Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil I)

Waren es doch die Eidgenossen – und nicht die Spanier – die das «Mañana» erfunden hatten? Warum nur herrscht in unserer Staatsführung und auf Behördenstufe ein dermassen langsames Tempo? Waldmeyer ist verzweifelt. 

Passiert irgendetwas auf der Welt, das entschiedenes Handeln erfordert, braucht die Schweiz erst mal viel Zeit. Wenn Nachbarländer bereits Massnahmen ergriffen oder entschieden haben, wird hierzulande sofort und mit Inbrunst reagiert: Aber nur, indem erst mal Reflexion und Diskussion gefordert wird. Und in der Hoffnung, von den äusseren Einflüssen eh verschont zu bleiben, wird eingangs nichts getan. Dieses Konzept funktionierte über viele Jahre. Leider ist nun weltweit ein anderes Tempo angesagt. 

Insbesondere auf der internationalen Ebene wird die Schweiz eingeholt. Wenn es beispielsweise darum geht, eine funktionierende Taskforce für die Verfolgung russischer Korruptionsgelder zu bilden, verweisen wir in erster Linie mal auf die Zuständigkeit der Kantone. Der bei uns verantwortliche ehemalige Winzer Guy Parmelin braucht eben ein bisschen Zeit, um die Brisanz der Lage zu erkennen. Wenn es darum geht, der Taskforce der G7 beizutreten, wird erst einmal gebockt. Inhaltlich gibt es keinen Grund, hier nicht mitzumachen. Im Gegenteil, es würde unserem Ansehen dienen. Aber dieses von Rechtsaussen überzeichnete Bild der „fremden Richter“ verfängt immer wieder und dominiert unsere Entscheide. Oder eben Nicht-Entscheide. Also erst mal abwarten. Wir werden dann so oder so nachgeben müssen, einfach etwas später. 

Das war auch so mit den Sanktionen gegen Russland: Erst mal, mit dem Vorwand der „Neutralität“, nichts tun. Unser netter Onkologe aus dem Tessin, zurzeit Aussenminister der Eidgenossenschaft, meinte, er könnte sich mit Abwarten durchschummeln. Ökonomische Interessen sprachen ja für eine solche Strategie. Dann aber, nur zwei Tage später, schwoll der Druck aus dem Ausland an, und wir mussten nachgeben. Hatte man plötzlich gemerkt, dass wir zum Westen gehören? Nun, es war weniger diese Reflexion als die Erkenntnis, dass ein Abseitsstehen uns diplomatische „Grande Merde“ eingebracht hätte.

Und wie ist es denn mit den Waffenlieferungen? Ein ganz unangenehmes Thema. Also besser mal Aussitzen und schauen, wer wieviel Druck, national und international, ausübt. Waldmeyer hat zumindest erkannt: Waffen und Munition dürfen in der Schweiz zwar produziert, vor allem auch verkauft werden, indessen sollten diese Erzeugnisse möglichst nicht genutzt werden. Also Umsatz ja, aber keine Verwendung und keine Weitergabe an einen Drittstaat – auch dann nicht, wenn dieser überfallen worden ist und die ganze westliche Welt einhelliger Meinung betreffend seinem Verteidigungsrecht ist. Diese Haltung, so meint Waldmeyer, ist ein gefährlicher Cocktail aus pazifistischer Denke und falsch verstandener oder populistischer Interpretation von „Neutralität“. Inzwischen haben wir uns nach Monaten durchgerungen, ein paar brachliegende kaputte Panzer, die zu unserem grossen Erstaunen noch gar nie in der Schweiz waren, an Deutschland weiterzugeben. Nach langem internem Gezänke – aber selbstredend erst unter Druck von aussen. 

Immerhin wollten wir schon 2022 ein bisschen Medikamente an die Ukraine liefern. Swissmedic stellte eine „Prüfung der Ausfuhr“ in Aussicht, es brauche indessen 6 bis 18 Monate. Diese Behörde sollte sich schämen. Wer diese Antwort wohl gegeben hat? Ein subalterner Sachbearbeiter? Oder die Spitze? Tatsache ist: Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf. Zuständig für dieses Debakel ist unser Krankheitsdepartement, geleitet von Chef-Lavierer Alain Berset.

Waldmeyer kennt unzählige Beispiele, die unser Langsamkonzept belegen. Hier ein weiteres: Der ganze Westen, Europa und die USA haben die Hamas richtigerweise als Terrororganisation eingestuft. Die Schweizer Haltung, sich hier „neutral“ zu verhalten, ist nun über Nacht zu einem schlechten Witz verkommen. Die Meinung, das „neutrale“ Abseitsstehen der Schweiz diene dem Image unseres Landes, ist eine doch sehr merkwürdige Vorstellung. Noch merkwürdiger ist, dass der Bundesrat immer noch daran glaubt, die Schweiz so als eloquente Vermittlerin zwischen Israel und der Hamas zu positionieren. Diese Selbstüberschätzung, immer noch angeführt von unserem netten Onkologen, ist bemerkenswert. 

Einen meuchlerischen Aggressor auf die gleiche Stufe zu stellen wie einen Angreifer, ist gerade nicht neutral. Die Kunst besteht aber offenbar darin, möglichst nie Stellung zu beziehen. Aber langsam zeichnet es sich ab: Die Schweiz schadet sich damit.

Doch wenn die Schweiz unter Druck ist, handelt sie. In der Regel mit einem Ablenkungsmanöver. Die Antwort also, ob wir die Hamas nun doch als Terrororganisation einstufen sollten (oder doch besser als NGO?) wird deshalb zurzeit „geprüft“. Der Term „Prüfen“ ist sehr beliebt in unserem Land. Damit signalisieren wir, dass wir das Problem erkannt haben und daran arbeiten. So gewinnt man wunderbar Zeit und muss trotzdem nicht entscheiden. Steigt der Druck, wird – mit vorgetäuschtem Führungsanspruch – sofort eine Kommission ins Leben gerufen. Kommissionen brauchen Zeit, deren Output liegt dann bestenfalls vor, wenn sich das Problem bereits von selbst erledigt hat. Andernfalls gibt man die heisse Kartoffel ans Parlament weiter. Ja, raffiniert, dieses Verzögerungskonzept. Aber letztlich weder der Sache, noch unserem Image dienlich. 

Inzwischen hat allerdings unser neuer Bundesrat, Albert Rösti, reagiert. Die ganze internationale Gemeinschaft hatte auf sein Statement gewartet. Und es kam – halleluja. Albert Rösti verurteilte die Gewalt in diesem Konflikt. Ja, er war klar dagegen! Ein Raunen ging durch die internationale Medienwelt. Breaking News: Switzerland against violence! Was darauf folgte in der Schweiz, betreffend Reaktionen oder Handlungen, löste ebenso ein diplomatisches Erdbeben aus: Es geschah nämlich nichts. Die ganze Welt wird jetzt auf die Schweiz schauen. Wow. Der Bundesrat bekennt Farbe!

In unserem Parlament gibt es einige offene Hamas-Unterstützer. Da scheinen sich ein paar irrlichternde Politiker in einer obskuren Parallelwelt zu bewegen. Zu ihrer Entschuldigung möchte Waldmeyer allerdings anführen, dass sie in der Regel eh schon alle am Trog des Staates hängen und die Welt draussen – auch die reale Arbeitswelt – oft noch nie gesehen haben. Sie wollen sie auch nicht sehen, denn das würde ihr surreales Weltbild beschädigen. Ihre Einbringungen lähmen indessen unsere Entscheidungen im Staat. Sie verlangsamen sie eben, sie befeuern quasi unser Zeitlupenkonzept. Sie tragen dazu bei, dass wir nicht entschlossen handeln können.

Seit 1985 wird mit der EU über einen gescheiten Vertrag verhandelt, der festlegen sollte, wie wir uns unter Nachbarn organisieren könnten. 1991 wurde der EWR-Vertrag unterschrieben, anschliessend aber gleich wieder versenkt. Die Nachteile eines quasi vertragslosen Zustandes werden nun langsam lästig, Abkommen in Sachen Forschung, Bildung oder Energie fehlen. Natürlich werden wir deshalb irgendwann einlenken – der Grad der Nachteile ist im Moment allerdings noch zu wenig ausgeprägt. Also wird bis auf weiteres alles verschoben.

Waldmeyer fand gleich noch ein weiteres Beispiel für robustes und entschlossenes eidgenössisches Handeln: Seit Monaten ist bekannt, dass es in der Schweiz nachweislich 80 russische Spione gibt. Ein guter Teil der in Europa akkreditierten Diplomaten, die nachweislich klandestin für Putins Reich arbeiten, schätzen den Standort Schweiz. Da wird man in Ruhe gelassen. Und was tut unsere Regierung? Nichts. Natürlich befürchtet sie Gegenmassnahmen, vielleicht sogar wirtschaftlicher Natur – das wäre das Schlimmste.

Sanktionen gegen China? Nein, das soll die EU machen. Das ist soweit in Ordnung, wir sind ja ein souveräner Staat. Aber: Bringt uns das wirklich weiter? Geht es etwa um das zweifelhafte Freihandelsabkommen, das wir mit China abschliessen konnten? Dieses stellte so etwas wie einen Nebenarm der Belt and Road Initiative unseres grossen gelben Mannes dar, Meister Xi Jinping. 

Waldmeyer fragt sich also: Ist unsere Demokratie ein Auslaufmodell? Nein, die Führung ist einfach schwach. Die Verhandlungsführungen, auch die Führung der Departemente, die kommunikative Führung des Landes ebenso. Waldmeyer gibt dem Bundesrat die Note 3.5. Also ungenügend.

Da sind die grünen und linken Politiker schon schneller. Im Sinne eines Mikromanagements wird die Welt gerettet. Sie beschränken sich oft auf die Schweiz, glücklicherweise. (Waldmeyer wird sich in einer späteren Reflexion betreffend die Zeitlupe in Sachen nationaler Entscheidungen äussern.)            

Die Welt draussen könnte untergehen, und wir hätten immer noch den Glauben daran, dass es uns nicht betreffen würde. Wie meinte doch Waldmeyers Korporal in der Rekrutenschule: „Numme nid gsprängt!“ 

Es ist historisch verbrieft, dass es die Spanier waren, welche das Mañana erfunden hatten. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht hatten die Spanier dieses praktische Langsamkonzept einfach bei den Eidgenossen abgekupfert?