Waldmeyer, die Hamas und das «Aber»

Die Gräueltaten der Hamas sind durch nichts zu rechtfertigen. Gleichzeitig ist Waldmeyer klar, dass nicht alle Palästinenser die Hamas unterstützen. Aber die meisten offenbar schon, wie auch viele arabisch/muslimische Communities in der ganzen Welt. Max Waldmeyer tut sich schwer mit einer Einordnung.

«Frii, frii, Päläschtein» wird in unseren Städten skandiert. So klingt es bisweilen, helvetisiert, wenn unsere Demonstranten Plätze bevölkern und durch Strassen ziehen. Auch Waldmeyers Tochter Lara (sie wechselte erst kürzlich ihr Studium von Kunst auf Ethnologie) verteidigt an diesem Freitagabend bei Waldmeyers zuhause die Palästinenser. Oder einfach die Bewegung. Oder die Demos. Und überhaupt. Lara ist nicht bildungsfern – aber sie verhält sich merkwürdigerweise so. Sie orientiert sich vor allem in Gesprächen mit ihrem direkten Umfeld oder anhand von Pushnachrichten auf ihrem Handy. Und generell aufgrund der Informationen aus den sozialen Medien. «Schau mal, wie die Israelis die Leute rausbomben, das ist Genozid!». Kein Wunder, entstehen so mehr als lebhafte Diskussionen am Familientisch. Charlotte unterbrach das Streitgespräch zwischen Max und Lara und versuchte, ihre Tochter zu verteidigen: «Sie meint es doch nur gut!»

Greta Thunberg, nun mehr als Klimaexpertin

Auch Greta Thunberg, ansonsten eine Klimaexpertin, aber immerhin demogestählt, setzt sich klar, aber unbeholfen für die Palästinenser ein.  Erstaunlich, wie grüne und linke Exponenten sich auch in einem komplett gesonderten Thema so klar artikulieren können. Oder nur instrumentalisieren lassen?

Waldmeyer erkennt: Die Deutungshoheit liegt bei den sozialen Medien. Muslimisch ausgerichtete Organisationen scheinen eben ein viel besseres Marketing zu betreiben als die Gegenseite. TikTok, Telegram etc. dominieren die Meinung eines Grossteils der Informationen, vor allem für die junge Generation.

Aber Hitler baute schöne Autobahnen

Waldmeyer reflektierte. Ja, es gibt immer zwei Seiten. Ein Statement und ein Aber. Hitler, beispielsweise, war ein abscheulicher Diktator, «aber» er hat auch schöne Autobahnen gebaut. Das «Aber» ist entscheidend bei solchen Aussagen. Trump ist ein Betrüger und ein ungehobelter Kerl, «aber»… Nicht, dass wir einen US-Präsidenten mit diesem Massenmörder aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichen möchten. Diese «Abers» relativieren einfach die Defizite einer Verfehlung. In der Tat hatte Trump da und dort seinen Finger ganz berechtigt auf wunde Punkte gelegt, Verschiedenes ausgemistet und ab und an mal den präsidentiellen Tarif durchgegeben. Die Frage drängt sich also auf, wann und ob die «Abers» überhaupt und wie geäussert werden dürfen. Nun gut, man muss wohl unterscheiden, wie weit Verfehlungen von Person gehen dürfen, um ein Aber auszudrücken. Was bei Trump sicher durchgehen wird, geht bei Hitler eben kaum durch.

Aber Gaddafi war auch ein lustiger Kerl

Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi war ein selbstsüchtiger, bizarrer und letztlich krimineller Diktator. Aber er war auch ein lustiger Kerl: ja, «aber». Wir erinnern uns vielleicht, als er anlässlich seines Staatsbesuches in Paris sein grosses Wüstenzelt aufstellen liess und dort Hof hielt. Die Frage sei also erlaubt, ob so ein Aber in direktem Zusammenhang mit Gaddafi erwähnt werden darf, allenfalls sogar im gleichen Satz? Oder erst in einem zweiten Satz? Oder muss man erst alle Übeltaten möglichst abschliessend aufzeigen, bevor ein Aber angezeigt ist?

Die Amerikaner kennen den Begriff des «Whataboutism» – ein verwandtes Prinzip des Aber-Prinzips. Waldmeyer möchte diese Gedankengänge nun noch etwas verfeinern.

Waldmeyer erfindet Aber-Regel

Waldmeyer beschloss, ab sofort folgende Regel einzuführen: Je übler eine Organisation oder ein Despot, Schlächter oder eine andere zweifelhafte Person ist, desto weniger oder desto später ist ein Aber angebracht. Was bei Greta noch durchgehen darf (da zwar eine nervende, aber keine «üble» Person), geht bei einer Hamas – betreffend Rechtfertigung der Schlächterei – überhaupt nicht durch. Je unappetitlicher sich eine Situation darstellt, desto länger muss deshalb mit einem Aber gewartet werden. Wenn es nicht um die Hamas an sich, sondern um den Israel-Kontext zur Hamas geht, müssten vorab schon ein paar verurteilende Sätze betreffend dieser Terroristenbande gesprochen werden, bevor ein Aber folgen darf. Dann im Sinne von «…, aber Israel ist auch nicht heilig» – oder ähnlich. Man könnte, der Einfachheit halber, auch die Zeitspanne festlegen, die vergehen darf, bis ein Aber sozialpolitisch erlaubt ist. In Sekunden. Oder in Minuten.

Fünf Sekunden für Alain Berset

Wenn wir von Alain Berset (beileibe kein Übeltäter) sprechen, müssten wir das etwas differenzierter angehen. Eine Aussage könnte lauten: Bundesrat Berset hatte das BAG nie im Griff, aber der Kerl sieht ganz gut aus. Diese Aussage geht schlank durch, da sie nicht ganz ernst gemeint ist. Die fünf Sekunden bis zum Aber sind in Ordnung. Oder: Bundesrat Berset hat in all den Jahren nie eine nachhaltige Reform durchgebracht, weder bei der AHV noch im Gesundheitswesen, aber er ist ein guter Kommunikator. Eine solche Aussage geht auch, denn sie ist schon ernster gemeint, deshalb muss sie auch besser austariert werden. Und deshalb, für diese zweite Aussage, neun Sekunden bis zum Aber.

Greta kriegt 30 Sekunden

Bei der Hamas ist das anders: Es gibt kaum eine Zeitspanne. Die Gewaltorgien sind durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Bei Idi Amin ebenso wenig, dem Schlächter von Uganda in den 70er Jahren: Die Kommunikationsdauer bis zum Aber müsste hier mindestens eine Stunde dauern, denn er hatte kaum je messbar Positives hervorgebracht. Bei Hitler müsste es auch eine unendlich lange Zeit vergehen, bis die Geschichte mit der Autobahn fallen darf. Oder dass er, wenn auch auf Pump, ein paar Arbeitsplätze geschaffen hatte – aber sonst nur Gewalt und Chaos in der ganzen Welt. Ja, mit einem zweiten Aber liesse sich selbst ein positiver Lichtblick wieder relativieren.

Saddam Hussein, Stalin, Kim Jong-un etc.: Letztlich sind es alles nicht nur problematische Sekunden-Fälle, sondern schon eher mehr als problematische Minuten-Fälle. Es müsste zum Teil wirklich sehr, sehr lange dauern, bis ein Aber erlaubt ist. Bei unserer autistischen Greta, um die es bis vor Kurzem angenehm ruhig geworden ist, müsste Waldmeyer nur faire 30 Sekunden veranschlagen. Denn sie meint es vielleicht gut (oder zumindest ihr Vater im Hintergrund, der sie vermutlich auf Schritt und Tritt steuert). Allerdings hat sie leider immer noch nichts in Sachen Verurteilung der abscheulichen Hamas-Taten gesagt. Sie hätte das Aber zumindest invers verwenden können, mit einem ganz kurzen Sekundeneinsatz: «Die israelischen Gazabomben sind … etc., aber die Palästinenser kämpfen um… etc. Oder ähnlich.

Bei Gaddafi würde Waldmeyer 45 Sekunden akzeptieren, wenn man über ihn urteilen würde. Beim Aber könnte angeführt werden, dass er diesen seltsamen Wüstenstaat immerhin ein bisschen zusammengehalten hatte.

«Aber» sind oft angebracht

Aber zurück zum Hamas-Aber: Wenn ein Aber betreffend die Hamas im Kontext zu den Israeli fallen sollte, müsste ein gebildeter und informierter Mensch doch auch 30 Sekunden verstreichen lassen. Das reicht für eine klare Verurteilung dieses arabischen Meuchelclubs, um anschliessend, mit einem vorsichtig erklärten Aber, zu bemerken, dass angesichts der Härte des israelischen Vorgehens eine Kritik angebracht sein könnte. Die israelische Siedlungspolitik und die standhafte Weigerung Netanjahus betreffend Zweitstaatlösung hatte über Jahre Öl ins Feuer gegossen. Zudem könnte diese Gaza-Ausräucherung doch ein bisschen humanitärer vonstattengehen. Also wäre so ein Aber berechtigt, wenn nicht gar angebracht. Aber bitte warten damit, die vorangehende Satzlänge, die Hamas betreffend, sollte genügend lang sein!

Mit dieser Aber-Prüfung kann Waldmeyer nun die Menschen nach ihrer Haltung einteilen: Er misst die Zeit (in Sekunden) von der Nennung «Hamas» bis zum «Aber». Seine Schwester Claudia beispielsweise (pensionierte Primarlehrerin, Kurzhaarfrisur, lustige bunte Brille, altes Nokia) brauchte nur fünf Sekunden von Hamas bis Israel. Das ist zu wenig. Max Waldmeyer erklärte ihr denn auch mithilfe seines Sekundenansatzes die Lage. Sie verstand es nicht, und die Diskussion wurde abgebrochen.

Lara demonstriert trotzdem

Waldmeyer war stolz auf seine Aber-Messung. Künftig könnte er diese nun in seinem ganzen Umfeld anwenden, um die Qualität der politischen Reflexionen zu messen: Wieviel Zeit, in Sekunden, verstreicht, bis jemand mit dem Aber rausrückt?

«Ich gehe jetzt in die Stadt», meldete Lara am Samstagmorgen. «Ich möchte da mitmachen, bei der Demo». Sie hielt eine Palästina-Fahne in der Hand. «Wir gehen da alle hin, weisch.»

Waldmeyer war entsetzt: «Weisst du, dass die Hamas und andere Extremisten genau darauf hinarbeiten, dass du jetzt auf die Strasse gehst? Liest du eigentlich die Zeitung?»

Lara schwenkte mit der anderen Hand ihr Handy (de facto also die Zeitung): «Täglich. Aber weisst du, was die Israeli den anderen antun?»

Waldmeyers Tochter verschluckte also den kompletten Satz vor dem Aber; die Aber-Zeit betrug folglich null Sekunden. Waldmeyer schlug die Hände über dem Kopf zusammen: «Womit habe ich das verdient?»

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