Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil II)

Die Konsensfindung ist ein fundamentaler Schweizer Wesenszug. Und der braucht Zeit. Während rundum schon alles einstürzt, kämpfen wir noch um den gemeinsamen Nenner. Das gilt auch für unser nationales Mikro-Management. Waldmeyer weiss schon heute, was auf seinem Grabstein stehen wird. 

Vor ein paar Tagen schon durfte Waldmeyer seine Reflexionen in Sachen internationales Langsamkonzept unseres Landes mit einer konzentrierten Leserschaft teilen. Heute kreisen seine Gedanken um die nationale Geschwindigkeit. Beziehungsweise um unseren tief verwurzelten Habitus, alles mit angezogener Handbremse anzugehen.

Der fundamentale Trick: erst mal nichts tun

Ja, alles muss fein säuberlich austariert werden in unserem Land. Solange diese einzelnen sozialen Arbeitsschritte nicht abgeschlossen sind, passiert nichts. Leider ist Mutti Merkel nicht mehr am Ruder in Deutschland. Denn unser Zeitlupen-System hätte man sehr gut auch mit dem Handlungskonzept der damaligen Kanzlerin vergleichen können: Erst mal nichts tun, dann nicht antworten, dann überlegen, und dann, der fundamentale Trick, einfach weiter nichts zu tun. Sehr oft muss das gar nicht falsch sein, impliziert Nichtstun doch keine Fehler. Aber leider verzögert es das Tempo, ein Land in eine positive Richtung zu entwickeln.

Simbabwe hat das Frauenstimmrecht seit 1919

Waldmeyer fand wunderbare Beispiele für unseren helvetischen Zeitlupen-Ansatz. Man muss nicht bis 1971 zurückgehen, als sich die Schweiz, nachdem sie sich über Jahrzehnte der internationalen Lächerlichkeit preisgegeben hatte, doch noch durchringen konnte, ein Stimm- und Wahlrecht für die Frauen einzuführen. Finnland hatte es seit 1906, Simbabwe seit 1919. Und dann, nur kurz darauf, eben 1971, die Schweiz. Aber die Schweiz steht nicht allein da, in Nordkorea, beispielsweise, wartet man bis heute auf ein Stimm- und Wahlrecht. Diese Zeitlumpe hier wurde allerdings weniger von der Regierung, denn vom Stimmbürger vorgegeben.

Die Gotthardröhre für die Fussgänger?

1981 lehnten wir es ab, uns mitten in Europa der Einführung der Sommerzeit anzuschliessen. Unter anderem, wir erinnern uns vielleicht, wegen der Kühe. Drei Jahre später führten wir sie trotzdem ein, nachdem sich eine Zeitinsel Schweiz – welch Überraschung – als äusserst unpraktisch erwiesen hatte.

Keinen grossen Blumentopf gewinnen wir in Sachen Bauvorhaben. Die neue Gotthardröhre wird 2029 fertig sein – nach Dezennien der Planung und des Baus. Eine grüne Bundesrätin wird dann vielleicht den Tunnel eröffnen. Vielleicht aber gar nicht für den motorisierten Verkehr, sondern nur für Fahrräder, im besten Fall für Lastenräder. Gleichzeitig wird die alte Röhre für Sanierungszwecke geschlossen werden, die Wiedereröffnung ist für 2032 geplant. Vielleicht nur für Fussgänger?

Die dritte Röhre für den Gubristtunnel brauchte ebenso lange. Nun ist sie offen. Allerdings nur als zweite Röhre, die alten werden ein bisschen renoviert. Bis 2027.

Hohe Geschwindigkeit bei der Errichtung von Baustellen

Aber auch ein neues Gymnasium braucht, so hat sich gezeigt, in der Schweiz vom Beschluss bis zur Fertigstellung 20 Jahre. Schneller geht es mit den Baustellen auf den Strassen: Die werden ziemlich flink erstellt. Allerdings passiert nachher nichts, in der Regel wird dort gar nicht gebaut. Baustellen, so meint Freddy Honegger, Waldmeyers Nachbar, sind ein raffiniertes Kampfmittel der Grünen, um unseren Verkehr lahmzulegen. Die Baustellen werden errichtet und möglichst nie mehr abgeräumt. Honegger, wie wir wissen, hängt gerne Verschwörungstheorien nach – aber hier mag er wohl recht haben.

25 Jahre für neue Kampfjets

Besonders schnell geht es bei der eidgenössischen Beschaffung für die Armee. Für neue Kampfjets müssen mindestens 25 Jahre eingeplant werden. Auch für eine neue Fliegerabwehr. Die Ukraine ist heute besser bestückt als die Eidgenossenschaft. Aber 2030 sollten wir wieder ordentlich ausgerüstet sein. In der Zwischenzeit können wir einfach die Bedrohungslagen runterstufen, dann passiert nichts.

Waldmeyer legt sich einen Kerzenvorrat zu

Ein horrendes Tempo wird auch bei der Sicherstellung der Elektrizitätsenergie an den Tag gelegt. Wir wissen, dass in der Zukunft der Strom nicht reichen wird. Schon heute müssen wir während der Winterzeit 40% importieren. Die Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungsanlagen mittels Wärmepumpen wird den Bedarf an Strom nochmals stark ansteigen lassen. Wir bauen zwar die Sonnenenergie aus, können diese aber kaum speichern. Für die Nacht eventuell ein bisschen, aber nicht für den Winter. Speicherseen sind nicht gross in Planung, neue Kraftwerke auch kaum. Ein neues Wasserkraftwerk bräuchte ab Bauentscheid bis zur Funktion 20 Jahre. Der Wind wird es auch nicht richten, zu gross sind überall die Einsprachen für Windkraftwerke. Und irgendwann wird bei den Atomkraftwerken der Stecker gezogen.

Waldmeyer wird sich jetzt einen Kerzenvorrat zulegen. Tatsächlich ist keine Lösung in Sicht. Wir verhalten uns wie das Kaninchen vor der Schlange: sozusagen in Schockstarre – und tun vorerst einfach nichts. Dabei hätten wir es in der Hand, beispielsweise mit riesigen Speicherkraftwerken in den Alpen die ganze Schweiz, und zwar ganzjährig, zu versorgen. Wir könnten dann auch noch etwas Strom nach Deutschland schicken, ganz teuer natürlich.

Das helvetische System eignet sich nicht für Krisen

Ein seltsames Thema ist auch das mit den Flüchtlingen. Der Bundesrat spricht erst mal Solidarität aus. Ja, wir werden helfen. Dann aber tut der Bund nichts. Es ist ja Sache der Kantone. Er schafft es nicht einmal, eine ordentliche Registrierung für Flüchtlinge sicherzustellen – die Software sei nicht vorhanden. Die Kantone warten auch erst mal ab. Die Flüchtlinge werden allerdings so oder so kommen, das lässt sich schwer verhindern. Und trotzdem: erst mal nichts tun, dann warten, dann schauen. Die Armee beispielsweise könnte spielend sinnvoll eingesetzt werden. Sie ist ausgerüstet, könnte Camps errichten, kluge Übungen veranstalten. Das Material könnte so wunderbar getestet werden, die Abläufe, Verhaltensmuster ebenso. Die WK-Soldaten würden mit Begeisterung nach Hause kommen.

Unser helvetisches System eignet sich ganz einfach nicht für Krisen, ist Waldmeyer überzeugt. Nichtstun, wie wir wissen, ist mitunter etwas vom Besten, das Politiker tun können, damit sie keine Fehler begehen. Aber das gilt – bei Gott – nicht für Krisen. Wenn‘s brennt, ist dieses Verhalten eben brandgefährlich. Das helvetische Schönwetterkonzept hatte Krisen offenbar nicht vorgesehen. Das ist nun alles ein bisschen neu für die Schweiz. Ja, Taskforces wären angesagt, mit schwungvollen Leadern.

Also doch das «Mañana-Konzept»?

Ob es um die nicht gesicherte Altersvorsorge geht, um explodierende Gesundheitskosten: Das Muster wiederholt sich. Ukrainerinnen beispielsweise zeigten sich schockiert, als sie das rückständige, analoge und teure helvetische Gesundheitssystem ohne elektronisches Patientendossier entdeckten.

Natürlich hat unsere gemächliche Art auch Vorteile. Neu kommen zum Beispiel vermehrt chinesische Individualreisende in die Schweiz. Unter anderem nicht nur wegen der schönen Bergwelt und den Uhren, sondern auch wegen des « langsamen Lebensrhythmus ». Diese Wahrnehmung dürfen wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Also doch das Konzept des „Mañana“?

Die Eidgenossen sind mit höherem Tempo einfach überfordert. Leider hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung und der „Real-Time-Abbildung“ des Weltgeschehens, alles ein bisschen beschleunigt, rundherum. In der Folge sind wir nun überfordert, ziehen uns ins Schneckenhaus zurück und bemühen Basisdemokratie, Neutralität und andere Ausreden als Vorwand, um nicht entscheiden zu müssen. Oder nicht Stellung beziehen zu müssen.

Überschallgeschwindigkeit nur als Panikreaktion

Erstaunlicherweise gibt es doch ein paar Ausreisser in diesem helvetischen Zeitlupenkonzept: Tempo-30-Zonen beispielsweise werden quasi über Nacht eingeführt, ebenso Spurverengungen. Entscheide, dass Masken nichts nützen, können mitunter binnen Stunden gefällt werden, oder die CS wird übers Wochenende, de facto mittels Enteignung der Aktionäre, an die UBS verscherbelt. Diese Überschallhandlungen sind ungewöhnlich, aber sie beruhen auch nur auf zwei Pfeilern: einerseits auf fundamentalistischem Aktivismus von Überzeugungstätern auf Behördenstufe, wenn der Souverän nicht gefragt werden muss (so in der Regel in der Verkehrspolitik). Andererseits auf Übersprunghandlungen, die aus schierer Panik resultieren – und die dann auch wider besseres Wissen erfolgen (so im Falle des CS-Debakels).

Ja, Krisen sind einfach nicht unser Ding. Unser System ist bestenfalls auf Langlebigkeit ausgerichtet, im Prinzip aber auf Gemächlichkeit. Waldmeyer ist kein Verfechter dieser helvetischen Zeitlupe. Er entscheidet gerne. So hat er gerade heute festgelegt, was er auf seinem Grabstein einmeisseln lassen wird: „Max Waldmeyer, gestorben an und mit Warten.“