Eidgenossen sind mit höherem Tempo einfach überfordert. Leider hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung und der „Real-Time-Abbildung“ des Weltgeschehens, alles ein bisschen beschleunigt, rundherum. In der Folge sind wir nun überfordert, ziehen uns ins Schneckenhaus zurück und bemühen Basisdemokratie, Neutralität und andere Ausreden als Vorwand, um nicht entscheiden zu müssen. Oder nicht Stellung beziehen zu müssen.

Überschallgeschwindigkeit nur als Panikreaktion

Erstaunlicherweise gibt es doch ein paar Ausreisser in diesem helvetischen Zeitlupenkonzept: Tempo-30-Zonen beispielsweise werden quasi über Nacht eingeführt, ebenso Spurverengungen. Entscheide, dass Masken nichts nützen, können mitunter binnen Stunden gefällt werden, oder die CS wird übers Wochenende, de facto mittels Enteignung der Aktionäre, an die UBS verscherbelt. Diese Überschallhandlungen sind ungewöhnlich, aber sie beruhen auch nur auf zwei Pfeilern: einerseits auf fundamentalistischem Aktivismus von Überzeugungstätern auf Behördenstufe, wenn der Souverän nicht gefragt werden muss (so in der Regel in der Verkehrspolitik). Andererseits auf Übersprunghandlungen, die aus schierer Panik resultieren – und die dann auch wider besseres Wissen erfolgen (so im Falle des CS-Debakels).

Ja, Krisen sind einfach nicht unser Ding. Unser System ist bestenfalls auf Langlebigkeit ausgerichtet, im Prinzip aber auf Gemächlichkeit. Waldmeyer ist kein Verfechter dieser helvetischen Zeitlupe. Er entscheidet gerne. So hat er gerade heute festgelegt, was er auf seinem Grabstein einmeisseln lassen wird: „Max Waldmeyer, gestorben an und mit Warten.“

Waldmeyer und die elektrische Verschwörung

Oder: Der wahre Hintergrund des Elektro-Hypes

Waldmeyer wunderte sich: Bei Fahrzeugen mit herkömmlicher fossiler Verbrennung interessieren sich Männer meistens für die Leistung. Frauen interessieren sich vorab für die Abgaswerte, allenfalls für den Verbrauch. Bei Elektrofahrzeugen interessiert nur die Reichweite. Deren Emissions-Bilanz ist egal, sie wird mit null suggeriert. Diese fällt u.a. bei der Produktion der Elektroenergie an – also irgendwo. Das interessiert seltsamerweise niemanden. Aber Waldmeyer schon.

Bei Elektrofahrzeugen wird kaum über den Verbrauch gesprochen. Man lädt den modernen Schlitten einfach wieder auf – was ja nicht viel kostet. Waldmeyer war stolz auf seine Reflexion und entdeckte, dass der ganze Elektrifizierungs-Hype vielleicht nur eine Verschwörung ist. Aber was sollte er nun anstellen mit seiner neuen Erkenntnis …?

Wenn jeder ein Einfamilienhaus hätte, könnte jeder mit seinen Solarpanels das Auto am Tag aufladen – zumindest wenn die Sonne scheint. Da künftig alle im Homeoffice arbeiten und die Karre unbenutzt in der Garage steht, geht das spielend. Auch für Schichtarbeiter ist das ideal: So könnte beispielsweise ein Securitas-Mitarbeiter tagsüber in seiner Villa schlafen und die private Solaranlage arbeiten lassen, nachts dann mit dem fetten Tesla ausrücken.

Brave, new world? Leider, so stellte Waldmeyer fest, sieht die Welt anders aus: Erstens besitzt nicht jeder eine Villa. Und zweitens ist die Produktion der Batterien ausnehmend dreckig und umweltschädigend. Aber das scheint keine Rolle zu spielen. Ebenso wenig, dass nur schon die Rohstoffgewinnung für diese Batterien stark umweltbelastend ist (z.B. im Kongo, wo u.a. die Seltenen Erden abgebaut werden, womöglich mit Kinderarbeit). 

In der Schweiz wird die Energie heute zu weniger als 5% dem Wind und der Sonne abgetrotzt. Der überragende Teil der Elektroenergie kommt aus der Wasserkraft, vor allem aber aus der Atomkraft. Viel Energie wird auch importiert – im Winter bis zu 40%. Die saubere Energie aus unseren Steckdosen kommt dann zu einem guten Teil aus dreckigen Kohlekraftwerken aus Deutschland oder Atomkraftwerken aus Frankreich. Allein das Kohlekraftwerk im deutschen Neurath, so hatte Waldmeyer schon früher hochgerechnet, produziert zehnmal mehr CO2 als der gesamte Schweizer Luftverkehr (Basis: Zeitalter vor Corona).

Bettina Honegger, Waldmeyers Nachbarin, ist der Typ, dem man am Gartenzaun möglichst ausweichen sollte. Leider lässt sich ein Aufeinandertreffen im Raum der Garageneinfahrten manchmal nicht verhindern. Gestern zeigte sie stolz auf ihren neuen Elektro-Golf: „Isch voll elektrisch, weisch!“ Und sie erklärte Waldmeyer, dass wir doch etwas tun müssen. Wegen der Luft, und überhaupt. 

Waldmeyer überlegte kurz, ob er ihr ein „du tötest damit aber Kinder im Kongo, weisch!“ entgegenschleudern sollte. Oder etwas feiner: „Ich meinerseits unterstütze ein Kinderhilfswerk im Kongo, weisch.“ 

Waldmeyer überlegte auch, ob er Bettina die neuesten Erkenntnisse in Sachen Gesamt-CO2-Bilanz eines Fahrzeuglebens näherbringen sollte: Dass ein Elektro-Golf nämlich einem modernen Diesel-Golf unterlegen ist. Der Stromer erreicht ein Break-even in Sachen CO2, über den gesamten Lebenszyklus gemessen, erst nach rund 200‘000 Kilometern – vorher ist der Verbrenner-Golf sauberer. Erst nach dieser hohen Fahrleistung, wenn ein Fahrzeug bei uns also bereits aussortiert und im besten Fall noch in die Ukraine exportiert wird, fällt die Gesamtrechnung leicht zugunsten des Elektrofahrzeuges aus. 

Doch zurück zu Bettina. Kommunikationsmässig entschied sich Waldmeyer nun anders. Bettina hätte seine ökologischen und ökonomischen Überlegungen so oder so nicht verstanden. Andererseits war Bettina, übrigens strenge Veganerin und fundamentalistische Impfgegnerin, immer für alle möglichen und unmöglichen Verschwörungstheorien zu haben. Sie war zum Bespiel überzeugt, dass man mit Covid-19 nun dreimal gechipt wird: das erste Mal beim Maskentragen (denn Masken enthalten einen Chip zur Geo-Ortung, damit „die“ künftig genau wissen, wann wir wo sind). Das zweite Mal beim PCR-Test, wenn ein Chip in die Nasennebenhöhlen eingesetzt wird. Das dritte Mal dann wird man bei der Impfung gechipt. Bettina war neuerdings auch davon überzeugt, dass man aufgrund der 5G-Antennen (welche ja die ganze Misere mit der Pandemie erst ausgelöst hatten), nun auch mit einem einfachen Smartphone, sofern man geimpft ist, 5G-Empfang erhält. Man muss sein Smartphone zu diesem Zweck nur flach auf die Haut am Oberarm halten: Bist du geimpft, hast du 5G-Empfang! Aber das verstärkt natürlich die Pandemie.

Waldmeyer überlegte also: Der ganze Hype um die Elektrifizierung des persönlichen Verkehrs in der Schweiz könnte also ebenso nur eine Verschwörung sein!?

„Bettina, du weisst, dass hinter der ganzen Klimadebatte nur Marxisten stecken? Sie möchten nämlich das Kapital so umverteilen, damit künftig jeder Büezer ein Einfamilienhaus hat. Zum Beispiel auch ein*e Securitas-Mitarbeiter*in (Waldmeyer tippte sich beim Stern* jeweils genderkonform kurz an die Nase). Denn nur mit einer solchen Umverteilung hat jeder auch eine Solaranlage auf dem Dach, und nur so kann jeder genügend saubere Energie produzieren. Die erzwungene CO2-Reduktion mit einer sauberen Luftsäule genau über der Schweiz ist nämlich nur eine Vorbereitung für den bewaffneten Klassenkampf!“

Bettina war verwirrt, und Waldmeyer war zufrieden mit seinem neuen Ansatz. Er setzte sich in seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), drehte den Zündungsschlüssel und lauschte dem angenehmen Blubbern des V8-Motors. Aber plötzlich ärgerte er sich, dass er nun doch ein schlechtes Gewissen hatte. Nicht wegen Bettina, sondern wegen dem V8.

Waldmeyer macht auf LGBTQ* (Fortsetzung)

Oder: Warum Waldmeyer Hellgelb patentieren lassen möchte

Wer seine Firma nicht in Farben hüllt, ist sexistisch. Wenn grosse Unternehmen, vorab aus dem Konsumgüterbereich, sich nicht proaktiv als genderfreundlich outen, gelten sie als genderfeindlich. Also schalten sie Anzeigen, hissen Regenbogenfahnen oder beleuchten ihre Firmenfassaden in bunten Farben. Sie machen das selbstredend nicht freiwillig, nicht aus Überzeugung. Es ist nur eine neue passive Ausprägung des Marketings. Vielleicht könnte auch Waldmeyer selbst aus dem ganzen Gender-Trend ökonomischen Profit schlagen?

Mitunter ist es nur die nackte Angst, Marktanteile aufgrund einer möglicherweise nicht genderfreundlich wahrgenommenen Denke zu verlieren. Also macht man auf Regenbogen. Man beleuchtet die Firmenfassade in den Genderfarben oder koloriert vorübergehend das eigene Logo. „Ja, keine Angst, wir sind auch dabei! Ihr dürft weiter konsumieren bei uns!“ Eine geniale Message? Ob man damit wirklich den Markt der LGBTQ-Individuen erreichen möchte? Waldmeyer vermutet eher, dass die Firmen nur die Hose voll haben und befürchten, irgendetwas oder irgendwo an Ansehen zu verlieren, wenn sie nicht mitmachen. Es geht also nicht um den Markt der tatsächlichen non-binären Gemeinde, sondern nur um das Image bei Gender-Sympathisanten, welches, falls regenbogenlos, leiden könnte.

Ist der Trend nur eine Wohlstandsverwahrlosung?

Waldmeyer überlegte sich, ob diese „Vergenderisierung“ nur eine weitere Ausprägung unserer Wohlstandsverwahrlosung ist. Bei allem Recht für die Anliegen der LGBTQ-Gemeinde: Haben wir tatsächlich keine anderen, vielleicht fundamentaleren Probleme in unserer Gesellschaft? 

«Mohren» sind jetzt verboten, BLM andererseits muss uns zwingend betreffen, obwohl wir in der Schweiz kaum je von vergleichbaren Problemen in Sachen Rassendiskriminierung betroffen waren. Die „Zehn kleinen Negerlein“ dürfen nicht mehr verkauft werden, sie sind vermutlich nur noch im Darknet erhältlich. Und jetzt LGBTQ* als ein plötzliches und allgegenwärtiges Thema.

Gewisse Themen werden in gewissen Kreisen offenbar subjektiv als sehr dramatisch wahrgenommen. Die Beschäftigung mit sich selbst scheint zu überragen, bestenfalls unter Einbezug der unmittelbaren Umwelt (z.B. auch die Beschäftigung mit Fahrradwegen). Während die Chinesen die Seidenstrasse bauen, bauen wir eben Fahrradwege. Ja, jeder macht halt, was er kann. 

Auf jeden Fall ist das Genderthema zurzeit nicht aufzuhalten. Um ja keine Fehler zu begehen, so fiel Waldmeyer plötzlich ein, sollten vielleicht nur noch geschlechtsneutrale Vornamen vergeben werden: Andrea, Alex, Robin oder Mika. Da könnte man nichts falsch machen, falls der/die/das Kind später in irgendeine Richtung geht.

LGBTQ*: Die Aussprache ist das Schwierigste an allem

Die Aussprache des Begriffes ist zweifelsohne schwierig. Nur schon aufgrund des Sterns. (Wie wir wissen, behilft sich Waldmeyer bei der Aussprache des Sterns mit einem kurzen Antippen der Nasenspitze). Aber den Stern braucht es, um auch wirklich alle, die sonst nicht erfasst würden, einzuschliessen. Also nicht nur Lesbians, Gays, Bisexuals, Transgenders, Intersexuals, Queers. Eben auch noch die vielen anderen – die mit dem Stern halt. So weit, so schwierig, den Überblick zu behalten.

Dagegen Ist die physische Intersexualität viel besser überblickbar, davon sind allerdings nur etwa 0.2% der Bevölkerung betroffen (welche weder richtig Mann noch Frau sind). Und für Waldmeyer ist es keine Frage, dass diese Menschen ein volles Integrationsrecht in unserer Gesellschaft verdienen. Schwieriger wird es, wenn sich die Menschen – mit psychischer Intersexualität – im Geist irgendwo dazwischen definieren, als Transgender eben oder Non-Binäre. Natürlich soll es auch für sie einen normalen Platz in unserer Gesellschaft geben. Aber braucht es dafür diesen Hype um das Thema?

Aufgeklärte Bürger nennen heute, vereinfacht, drei Geschlechter: männlich, weiblich, divers. So far, so good. Waldmeyer sieht sich übrigens als männlich. Aber Facebook zählt 60 soziale Geschlechter auf! Von androgyn über geschlechtslos zu butch etwa oder trans. Da gibt es ganz feine Nuancen, fluide Geschlechteridentitäten. Das wird in vielen Kreisen durchaus auch als cool betrachtet.

Waldmeyer war verwirrt. Er betrachtete sich bisher als vollkommen maskulin – und damit als binär. Zwischen fünf und sieben Prozent der Bevölkerung sieht sich indessen anders, eben LGBTQ*, sozial gesehen irgendwo zwischen männlich und weiblich orientiert. Könnte es etwa sein, dass Waldmeyer auch nicht ganz binär ist? Weil es eine Nuance von etwas geben könnte, welche (ein klitzekleines Bisschen nur) eine Abweichung von „männlich“ ergeben könnte? Also nur eine Fraktion von etwas Non-Binärem, so beispielsweise eins bis zwei Prozent. So wenig nämlich, dass Waldmeyer das bisher gar nicht wissen konnte? Die LGBGT+AB-cde-XXX Bewegung könnte vielleicht manch einen Bürger (ja, auch Bürgerinnen…) zu neuen persönlichen und ganz intimen Reflektionen führen. Waldmeyer schüttelte den Gedanken sofort wieder ab und versuchte, sich den ökonomischen Ausprägungen der Genderbewegung zuzuwenden. Eigentlich war ihm das Genderthema ohnehin ein bisschen egal, denn als liberal denkender Mensch gestand er jedem Individuum so oder so zu, so zu sein, wie es sich fühlt. 

Non-Binäre tragen Hellgelb

Waldmeyer, soweit mikro-ökonomisch gestählt, machte sich nun Gedanken darüber, wie man wirtschaftlich von all der Genderei profitieren könnte. Die grossen Firmen profitieren ja auch – also müsste es vielleicht ein persönliches neues Geschäftsmodell geben, um hier mitzumachen? Waldmeyer wurde in seinem singulären Brainstorming jäh von Charlotte unterbrochen: 

„Max, was bringen wir am Samstag für Andrea mit, dem Baby von Irmgard und Sven? Einen Pyjama? Aber hellblau oder rosa? Wir sollten keine Fehler machen!“
Waldmeyer reflektierte erst. Charlotte hatte recht. Man darf das Risiko einer frühzeitigen Zwangs-Sozialisierung nicht eingehen. Deshalb auch das Kind. Das Baby. Aber blöd: Der Boy, aber das Mädchen. Anstatt die Mädchen. Die weibliche Form wird also nur geduldet, wenn Mädchen im Schwarm auftreten. Aber noch viel erstaunlicher, da neuzeitlich: warum das und nicht die Girl? Die Girls sind also auch nur im Pulk weiblich? 

Vieles scheint da ungerecht zu sein. Man müsste mit der Geschlechterzuweisung auf jeden Fall warten bis zur Adoleszenz. Oder zumindest bis zur Fahrprüfung. Dann entscheidet das Kind. Vorher sollte es als Neutrum behandelt werden. Die Namensgebung „Andrea“ war in diesem Sinne also sehr umsichtig!

Waldmeyer hatte nun plötzlich eine Eingebung: „Der Pyjama für Andrea muss zwingend hellgelb sein!“ Charlotte überlegte und dachte an die Druckerpatronen: rot, blau, gelb. Oder eben rosa, hellblau, hellgelb! Eigentlich ganz logisch.

Waldmeyer war in Gedanken bereits bei einem Geschäftsmodell: Man sollte die Farbe Hellgelb marketingmässig besser erschliessen. Non-Binäre tragen ab sofort Hellgelb! Sie wissen es nur noch nicht.

„Charlotte, glaubst du, man kann Hellgelb patentieren lassen?“
Charlotte antwortete, wie so oft, nicht – was Waldmeyer auch nicht weiter störte. Auf jeden Fall freute er sich auf den Besuch bei das Andrea. Der ist das herzige Wesen, die mit dem hellgelben Pyjama.

Ist Max Waldmeyer paranoid? (Teil1)

Oder wie Waldmeyer seine Strom-Autarkie plant

Der Normalzustand einer Gesellschaft war noch nie ein Zustand ohne Katastrophen. Im Gegenteil: Gerade die Abfolge von Katastrophen hat ihren Verlauf bestimmt! Gleich einer Perlenschnur haben sich Zufälle und unvorhersehbare Ereignisse aneinandergereiht und einen quasi schicksalshaften Verlauf ergeben. Das galt auch für Waldmeyers CV: Eine Verkettung von unendlich vielen Zufällen und Einzelentscheiden führte letztlich dazu, dass er gerade jetzt mit Charlotte in seiner Villa in Meisterschwanden sass und ins Kaminfeuer starrte. Den Pfad Waldmeyers Vergangenheit säumten zwar nicht so viele Katastrophen. Hervorzuheben wäre eventuell noch sein Tsunami-Erlebnis 2004 auf den Malediven (vgl. den Waldmeyer-Bericht vom 27.12.2020). Oder dieser Junkie mit dem Messer in Windhoek (Namibia 2015). Oder eben diese blöde Pandemie jetzt. Fast schlimmer noch hätte kürzlich erst der 8. Januar 2021 sein können. Doch dazu später.

Katastrophen haben bestimmte Eintretens-Wahrscheinlichkeiten. Sie reichen von fast nie (z.B. einem Meteoriteneinschlag) zu ziemlich sicher (z.B. eine Flut oder ein Sturm). Man kann die Verteilung dieser Eintretens-Wahrscheinlichkeiten als Gauss’sche Verteilung sehen: links der Glocke fast nie, in der Mitte die vermutlichen, rechts die ziemlich sicher eintretenden Ereignisse. Die links können wir quasi ausser Acht lassen, die rechts kriegen wir einigermassen in den Griff (ein Hochwasser beispielsweise). Die in der Mitte sind die gemeinen: Wir wissen nicht wie sie eintreten, geschweige denn wo und wann. Das sind die echten Katastrophen. Vor allem das Wann bleibt Willkür.

Es handelt sich äusserst selten um die „Black Swans“, wie sie Nassim Taleb beschreibt, die unvorhersehbaren, überfallmässig und plötzlich eintretenden Ereignisse mit eruptiver Wirkung. Die Finanzkrise 2007/2008 beispielsweise war in diesem Ausmass von niemandem vorausgesehen worden. Die meisten grossen Katastrophen sind allerdings keine Black Swans – das war auch die Pandemie nicht. Weil sie nämlich vorauszusehen war und man sich vorbereiten konnte. Oder besser gesagt: Man sich hätte vorbereiten können.

Waldmeyer möchte gerne festhalten, dass der kein „Prepper“ ist. Er hält ja keine Notvorräte in Bunkern, hat kein geheimes Treibstofflager und auch keine umfassende Waffenausrüstung. Wenn die Welt nach einer Katastrophe wie bei „Mad Max“ aussehen würde, müsste man sich natürlich dennoch selber zu helfen wissen. Aber dazu man muss ja nicht gerade ein Prepper werden, sondern einfach nur in Szenarien denken und sich vorsehen.

Natürlich gibt es da eine beachtliche Anzahl von möglichen künftigen Katastrophen: Covid-27 beispielsweise, oder der Vesuv könnte ausbrechen. Ein Erdbeben ist auch nicht auszuschliessen, ebenso wenig eine böse Cyberattacke, der Ausfall des Internets, eine grosse Flut, eine Atomkatastrophe, ein Blackout, der Zusammenbruch des Finanzsystems. Oder gar ein Umsturz?

Ausklammern könnte Waldmeyer das Szenario eines Studienabbruchs seiner Tochter Lara (sie studiert Kunst in Basel). Die Eintretens-Wahrscheinlichkeit ist zwar hoch, aber es wäre eigentlich keine Katastrophe. Ausklammern könnte Waldmeyer auch eher unwahrscheinliche Vorgänge, eine grosse Feuersbrunst beispielsweise in Meisterschwanden. Oder einen Atomkrieg, zu dessen Anlass er in seinem Luftschutzbunker, welcher aufgeklärte Schweizer in der Regel schon längst zu einem Weinkeller umfunktioniert hatten, bis auf weiteres verharren müsste.

Was Waldmeyer jedoch aus seiner Auslegeordnung mit den vielen wahrscheinlichen Katastrophenszenarien lernt: Er muss nicht nur mental auf der Hut sein, sondern sich auch adäquat vorbereiten. (Waldmeyer hatte dazu speziell 13 Theoreme entworfen, die er nächstens zu veröffentlichen gedenkt – aber mehr dazu in einem andern Beitrag).

Vorab ging es Waldmeyer nun um das Durchdenken ganz praktischer Dinge. Waldmeyer unterteilt Katastrophen in solche, die entweder von etwas zu viel oder von etwas zu wenig mit sich bringen. Also beispielsweise zu viel Wasser. Oder zu wenig Treibstoff. Oder von irgendetwas zu wenig. Das „Zuwenige“, soweit es sich um Dinge mit Feststoffen handelt, könnte man natürlich elegant mit einem 3D-Drucker kompensieren: Man stellt einfach her, was fehlt. Doch das mit dem 3D-Drucker hatte ihm Charlotte bereits ausgeredet. „Weil Du es nie schaffen würdest, ihn zu bedienen“. Vielleicht hatte sie recht – allerdings hat die Idee eines 3D-Druckers ohne Zweifel seinen Reiz, denn im Krisenfall könnte man genau das herstellen, was es dann eben nicht mehr gibt, und Waldmeyer könnte so vielleicht ein neues Geschäftsmodell entwickeln.

Am 8. Januar 2021 schrammte Europa an einer Strommangellage mit einer hohen Blackout-Wahrscheinlichkeit vorbei. Wenn die Windräder stillstehen, die Sonne nicht scheint, die Atomkraftwerke in Frankreich etwas gar runtergefahren wurden und gleichzeitig irgendwo im Osten ein klassischer Versorgungsmangel oder ein grösserer Spannungsfehler auftritt, kann das europaweit vernetzte Stromnetz instabil werden. Dann sind die Blackouts da. Um ein Haar wäre es am 8. Januar dazu gekommen. Ein Krisenszenario, das der Bund tatsächlich noch grösser einschätzt als eine Pandemie – seit Jahren. „Aber wir wären ja autark, zumindest für ein paar Tage“, meinte Waldmeyer triumphierend zu Charlotte, „wir haben für fast alle Katastrophenarten vorgesorgt“.

„Und was machst du, wenn plötzlich ein Einbrecher im Schlafzimmer steht?“, meinte Charlotte. Stimmt, daran hatte Waldmeyer nicht gedacht. Das wäre vielleicht ein Vorgang, der sogar wahrscheinlicher wäre als ein Tsunami im Hallwilersee. Oder immerhin so wahrscheinlich wie eine Cyberattacke auf Waldmeyers PC. Oder eben eine Strommangellage.

„Stimmt, Charlotte, wir sollten unser Sicherheits-Dispositiv überarbeiten. Vielleicht müssen wir doch an Waffen denken. Gehen wir doch einmal alle Szenarien durch.“ „Ja, klar, Max. Aber bitte nicht mehr heute Abend, ja!“

Also richtete Waldmeyer seine Gedanken wieder in Richtung Blackout und analysierte die Idee einer eigenen Strom-Autarkie. Ein Blackout wird nämlich kommen, das schien Waldmeyer nun so sicher wie das Amen in der Kirche. Also soll er nur kommen! Nun müsste folgerichtig eine zünftige Solaranlage aufs Dach, auch ein starker Generator müsste her, plus ein grosser Stromspeicher. Vielleicht müsste Charlotte dann ihren Audi aus der Garage rausstellen. Die Batteriespeicher, welche wirklich ein paar Tage oder gar Wochen Autonomie garantieren, sind nämlich auch heute noch so gross wie ein Fahrzeug – und würden so einen Garagenplatz benötigen. Das Problem mit der Batteriegrösse hat selbst der Elon Musk noch nicht in den Griff bekommen, vielleicht auch, weil er sich etwas gar verzettelt mit seinen Plänen (so der Bevölkerung des Mars).

Als weitere Massnahme müsste selbstredend jemand Verdunkelungsvorhänge nähen. Für jeden Raum, wegen den Plünderern. Man stelle sich vor, wie nach ein paar Tagen Blackout brandschatzende Horden durch die Strassen ziehen und in der Nacht plötzlich irgendwo ein Licht sehen. Waldmeyers Licht, Gartenstrasse 4, Meisterschwanden. Das wäre eine zu offensichtliche Einladung. Waldmeyer nahm sich betreffend der Vorhänge vor, Alain anzurufen, den Dekorateur. 

Charlotte antwortet normalerweise nicht auf Waldmeyers seltsame Pläne. Doch diesmal machte sie eine Ausnahme, sie rollte nur die Augen und meinte, allerdings eher spöttisch: „Das Briefing mit Alain übernehme ich. Die Sache ist natürlich hoch-geheim, er darf absolut nichts erfahren. Ich werde ihm erklären, dass wir alle Räume so dunkel wollen, weil wir abwechselnd in allen Räumen schlafen wollen. Alain wird damit als Plünderer schon mal wegfallen.“

Zum Glück hatte Waldmeyer das mit der Garage und dem Audi nicht erwähnt.

Waldmeyer und die Grenzen der Smart Society (Fortsetzung)

Oder der digitale Nahtod

Waldmeyer amüsierte sich nochmals über seine Erlebnisse am letzten Sonntag in Sachen Smart Home (oder Smart Hotel) im Trois Couronnes: Diesen „IT“ musste er doch tatsächlich dreimal rufen, bis nur schon die Basics im Hotelzimmer funktionierten. Bzw. für ihn verständlich waren.

Nun, dieses Wochenende stand weniger Lustiges an: Waldmeyer musste allerlei privaten Büro- und Infrastrukturkram erledigen – was heute in der Regel bedeutet, sich auf einen hoffnungslosen Zweikampf mit Logins, kryptischen Passwörtern und anderen gemeinen digitalen Stolpersteinen einzulassen. Stundenlang. Leider oft ohne Erfolg. 

Wie erwähnt nun also wieder zuhause, gestaltete sich dieser Sonntag weniger amüsant. Es war schon eher zum Verzweifeln. Wobei am Anfang noch alles recht gut lief.

Bei Amazon beispielsweise kam Waldmeyer easy rein. „Charlotte, wie heisst unser Passwort schon wieder?“ Und schon konnte er ordern.

Die neue SRG Sat-Access-Karte fürs Ferienhaus war schon eher tricky. Er schaffte die Aktivierung nicht und beschloss, die blöde Karte einfach unauffällig mit allen Login-Fresszetteln auf Charlottes Arbeitstisch hinzulegen. 

Das Online-Banking wiederum lief besser. Das heisst, das Inland-Banking. Aber dann später, mit der ausländischen Bank, war es komplexer: Dreimal hatte er schon alle Details eingeben, und beim Abschicken dann immer error. Waldmeyer traf einen Management-Entscheid: Das konnte bis Montag warten.

Waldmeyer machte weiter. Mit Schwung hantierte er mit QR-Codes, OT-Passwörtern und anderen kryptischen Codes. Das Abo für den Tennisclub wurde erneuert, die Rotary-Einladung für Dienstag bestätigt. Die neue Nespresso-Maschine online registriert, mit allerlei persönlichen Daten (denn nur so konnte man die Gratiskapseln bestellen).

Auch das Login mittels QR-Code und die Registrierung des neuen Dusch-WCs spulte Waldmeyer ziemlich elegant ab. Nun waren künftige Garantieleistungen bei Geberit sichergestellt. Fäkalien werden also auch digitalisiert. Sei’s drum.

Es lief ganz gut. Bis zum Schraubbohrer von Bosch. Die Garantie musste nämlich, auch mittels QR-Code, jedoch mit einer Geheimzahl angereichert, eingegeben werden – auch hier mit allerlei persönlichen Daten, für welche selbstredend die Datenschutzerklärung, welche die Daten dann nicht schützt, akzeptiert werden musste. Doch bei der Postleitzahl scheiterte Waldmeyer. Es lief nichts mehr. Und bei jedem Versuch musste er alles wieder neu eingeben. Aber wie meistens hatte Charlotte auch hier eine Lösung: „Bosch ist deutsch. Also häng doch einfach eine Zahl ran, ist fünfstellig, weisch!“ Es funktionierte: Meisterschwanden hatte ab sofort die PLZ 56160.

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, aber inzwischen senkte sich die Sonne langsam. Also noch schnell upc. Seit Monaten stimmten die Abrechnungen nicht. Waldmeyer drückte sich behende durch das roboterisierte Telefonprogramm durch, zog ein paar Schleifen, wartete (lange), begann nochmals, dann, endlich, gelangte er an den richtigen Ort, musste allerdings nochmals warten. Waldmeyer erinnerte sich an seine Multitasking-Fähigkeiten als früherer CEO und überbrückte die Wartezeit elegant, indem er zwei subjektiv ziemlich wichtige Emails erledigte, gleichzeitig an den Aperitif dachte und noch kurz aufs Klo schlich – in der Hoffnung natürlich, dass sich upc noch nicht meldet. Aber noch auf dem stillen Örtchen kam die Erlösung: „Unsere Bürozeiten….“. Nun gut, es war Sonntag. Aber warum konnte die Robo-Tante das nicht früher mitteilen? Waldmeyer blieb nachsichtig und verspürte so etwas wie Mitleid für die Sprecherin. Also auch verschieben auf Montag.

Dann wollte Waldmeyer noch schnell die Fahrkarte bei der SBB buchen. Es war ein Primeur, denn Waldmeyer fuhr eigentlich nie mit der Bahn. Aber die VR-Sitzung morgen Abend sollte etwas länger dauern, denn Hansruedi wollte noch die neuen Weine zur Degustation mitbringen. Also besser die Bahn. Bucht man zum ersten Mal online bei der SBB, braucht es mindestens einen Bachelor in IT. Waldmeyer hatte sogar einen Master – aber eben nicht in IT. Er schaffte es nicht. Die Frage der Streckenführung (über Orte, die Waldmeyer gar nicht kannte) war nicht klar, und überhaupt. Entnervt beschloss er, morgen doch besser den Cayenne zu nehmen (schwarz, innen auch).

„Diese Scheiss-Logins“, fluchte Waldmeyer und stürzte hinaus zu Charlotte auf die Terrasse. „Jetzt habe ich endgültig genug. Wann gibt es Aperitif…?“

Charlotte räkelte sich im Bikini auf der Liege und flötete: „Hast du denn einen Login für den Aperitif?“Waldmeyer rannte schreiend in den Garten hinaus. Am liebsten hätte er sich in den Hallwilersee gestürzt. Einzig die Aussicht auf den Aperitif hielt ihn davon ab. Und er verspürte so etwas wie ein digitales Nahtod-Erlebnis.

Waldmeyer überprüft seine Mortalität

Waldmeyer sass in einem weissen Schutzanzug und mit Maske und Handschuhen auf dem Sofa. Er wartete auf seinen Sohn Noa (23). Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich? Wie gestaltete sich seine subjektive Gefährdung? Wie könnte er seine persönliche Mortalität runterbringen? Haushaltsunfälle könnte Waldmeyer schon mal ausklammern. Aber die Sache ist viel komplexer.

Die Corona-Sterblichkeit – die sog. case fatality rate liegt in der Schweiz bei rund 2% – falls man sich denn infizieren sollte. Bei den Jungen liegt sie beinahe bei null, bei den über 80-Jährigen bei rund 16%. Waldmeyer bewegte sich unglücklicherweise schon deutlich über dem Mittelalter, also lag die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, leider wohl nicht mehr bei null. 

Diese Statistik war vergleichbar mit dem Motorradfahren: Mit höherem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall zu sterben – falls man denn Motorrad fahren würde. Bei einem Alter von über 90 zum Beispiel könnte die Wahrscheinlichkeit fast 100% betragen. Überhaupt ist Motorradfahren sau-gefährlich, googelte Waldmeyer weiter: Pro gefahrenen Kilometer rund 20-mal tödlicher als Autofahren. Dafür müsste man nicht mal 90 werden. 

Waldmeyer zog ein vorzeitiges Fazit: Sowohl Covid-19 als auch Motorradfahren weisen eine mit dem Alter exponentiell steigende Mortalität auf. Also sollte man vielleicht beides lassen. Waldmeyer legte diesen Gedankenstrang jedoch wieder zur Seite, denn er schwang sich überhaupt nie auf ein Motorrad; also lag – in seinem spezifischen Fall – die Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen Unfall bei null.

Das Googeln mit den Schutzhandschuhen erforderte einiges an Geschick. Trotzdem gelang es Waldmeyer zu eruieren, dass die Schweiz 2019 genau 187 Verkehrstote zählte (Astra, das zuständige Bundesamt, hat für 2020 noch nicht fertig gezählt, denn dieses Amt verfügt über eine ähnliche Management-Struktur wie das BAG). 1970 waren es noch 1‘773 Tote – also fast 10-mal mehr. Kam dazu: Im gleichen Zeitraum hatte sich der Bestand an Motorfahrzeugen mehr als verdreifacht. Damit hat sich das Risiko, heute in einem Verkehrsunfall zu sterben, um das Dreissigfache verringert. Ob die gefährliche „Verrohung des Verkehrs“ tatsächlich stattfindet, wie das Astra regelmässig meldet? Rein datenbasiert müssten die Autobahnen heute eigentlich „geöffnet“ werden, mit freier Fahrt. Aus Sicherheitsgründen wäre das zu verantworten, denn es würde die Zahl der Verkehrstoten vermutlich nur marginal raufbringen – würde jedoch das raffinierte staatliche Geschäftsmodell mit den drakonischen Geldbussen untergraben.

An Covid-19 starben nun binnen eines Jahres rund 10‘000 Personen („an“ oder „mit“ Covid, wobei merkwürdigerweise niemand weiss, wieviel der „an“- oder der „mit“-Anteil beträgt).

Tatsächlich liegt damit die Wahrscheinlichkeit, an diesem gemeinen Virus zu erliegen offenbar über 50-mal höher, als in einem Verkehrsunfall das Zeitliche zu segnen. Genau das wollte Waldmeyer seinem Sohn Noa vermitteln. Allerdings bestand bei der Erklärung dieses Vergleichs („Verkehr vs. Corona“) die Gefahr, dass Noa künftig die Verkehrsrisiken als noch unerheblicher einschätzt und seinen alten Occasions-BMW noch schneller durchs Knonaueramt prügelt. Waldmeyer legte seine ursprünglich sorgfältig vorbereiteten Argumente also auf die Seite und konzentrierte sich nochmals auf seine eigenen Mortalitäts-Überlegungen. 

Da sind zum Beispiel noch die Haushaltunfälle: Daran sterben in der Schweiz jährlich 2‘400 Personen – also mehr als 10-mal mehr als bei Verkehrsunfällen. Wäre es also angezeigt, Haushalte zu verbieten? Zumindest Haushaltsarbeiten. Insoweit gestaltete sich das Leben Waldmeyers bereits extrem vorsichtig, er mied dieses Sicherheitsrisiko wie der Teufel das Weihwasser.

Beim Sport verhält es sich ähnlich: Die jährlich 135 gemeldeten tödlichen Sportunfälle sind jedoch untertrieben, Sport ist in Tat und Wahrheit viel gefährlicher. In die vorangegangene Statistik mit den 187 Verkehrstoten haben sich nämlich viele Fussgänger und Velofahrer reingeschlichen, welche fairerweise eigentlich nicht den Verkehrs-, sondern den Sportunfällen zugerechnet werden müssten. Sport ist also gefährlicher als Autofahren. Das Risiko eines Sportunfalles betraf Waldmeyer allerdings ebenso nur am Rande, denn er trieb nur äusserst vorsichtig Sport, eigentlich selten, und er betrachtete sich zudem eher als Autofahrer denn als Fussgänger. Waldmeyers subjektive Mortalitätswahrscheinlichkeit (Abteilung Haushalt und Sport) tendierte also gegen null.

Schon grössere Sorgen bereitete ihm eine mögliche Krebs- oder Kreislauferkrankung. Es ging einerseits um die Wahrscheinlichkeit, eine solche Krankheit überhaupt zu kriegen, andererseits um die Sterbewahrscheinlichkeit in einem solchen Fall. In der Schweiz sterben jährlich immerhin fast 40‘000 an Krebs – aber die meisten einfach im hohen Alter, was quasi einer natürlichen Todesursache gleichkommt. An Herzversagen sterben rund 8‘000 p.a. Interessant fand Waldmeyer, dass nur rund 400 p.a. an Leberzirrhose sterben. 

Waldmeyer rauchte nicht, was seine Krebserwartung schon mal deutlich runterdrückte. Und sein BMI von rund 25 (etwas grosszügig ausgelegt) liess das Risiko, vorzeitig an einer Kreislauferkrankung zu sterben, ebenso vernachlässigen. Sein Alkoholkonsum mochte in der Tat, zumindest subjektiv von aussen betrachtet, etwas überdurchschnittlich sein. Aber erstens hatte er gar keine Leberzirrhose eingeplant und zweitens, so reflektierte Waldmeyer, könnte man z.B. an Terre Brune unmöglich sterben.

Fazit: Für Waldmeyer gab es überhaupt keine ausserordentliche Todeschancen, vielleicht würde er einfach 100 werden und dann an Alter sterben?

Und eigentlich gaben alle diese Mortalitäts-Überlegungen gar nicht viel her. Nur etwas beeindruckte Waldmeyer: Wenn die bisher klassischen Mortalitäts-Wahrscheinlichkeiten nun alle fast gegen null tendieren, dann liegt der Risikofaktor von Covid-19 in der Tat um ein Mehrfaches höher. Was Waldmeyer deshalb nun vorhatte mit seinem Sohn Noa: Er wollte ihn in eine Risiko-Besprechung in Sachen Corona einbinden. Der etwas sorglose Umgang der Jugend in Sachen Covid-19 sollte besprochen werden. Und Waldmeyer fand es angemessen, sich für diese Besprechung situationsgerecht zu kleiden. Deshalb der Schutzanzug. Aber Noa hatte offenbar Verspätung.

Charlotte kam gerade von ihrer Tennisstunde zurück und entdeckte Waldmeyer in seiner weissen Montur. „Um Himmels Willen, was hast du denn vor? Was ist passiert?“, entfuhr es ihr. Waldmeyer murmelte etwas unverständlich durch seine FFP-2-Maske hindurch: „Schatz, es ist nicht so, wie es aussieht – ich kann dir alles erklären!“

Keine Waldmeyer-Glosse verpassen!

Ich melde mich für den Newsletter an und erhalte alle zwei Wochen per Email eine kurze Info.

Sie haben sich erfolgreich angemeldet

There was an error while trying to send your request. Please try again.

TRUE ECONOMICS will use the information you provide on this form to be in touch with you and to provide updates and marketing.