Waldmeyer und die Vignette

Waldmeyer deutete mit seinem Finger auf seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch): «Was fällt dir auf, Darling?» Charlotte meinte nur: «Er ist dreckig, wie immer.» Waldmeyer korrigierte: «Nein, schau mal, keine Vignette mehr!» Aber Waldmeyer ging es eigentlich generell um Vignetten-Management.

 «Ich habe ohne Hilfe die Buchung der Vignette selbstständig gemacht», triumphierte Waldmeyer, «du siehst, die Digitalisierung kommt», erklärte er weiter. Charlotte schüttelte nur den Kopf. Sie hatte die E-Vignette für ihren Audi (auch schwarz) schon vor Tagen bestellt.

Die Klebevignette ist ein Unsinn

Die Produktion von Klebeetiketten war immer schon ein Unsinn. Bisher ging rund ein Drittel der eh schon spärlichen Einnahmen von rund 400 Millionen pro Jahr für die Produktion und den Vertrieb über den Einzelhandel verloren. Die Kosten für Staatsdiener, welche sich alljährlich über das anachronistische Projekt beugten, nicht mitgerechnet.

Die Vignette war eigentlich nichts anderes als ein marxistisches Umverteilungsprojekt: Geld des Bürgers floss zu Salären von überflüssigen Beamten, zu Vignettenproduzenten und als Unterstützung in den Einzelhandel.

 Der Kleber für rückständige Menschen

Der helvetische Witz besteht nun darin, dass wir zwar eine elektronische Vignette kriegen, parallel dazu aber immer noch kleben dürfen. Diese eidgenössische Nachsicht für rückständige Autobahnnutzer ist zu vergleichen mit dem Fax im BAG. Dieser konnte immer noch nicht aus den Amtstuben verbannt werden, denn es gäbe ja Ärzte, die noch daran hingen. Und noch heute werden gewisse Krankheitsfälle exklusiv per Fax an das Bundesamt für Krankheit rapportiert. Die Digitalisierung wird uns also nur in homöopathischen Dosen zugemutet. Der Autobahnkleber wird noch weitergeführt, wie die Faxgeräte, u.a. mit der Begründung des Datenschutzes.

Designmässige und volkswirtschaftliche Fehlleistung

Waldmeyer fand es schon immer eine Zumutung, einen hässlichen farbigen Kleber, in mitunter unmöglichen Farben, auf sein schönes Fahrzeug zu kleben. Zu allem galt es, das Ding jedes Jahr wieder runterzukratzen. Und zwar genau während der kalten Winterzeit, wenn dieses inkriminierte Klebeteil schlecht weggeht. Mit Charlottes Föhn konnte jeweils Abhilfe geschaffen werden.

Die Klebevignette ist auch volkswirtschaftlich ein Unding. Gute Ausgaben oder Investitionen generieren volkwirtschaftlich einen Mehrwert, die ökonomische Zirkulation löst neue Werte aus. Die Produktion von Stahl und Aluminium beispielsweise kann in einen Porsche umgewandelt werden, der Porsche-Mitarbeiter kauft sich von seinem Gehalt ein Haus, der Handwerker repariert es – und kauft sich vielleicht auch einen Porsche usw.

Ja, so funktioniert der volkswirtschaftliche Multiplikatoreffekt. Bei der Klebeetikette endet dieser Vorgang indessen jäh an der Windschutzscheibe. Produziert werden zwar Fahrkilometer, aber die wären auch ohne die blöde Etikette produziert worden. Soweit Waldmeyers makroökonomischer Abriss.

Man kann auch mit Münz…

Aber in gewissen Ländern in Europa sieht es in Sachen Einnahmen-Effizienz von Strassengebühren auch nicht besser aus. In Italien oder Frankreich etwa dürfen noch Münzen in einen Korb an riesigen Mautstationen geworfen werden. Die Mauthäuschen sind auch schön mit gelangweilten und griesgrämigen Menschen besetzt, die Flächen der Stationen sind immens. Waldmeyer überlegte spontan, dass man diese besser für schöne Raststätten, Asylantenheime oder Go-Kart-Bahnen verwenden könnte – oder sie der Natur zurückgeben.

Osteuropa führt

Andere Länder sind da schon weiter, insbesondere im Osten: In Ungarn, Tschechien, Slowenien, Rumänien oder Bulgarien etc. gibt es schon länger eine elektronische Vignette. Sogar in Österreich, also auch im Osten. So braucht es keine Mautstationen, und kein Mensch wäre dort auf die Idee gekommen (ausser in Österreich), parallel einen dummen Aufkleber im Angebot zu halten. Ideal ist auch, dass in allen diesen Ländern eine Vignette mit differenzierter Gültigkeit geordert werden kann: tageweise, für 10 oder 30 Tage, für ein Vierteljahr, ein ganzes Jahr – je nach Land.

Sollten wir die Vignette verteuern…?

Eine einmalige Durchfahrt durch die Grande Nation kostet rund 100 Euro. Hin- und zurück also 200 Euro. Nicht viel besser sieht es in Italien aus. Übers ganze Jahr gerechnet laden die Bürger dort folglich ziemlich viel ab. Die Deutschen haben freie Fahrt (wie wir wissen, gelang es ihnen während zehn Jahren nicht, eine Maut einzuführen, sie mussten die Projektkosten von 234 Millionen Euro abschreiben). In Österreich kostet die Jahresvignette knapp 100 Euro. In den meisten anderen Staaten Europas ähnlich viel.

Aber alle diese Staaten mit elektronischen Vignetten kennen Kurzzeitvignetten. Nur wir nicht. Der Holländer, welcher einmal im Jahr durch die Schweiz fährt, wählt deshalb bisweilen die Kantonsstrasse und zuckelt durch die Dörfer; er spart sich die 40 Franken, die er dann lieber in Rimini für eine Liegestuhlmiete ausgibt.

Eine Umfrage von Radio SRF ergab kürzlich, dass die Mehrzahl der Bürger sich nicht gegen eine Erhöhung des Vignettenpreises sperren würde. Auch Waldmeyer, beileibe kein Verfechter neuer Steuern, hätte ein gewisses Verständnis dafür. Vor allem, wenn im Gegenzug der Bundesrat nun endlich die Autobahnen nachhaltig ausbaut, um die ewigen Staus zu verhindern.

Waldmeyers Fünf-Punkte-Plan für das künftige Vignetten-Management

Waldmeyer schlägt fünf Massnahmen vor, nicht zuletzt, um die Schweiz etwas tourismusfreundlicher zu gestalten:

Erstens, und er sieht das im Sinne einer persönlichen Grosszügigkeit, wäre er bereit, die Jahresvignette auf 80 Franken zu erhöhen. Gleichzeitig müsste sich Bundesrat Rösti schriftlich verpflichten, die neuralgischen Problempunkte auf den Autobahnen subito zu eliminieren.

Zweitens wird eine Kurzzeitvignette (so für die Holländer) eingeführt, für 20 Franken. Damit haben wir das Umfahrungsproblem vermutlich gelöst.

Drittens kann eine Drei-Monatsvignette für 40 Franken gelöst werden. Das reicht dann für längere Urlaubsaufenthalte in unserem schönen Land. Der Düsseldorfer, der zweimal im Jahr in die Ferienwohnung nach Ascona fährt, würde dann eh gleich die Jahresvignette buchen. Er wäre sogar glücklich dabei, denn er wäre überzeugt, damit ein gutes Geschäft gemacht zu haben.

Viertens entfällt die Vignette für Anhänger. Der Holländer muss heute nämlich eine zweite Vignette für seinen Wohnwagen kaufen. Macht 80 Franken für den Rimini-Trip. Kein Wunder, schleicht er über den Gotthardpass und verstopft uns die Strassen. Auch das Gewerbe und private Besitzer, welche den Anhänger eh nur selten brauchen, hätten Freude, wenn eine Vignette entfiele. In keinem anderen Land muss heute eine Vignette für einen Anhänger gelöst werden; das Argument der schwierigen elektronischen Kontrolle für ein ganzes Gespann verfängt nicht – alle anderen Länder schaffen das auch.

Fünftes soll diese Kleberei sofort gestoppt werden. Sie ist nur peinlich für unser Land und hochgradig ineffizient. Alternativ könnten ein paar der überflüssigen Staatsdiener eine Helpline bedienen, welche wenig digitalisierten Bürgern bei der Buchung der elektronischen Vignette helfen. Sie könnte einen Franken pro Minute kosten – ein neues Geschäftsmodell vielleicht für selbsttragende staatliche Leistungen?

Ist die Vignette ungerecht?

Charlotte reklamierte: «Eigentlich ist die Vignette ungerecht. Ich fahre eher selten, muss aber trotzdem den vollen Tarif bezahlen. Wer mehr fährt, sollte mehr bezahlen, wer weniger fährt, eben weniger!»

Auch Waldmeyer ist ein grosser Anhänger von verbrauchsabhängigen Kosten. Allerdings findet er, dass es den Staat einen Dreck angeht, wieviel, wohin und warum er rumfährt. Die Behörde als blinder Passagier im Auto? Nein danke! Gewisse politische Kreise hätten das natürlich sehr gerne, so einen Tracker in jedem Auto, und dann wird mal abgerechnet. Nicht umsonst haben alle Staaten in Europa bisher davon abgesehen. Vignetten mit unterschiedlicher Gültigkeitsdauer könnten jedoch eine valable Alternative darstellen.

Und was Charlotte betrifft, hatte Waldmeyer auch eine Lösung: «Du kannst die Vignettenkosten runterbringen, indem du die Kosten für den Autobahnkilometer reduzierst. Du musst einfach mehr fahren!»

Waldmeyer, die Hamas und das «Aber»

Die Gräueltaten der Hamas sind durch nichts zu rechtfertigen. Gleichzeitig ist Waldmeyer klar, dass nicht alle Palästinenser die Hamas unterstützen. Aber die meisten offenbar schon, wie auch viele arabisch/muslimische Communities in der ganzen Welt. Max Waldmeyer tut sich schwer mit einer Einordnung.

«Frii, frii, Päläschtein» wird in unseren Städten skandiert. So klingt es bisweilen, helvetisiert, wenn unsere Demonstranten Plätze bevölkern und durch Strassen ziehen. Auch Waldmeyers Tochter Lara (sie wechselte erst kürzlich ihr Studium von Kunst auf Ethnologie) verteidigt an diesem Freitagabend bei Waldmeyers zuhause die Palästinenser. Oder einfach die Bewegung. Oder die Demos. Und überhaupt. Lara ist nicht bildungsfern – aber sie verhält sich merkwürdigerweise so. Sie orientiert sich vor allem in Gesprächen mit ihrem direkten Umfeld oder anhand von Pushnachrichten auf ihrem Handy. Und generell aufgrund der Informationen aus den sozialen Medien. «Schau mal, wie die Israelis die Leute rausbomben, das ist Genozid!». Kein Wunder, entstehen so mehr als lebhafte Diskussionen am Familientisch. Charlotte unterbrach das Streitgespräch zwischen Max und Lara und versuchte, ihre Tochter zu verteidigen: «Sie meint es doch nur gut!»

Greta Thunberg, nun mehr als Klimaexpertin

Auch Greta Thunberg, ansonsten eine Klimaexpertin, aber immerhin demogestählt, setzt sich klar, aber unbeholfen für die Palästinenser ein.  Erstaunlich, wie grüne und linke Exponenten sich auch in einem komplett gesonderten Thema so klar artikulieren können. Oder nur instrumentalisieren lassen?

Waldmeyer erkennt: Die Deutungshoheit liegt bei den sozialen Medien. Muslimisch ausgerichtete Organisationen scheinen eben ein viel besseres Marketing zu betreiben als die Gegenseite. TikTok, Telegram etc. dominieren die Meinung eines Grossteils der Informationen, vor allem für die junge Generation.

Aber Hitler baute schöne Autobahnen

Waldmeyer reflektierte. Ja, es gibt immer zwei Seiten. Ein Statement und ein Aber. Hitler, beispielsweise, war ein abscheulicher Diktator, «aber» er hat auch schöne Autobahnen gebaut. Das «Aber» ist entscheidend bei solchen Aussagen. Trump ist ein Betrüger und ein ungehobelter Kerl, «aber»… Nicht, dass wir einen US-Präsidenten mit diesem Massenmörder aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichen möchten. Diese «Abers» relativieren einfach die Defizite einer Verfehlung. In der Tat hatte Trump da und dort seinen Finger ganz berechtigt auf wunde Punkte gelegt, Verschiedenes ausgemistet und ab und an mal den präsidentiellen Tarif durchgegeben. Die Frage drängt sich also auf, wann und ob die «Abers» überhaupt und wie geäussert werden dürfen. Nun gut, man muss wohl unterscheiden, wie weit Verfehlungen von Person gehen dürfen, um ein Aber auszudrücken. Was bei Trump sicher durchgehen wird, geht bei Hitler eben kaum durch.

Aber Gaddafi war auch ein lustiger Kerl

Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi war ein selbstsüchtiger, bizarrer und letztlich krimineller Diktator. Aber er war auch ein lustiger Kerl: ja, «aber». Wir erinnern uns vielleicht, als er anlässlich seines Staatsbesuches in Paris sein grosses Wüstenzelt aufstellen liess und dort Hof hielt. Die Frage sei also erlaubt, ob so ein Aber in direktem Zusammenhang mit Gaddafi erwähnt werden darf, allenfalls sogar im gleichen Satz? Oder erst in einem zweiten Satz? Oder muss man erst alle Übeltaten möglichst abschliessend aufzeigen, bevor ein Aber angezeigt ist?

Die Amerikaner kennen den Begriff des «Whataboutism» – ein verwandtes Prinzip des Aber-Prinzips. Waldmeyer möchte diese Gedankengänge nun noch etwas verfeinern.

Waldmeyer erfindet Aber-Regel

Waldmeyer beschloss, ab sofort folgende Regel einzuführen: Je übler eine Organisation oder ein Despot, Schlächter oder eine andere zweifelhafte Person ist, desto weniger oder desto später ist ein Aber angebracht. Was bei Greta noch durchgehen darf (da zwar eine nervende, aber keine «üble» Person), geht bei einer Hamas – betreffend Rechtfertigung der Schlächterei – überhaupt nicht durch. Je unappetitlicher sich eine Situation darstellt, desto länger muss deshalb mit einem Aber gewartet werden. Wenn es nicht um die Hamas an sich, sondern um den Israel-Kontext zur Hamas geht, müssten vorab schon ein paar verurteilende Sätze betreffend dieser Terroristenbande gesprochen werden, bevor ein Aber folgen darf. Dann im Sinne von «…, aber Israel ist auch nicht heilig» – oder ähnlich. Man könnte, der Einfachheit halber, auch die Zeitspanne festlegen, die vergehen darf, bis ein Aber sozialpolitisch erlaubt ist. In Sekunden. Oder in Minuten.

Fünf Sekunden für Alain Berset

Wenn wir von Alain Berset (beileibe kein Übeltäter) sprechen, müssten wir das etwas differenzierter angehen. Eine Aussage könnte lauten: Bundesrat Berset hatte das BAG nie im Griff, aber der Kerl sieht ganz gut aus. Diese Aussage geht schlank durch, da sie nicht ganz ernst gemeint ist. Die fünf Sekunden bis zum Aber sind in Ordnung. Oder: Bundesrat Berset hat in all den Jahren nie eine nachhaltige Reform durchgebracht, weder bei der AHV noch im Gesundheitswesen, aber er ist ein guter Kommunikator. Eine solche Aussage geht auch, denn sie ist schon ernster gemeint, deshalb muss sie auch besser austariert werden. Und deshalb, für diese zweite Aussage, neun Sekunden bis zum Aber.

Greta kriegt 30 Sekunden

Bei der Hamas ist das anders: Es gibt kaum eine Zeitspanne. Die Gewaltorgien sind durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Bei Idi Amin ebenso wenig, dem Schlächter von Uganda in den 70er Jahren: Die Kommunikationsdauer bis zum Aber müsste hier mindestens eine Stunde dauern, denn er hatte kaum je messbar Positives hervorgebracht. Bei Hitler müsste es auch eine unendlich lange Zeit vergehen, bis die Geschichte mit der Autobahn fallen darf. Oder dass er, wenn auch auf Pump, ein paar Arbeitsplätze geschaffen hatte – aber sonst nur Gewalt und Chaos in der ganzen Welt. Ja, mit einem zweiten Aber liesse sich selbst ein positiver Lichtblick wieder relativieren.

Saddam Hussein, Stalin, Kim Jong-un etc.: Letztlich sind es alles nicht nur problematische Sekunden-Fälle, sondern schon eher mehr als problematische Minuten-Fälle. Es müsste zum Teil wirklich sehr, sehr lange dauern, bis ein Aber erlaubt ist. Bei unserer autistischen Greta, um die es bis vor Kurzem angenehm ruhig geworden ist, müsste Waldmeyer nur faire 30 Sekunden veranschlagen. Denn sie meint es vielleicht gut (oder zumindest ihr Vater im Hintergrund, der sie vermutlich auf Schritt und Tritt steuert). Allerdings hat sie leider immer noch nichts in Sachen Verurteilung der abscheulichen Hamas-Taten gesagt. Sie hätte das Aber zumindest invers verwenden können, mit einem ganz kurzen Sekundeneinsatz: «Die israelischen Gazabomben sind … etc., aber die Palästinenser kämpfen um… etc. Oder ähnlich.

Bei Gaddafi würde Waldmeyer 45 Sekunden akzeptieren, wenn man über ihn urteilen würde. Beim Aber könnte angeführt werden, dass er diesen seltsamen Wüstenstaat immerhin ein bisschen zusammengehalten hatte.

«Aber» sind oft angebracht

Aber zurück zum Hamas-Aber: Wenn ein Aber betreffend die Hamas im Kontext zu den Israeli fallen sollte, müsste ein gebildeter und informierter Mensch doch auch 30 Sekunden verstreichen lassen. Das reicht für eine klare Verurteilung dieses arabischen Meuchelclubs, um anschliessend, mit einem vorsichtig erklärten Aber, zu bemerken, dass angesichts der Härte des israelischen Vorgehens eine Kritik angebracht sein könnte. Die israelische Siedlungspolitik und die standhafte Weigerung Netanjahus betreffend Zweitstaatlösung hatte über Jahre Öl ins Feuer gegossen. Zudem könnte diese Gaza-Ausräucherung doch ein bisschen humanitärer vonstattengehen. Also wäre so ein Aber berechtigt, wenn nicht gar angebracht. Aber bitte warten damit, die vorangehende Satzlänge, die Hamas betreffend, sollte genügend lang sein!

Mit dieser Aber-Prüfung kann Waldmeyer nun die Menschen nach ihrer Haltung einteilen: Er misst die Zeit (in Sekunden) von der Nennung «Hamas» bis zum «Aber». Seine Schwester Claudia beispielsweise (pensionierte Primarlehrerin, Kurzhaarfrisur, lustige bunte Brille, altes Nokia) brauchte nur fünf Sekunden von Hamas bis Israel. Das ist zu wenig. Max Waldmeyer erklärte ihr denn auch mithilfe seines Sekundenansatzes die Lage. Sie verstand es nicht, und die Diskussion wurde abgebrochen.

Lara demonstriert trotzdem

Waldmeyer war stolz auf seine Aber-Messung. Künftig könnte er diese nun in seinem ganzen Umfeld anwenden, um die Qualität der politischen Reflexionen zu messen: Wieviel Zeit, in Sekunden, verstreicht, bis jemand mit dem Aber rausrückt?

«Ich gehe jetzt in die Stadt», meldete Lara am Samstagmorgen. «Ich möchte da mitmachen, bei der Demo». Sie hielt eine Palästina-Fahne in der Hand. «Wir gehen da alle hin, weisch.»

Waldmeyer war entsetzt: «Weisst du, dass die Hamas und andere Extremisten genau darauf hinarbeiten, dass du jetzt auf die Strasse gehst? Liest du eigentlich die Zeitung?»

Lara schwenkte mit der anderen Hand ihr Handy (de facto also die Zeitung): «Täglich. Aber weisst du, was die Israeli den anderen antun?»

Waldmeyers Tochter verschluckte also den kompletten Satz vor dem Aber; die Aber-Zeit betrug folglich null Sekunden. Waldmeyer schlug die Hände über dem Kopf zusammen: «Womit habe ich das verdient?»

Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil II)

Die Konsensfindung ist ein fundamentaler Schweizer Wesenszug. Und der braucht Zeit. Während rundum schon alles einstürzt, kämpfen wir noch um den gemeinsamen Nenner. Das gilt auch für unser nationales Mikro-Management. Waldmeyer weiss schon heute, was auf seinem Grabstein stehen wird. 

Vor ein paar Tagen schon durfte Waldmeyer seine Reflexionen in Sachen internationales Langsamkonzept unseres Landes mit einer konzentrierten Leserschaft teilen. Heute kreisen seine Gedanken um die nationale Geschwindigkeit. Beziehungsweise um unseren tief verwurzelten Habitus, alles mit angezogener Handbremse anzugehen.

Der fundamentale Trick: erst mal nichts tun

Ja, alles muss fein säuberlich austariert werden in unserem Land. Solange diese einzelnen sozialen Arbeitsschritte nicht abgeschlossen sind, passiert nichts. Leider ist Mutti Merkel nicht mehr am Ruder in Deutschland. Denn unser Zeitlupen-System hätte man sehr gut auch mit dem Handlungskonzept der damaligen Kanzlerin vergleichen können: Erst mal nichts tun, dann nicht antworten, dann überlegen, und dann, der fundamentale Trick, einfach weiter nichts zu tun. Sehr oft muss das gar nicht falsch sein, impliziert Nichtstun doch keine Fehler. Aber leider verzögert es das Tempo, ein Land in eine positive Richtung zu entwickeln.

Simbabwe hat das Frauenstimmrecht seit 1919

Waldmeyer fand wunderbare Beispiele für unseren helvetischen Zeitlupen-Ansatz. Man muss nicht bis 1971 zurückgehen, als sich die Schweiz, nachdem sie sich über Jahrzehnte der internationalen Lächerlichkeit preisgegeben hatte, doch noch durchringen konnte, ein Stimm- und Wahlrecht für die Frauen einzuführen. Finnland hatte es seit 1906, Simbabwe seit 1919. Und dann, nur kurz darauf, eben 1971, die Schweiz. Aber die Schweiz steht nicht allein da, in Nordkorea, beispielsweise, wartet man bis heute auf ein Stimm- und Wahlrecht. Diese Zeitlumpe hier wurde allerdings weniger von der Regierung, denn vom Stimmbürger vorgegeben.

Die Gotthardröhre für die Fussgänger?

1981 lehnten wir es ab, uns mitten in Europa der Einführung der Sommerzeit anzuschliessen. Unter anderem, wir erinnern uns vielleicht, wegen der Kühe. Drei Jahre später führten wir sie trotzdem ein, nachdem sich eine Zeitinsel Schweiz – welch Überraschung – als äusserst unpraktisch erwiesen hatte.

Keinen grossen Blumentopf gewinnen wir in Sachen Bauvorhaben. Die neue Gotthardröhre wird 2029 fertig sein – nach Dezennien der Planung und des Baus. Eine grüne Bundesrätin wird dann vielleicht den Tunnel eröffnen. Vielleicht aber gar nicht für den motorisierten Verkehr, sondern nur für Fahrräder, im besten Fall für Lastenräder. Gleichzeitig wird die alte Röhre für Sanierungszwecke geschlossen werden, die Wiedereröffnung ist für 2032 geplant. Vielleicht nur für Fussgänger?

Die dritte Röhre für den Gubristtunnel brauchte ebenso lange. Nun ist sie offen. Allerdings nur als zweite Röhre, die alten werden ein bisschen renoviert. Bis 2027.

Hohe Geschwindigkeit bei der Errichtung von Baustellen

Aber auch ein neues Gymnasium braucht, so hat sich gezeigt, in der Schweiz vom Beschluss bis zur Fertigstellung 20 Jahre. Schneller geht es mit den Baustellen auf den Strassen: Die werden ziemlich flink erstellt. Allerdings passiert nachher nichts, in der Regel wird dort gar nicht gebaut. Baustellen, so meint Freddy Honegger, Waldmeyers Nachbar, sind ein raffiniertes Kampfmittel der Grünen, um unseren Verkehr lahmzulegen. Die Baustellen werden errichtet und möglichst nie mehr abgeräumt. Honegger, wie wir wissen, hängt gerne Verschwörungstheorien nach – aber hier mag er wohl recht haben.

25 Jahre für neue Kampfjets

Besonders schnell geht es bei der eidgenössischen Beschaffung für die Armee. Für neue Kampfjets müssen mindestens 25 Jahre eingeplant werden. Auch für eine neue Fliegerabwehr. Die Ukraine ist heute besser bestückt als die Eidgenossenschaft. Aber 2030 sollten wir wieder ordentlich ausgerüstet sein. In der Zwischenzeit können wir einfach die Bedrohungslagen runterstufen, dann passiert nichts.

Waldmeyer legt sich einen Kerzenvorrat zu

Ein horrendes Tempo wird auch bei der Sicherstellung der Elektrizitätsenergie an den Tag gelegt. Wir wissen, dass in der Zukunft der Strom nicht reichen wird. Schon heute müssen wir während der Winterzeit 40% importieren. Die Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungsanlagen mittels Wärmepumpen wird den Bedarf an Strom nochmals stark ansteigen lassen. Wir bauen zwar die Sonnenenergie aus, können diese aber kaum speichern. Für die Nacht eventuell ein bisschen, aber nicht für den Winter. Speicherseen sind nicht gross in Planung, neue Kraftwerke auch kaum. Ein neues Wasserkraftwerk bräuchte ab Bauentscheid bis zur Funktion 20 Jahre. Der Wind wird es auch nicht richten, zu gross sind überall die Einsprachen für Windkraftwerke. Und irgendwann wird bei den Atomkraftwerken der Stecker gezogen.

Waldmeyer wird sich jetzt einen Kerzenvorrat zulegen. Tatsächlich ist keine Lösung in Sicht. Wir verhalten uns wie das Kaninchen vor der Schlange: sozusagen in Schockstarre – und tun vorerst einfach nichts. Dabei hätten wir es in der Hand, beispielsweise mit riesigen Speicherkraftwerken in den Alpen die ganze Schweiz, und zwar ganzjährig, zu versorgen. Wir könnten dann auch noch etwas Strom nach Deutschland schicken, ganz teuer natürlich.

Das helvetische System eignet sich nicht für Krisen

Ein seltsames Thema ist auch das mit den Flüchtlingen. Der Bundesrat spricht erst mal Solidarität aus. Ja, wir werden helfen. Dann aber tut der Bund nichts. Es ist ja Sache der Kantone. Er schafft es nicht einmal, eine ordentliche Registrierung für Flüchtlinge sicherzustellen – die Software sei nicht vorhanden. Die Kantone warten auch erst mal ab. Die Flüchtlinge werden allerdings so oder so kommen, das lässt sich schwer verhindern. Und trotzdem: erst mal nichts tun, dann warten, dann schauen. Die Armee beispielsweise könnte spielend sinnvoll eingesetzt werden. Sie ist ausgerüstet, könnte Camps errichten, kluge Übungen veranstalten. Das Material könnte so wunderbar getestet werden, die Abläufe, Verhaltensmuster ebenso. Die WK-Soldaten würden mit Begeisterung nach Hause kommen.

Unser helvetisches System eignet sich ganz einfach nicht für Krisen, ist Waldmeyer überzeugt. Nichtstun, wie wir wissen, ist mitunter etwas vom Besten, das Politiker tun können, damit sie keine Fehler begehen. Aber das gilt – bei Gott – nicht für Krisen. Wenn‘s brennt, ist dieses Verhalten eben brandgefährlich. Das helvetische Schönwetterkonzept hatte Krisen offenbar nicht vorgesehen. Das ist nun alles ein bisschen neu für die Schweiz. Ja, Taskforces wären angesagt, mit schwungvollen Leadern.

Also doch das «Mañana-Konzept»?

Ob es um die nicht gesicherte Altersvorsorge geht, um explodierende Gesundheitskosten: Das Muster wiederholt sich. Ukrainerinnen beispielsweise zeigten sich schockiert, als sie das rückständige, analoge und teure helvetische Gesundheitssystem ohne elektronisches Patientendossier entdeckten.

Natürlich hat unsere gemächliche Art auch Vorteile. Neu kommen zum Beispiel vermehrt chinesische Individualreisende in die Schweiz. Unter anderem nicht nur wegen der schönen Bergwelt und den Uhren, sondern auch wegen des « langsamen Lebensrhythmus ». Diese Wahrnehmung dürfen wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Also doch das Konzept des „Mañana“?

Die Eidgenossen sind mit höherem Tempo einfach überfordert. Leider hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung und der „Real-Time-Abbildung“ des Weltgeschehens, alles ein bisschen beschleunigt, rundherum. In der Folge sind wir nun überfordert, ziehen uns ins Schneckenhaus zurück und bemühen Basisdemokratie, Neutralität und andere Ausreden als Vorwand, um nicht entscheiden zu müssen. Oder nicht Stellung beziehen zu müssen.

Überschallgeschwindigkeit nur als Panikreaktion

Erstaunlicherweise gibt es doch ein paar Ausreisser in diesem helvetischen Zeitlupenkonzept: Tempo-30-Zonen beispielsweise werden quasi über Nacht eingeführt, ebenso Spurverengungen. Entscheide, dass Masken nichts nützen, können mitunter binnen Stunden gefällt werden, oder die CS wird übers Wochenende, de facto mittels Enteignung der Aktionäre, an die UBS verscherbelt. Diese Überschallhandlungen sind ungewöhnlich, aber sie beruhen auch nur auf zwei Pfeilern: einerseits auf fundamentalistischem Aktivismus von Überzeugungstätern auf Behördenstufe, wenn der Souverän nicht gefragt werden muss (so in der Regel in der Verkehrspolitik). Andererseits auf Übersprunghandlungen, die aus schierer Panik resultieren – und die dann auch wider besseres Wissen erfolgen (so im Falle des CS-Debakels).

Ja, Krisen sind einfach nicht unser Ding. Unser System ist bestenfalls auf Langlebigkeit ausgerichtet, im Prinzip aber auf Gemächlichkeit. Waldmeyer ist kein Verfechter dieser helvetischen Zeitlupe. Er entscheidet gerne. So hat er gerade heute festgelegt, was er auf seinem Grabstein einmeisseln lassen wird: „Max Waldmeyer, gestorben an und mit Warten.“

Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil I)

Waren es doch die Eidgenossen – und nicht die Spanier – die das «Mañana» erfunden hatten? Warum nur herrscht in unserer Staatsführung und auf Behördenstufe ein dermassen langsames Tempo? Waldmeyer ist verzweifelt. 

Passiert irgendetwas auf der Welt, das entschiedenes Handeln erfordert, braucht die Schweiz erst mal viel Zeit. Wenn Nachbarländer bereits Massnahmen ergriffen oder entschieden haben, wird hierzulande sofort und mit Inbrunst reagiert: Aber nur, indem erst mal Reflexion und Diskussion gefordert wird. Und in der Hoffnung, von den äusseren Einflüssen eh verschont zu bleiben, wird eingangs nichts getan. Dieses Konzept funktionierte über viele Jahre. Leider ist nun weltweit ein anderes Tempo angesagt. 

Insbesondere auf der internationalen Ebene wird die Schweiz eingeholt. Wenn es beispielsweise darum geht, eine funktionierende Taskforce für die Verfolgung russischer Korruptionsgelder zu bilden, verweisen wir in erster Linie mal auf die Zuständigkeit der Kantone. Der bei uns verantwortliche ehemalige Winzer Guy Parmelin braucht eben ein bisschen Zeit, um die Brisanz der Lage zu erkennen. Wenn es darum geht, der Taskforce der G7 beizutreten, wird erst einmal gebockt. Inhaltlich gibt es keinen Grund, hier nicht mitzumachen. Im Gegenteil, es würde unserem Ansehen dienen. Aber dieses von Rechtsaussen überzeichnete Bild der „fremden Richter“ verfängt immer wieder und dominiert unsere Entscheide. Oder eben Nicht-Entscheide. Also erst mal abwarten. Wir werden dann so oder so nachgeben müssen, einfach etwas später. 

Das war auch so mit den Sanktionen gegen Russland: Erst mal, mit dem Vorwand der „Neutralität“, nichts tun. Unser netter Onkologe aus dem Tessin, zurzeit Aussenminister der Eidgenossenschaft, meinte, er könnte sich mit Abwarten durchschummeln. Ökonomische Interessen sprachen ja für eine solche Strategie. Dann aber, nur zwei Tage später, schwoll der Druck aus dem Ausland an, und wir mussten nachgeben. Hatte man plötzlich gemerkt, dass wir zum Westen gehören? Nun, es war weniger diese Reflexion als die Erkenntnis, dass ein Abseitsstehen uns diplomatische „Grande Merde“ eingebracht hätte.

Und wie ist es denn mit den Waffenlieferungen? Ein ganz unangenehmes Thema. Also besser mal Aussitzen und schauen, wer wieviel Druck, national und international, ausübt. Waldmeyer hat zumindest erkannt: Waffen und Munition dürfen in der Schweiz zwar produziert, vor allem auch verkauft werden, indessen sollten diese Erzeugnisse möglichst nicht genutzt werden. Also Umsatz ja, aber keine Verwendung und keine Weitergabe an einen Drittstaat – auch dann nicht, wenn dieser überfallen worden ist und die ganze westliche Welt einhelliger Meinung betreffend seinem Verteidigungsrecht ist. Diese Haltung, so meint Waldmeyer, ist ein gefährlicher Cocktail aus pazifistischer Denke und falsch verstandener oder populistischer Interpretation von „Neutralität“. Inzwischen haben wir uns nach Monaten durchgerungen, ein paar brachliegende kaputte Panzer, die zu unserem grossen Erstaunen noch gar nie in der Schweiz waren, an Deutschland weiterzugeben. Nach langem internem Gezänke – aber selbstredend erst unter Druck von aussen. 

Immerhin wollten wir schon 2022 ein bisschen Medikamente an die Ukraine liefern. Swissmedic stellte eine „Prüfung der Ausfuhr“ in Aussicht, es brauche indessen 6 bis 18 Monate. Diese Behörde sollte sich schämen. Wer diese Antwort wohl gegeben hat? Ein subalterner Sachbearbeiter? Oder die Spitze? Tatsache ist: Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf. Zuständig für dieses Debakel ist unser Krankheitsdepartement, geleitet von Chef-Lavierer Alain Berset.

Waldmeyer kennt unzählige Beispiele, die unser Langsamkonzept belegen. Hier ein weiteres: Der ganze Westen, Europa und die USA haben die Hamas richtigerweise als Terrororganisation eingestuft. Die Schweizer Haltung, sich hier „neutral“ zu verhalten, ist nun über Nacht zu einem schlechten Witz verkommen. Die Meinung, das „neutrale“ Abseitsstehen der Schweiz diene dem Image unseres Landes, ist eine doch sehr merkwürdige Vorstellung. Noch merkwürdiger ist, dass der Bundesrat immer noch daran glaubt, die Schweiz so als eloquente Vermittlerin zwischen Israel und der Hamas zu positionieren. Diese Selbstüberschätzung, immer noch angeführt von unserem netten Onkologen, ist bemerkenswert. 

Einen meuchlerischen Aggressor auf die gleiche Stufe zu stellen wie einen Angreifer, ist gerade nicht neutral. Die Kunst besteht aber offenbar darin, möglichst nie Stellung zu beziehen. Aber langsam zeichnet es sich ab: Die Schweiz schadet sich damit.

Doch wenn die Schweiz unter Druck ist, handelt sie. In der Regel mit einem Ablenkungsmanöver. Die Antwort also, ob wir die Hamas nun doch als Terrororganisation einstufen sollten (oder doch besser als NGO?) wird deshalb zurzeit „geprüft“. Der Term „Prüfen“ ist sehr beliebt in unserem Land. Damit signalisieren wir, dass wir das Problem erkannt haben und daran arbeiten. So gewinnt man wunderbar Zeit und muss trotzdem nicht entscheiden. Steigt der Druck, wird – mit vorgetäuschtem Führungsanspruch – sofort eine Kommission ins Leben gerufen. Kommissionen brauchen Zeit, deren Output liegt dann bestenfalls vor, wenn sich das Problem bereits von selbst erledigt hat. Andernfalls gibt man die heisse Kartoffel ans Parlament weiter. Ja, raffiniert, dieses Verzögerungskonzept. Aber letztlich weder der Sache, noch unserem Image dienlich. 

Inzwischen hat allerdings unser neuer Bundesrat, Albert Rösti, reagiert. Die ganze internationale Gemeinschaft hatte auf sein Statement gewartet. Und es kam – halleluja. Albert Rösti verurteilte die Gewalt in diesem Konflikt. Ja, er war klar dagegen! Ein Raunen ging durch die internationale Medienwelt. Breaking News: Switzerland against violence! Was darauf folgte in der Schweiz, betreffend Reaktionen oder Handlungen, löste ebenso ein diplomatisches Erdbeben aus: Es geschah nämlich nichts. Die ganze Welt wird jetzt auf die Schweiz schauen. Wow. Der Bundesrat bekennt Farbe!

In unserem Parlament gibt es einige offene Hamas-Unterstützer. Da scheinen sich ein paar irrlichternde Politiker in einer obskuren Parallelwelt zu bewegen. Zu ihrer Entschuldigung möchte Waldmeyer allerdings anführen, dass sie in der Regel eh schon alle am Trog des Staates hängen und die Welt draussen – auch die reale Arbeitswelt – oft noch nie gesehen haben. Sie wollen sie auch nicht sehen, denn das würde ihr surreales Weltbild beschädigen. Ihre Einbringungen lähmen indessen unsere Entscheidungen im Staat. Sie verlangsamen sie eben, sie befeuern quasi unser Zeitlupenkonzept. Sie tragen dazu bei, dass wir nicht entschlossen handeln können.

Seit 1985 wird mit der EU über einen gescheiten Vertrag verhandelt, der festlegen sollte, wie wir uns unter Nachbarn organisieren könnten. 1991 wurde der EWR-Vertrag unterschrieben, anschliessend aber gleich wieder versenkt. Die Nachteile eines quasi vertragslosen Zustandes werden nun langsam lästig, Abkommen in Sachen Forschung, Bildung oder Energie fehlen. Natürlich werden wir deshalb irgendwann einlenken – der Grad der Nachteile ist im Moment allerdings noch zu wenig ausgeprägt. Also wird bis auf weiteres alles verschoben.

Waldmeyer fand gleich noch ein weiteres Beispiel für robustes und entschlossenes eidgenössisches Handeln: Seit Monaten ist bekannt, dass es in der Schweiz nachweislich 80 russische Spione gibt. Ein guter Teil der in Europa akkreditierten Diplomaten, die nachweislich klandestin für Putins Reich arbeiten, schätzen den Standort Schweiz. Da wird man in Ruhe gelassen. Und was tut unsere Regierung? Nichts. Natürlich befürchtet sie Gegenmassnahmen, vielleicht sogar wirtschaftlicher Natur – das wäre das Schlimmste.

Sanktionen gegen China? Nein, das soll die EU machen. Das ist soweit in Ordnung, wir sind ja ein souveräner Staat. Aber: Bringt uns das wirklich weiter? Geht es etwa um das zweifelhafte Freihandelsabkommen, das wir mit China abschliessen konnten? Dieses stellte so etwas wie einen Nebenarm der Belt and Road Initiative unseres grossen gelben Mannes dar, Meister Xi Jinping. 

Waldmeyer fragt sich also: Ist unsere Demokratie ein Auslaufmodell? Nein, die Führung ist einfach schwach. Die Verhandlungsführungen, auch die Führung der Departemente, die kommunikative Führung des Landes ebenso. Waldmeyer gibt dem Bundesrat die Note 3.5. Also ungenügend.

Da sind die grünen und linken Politiker schon schneller. Im Sinne eines Mikromanagements wird die Welt gerettet. Sie beschränken sich oft auf die Schweiz, glücklicherweise. (Waldmeyer wird sich in einer späteren Reflexion betreffend die Zeitlupe in Sachen nationaler Entscheidungen äussern.)            

Die Welt draussen könnte untergehen, und wir hätten immer noch den Glauben daran, dass es uns nicht betreffen würde. Wie meinte doch Waldmeyers Korporal in der Rekrutenschule: „Numme nid gsprängt!“ 

Es ist historisch verbrieft, dass es die Spanier waren, welche das Mañana erfunden hatten. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht hatten die Spanier dieses praktische Langsamkonzept einfach bei den Eidgenossen abgekupfert? 

Waldmeyer übernimmt Land auf dem Mars

Die Wohnungsnot in der Schweiz ist mit Händen zu greifen. Die Politik verspricht dauernd Abhilfe, aber es geschieht nichts. Und die Nachfrage wird laufend grösser: Der persönliche Bedarf an Wohnfläche steigt und die Bevölkerung wächst. Waldmeyer entwickelt innovative Ideen. 

Politiker linker und grüner Couleur versuchen Abhilfe gegen die Wohnungsnot zu leisten, indem sie noch mehr Vorschriften oder Eingriffe in den Markt propagieren. Damit geht der Schuss in der Regel gegen hinten los. Oder sie schlagen vermehrt sozialen Wohnungsbau vor, der dann allerdings gar nie gebaut wird. Bürgerliche Politiker andererseits scheinen das Problem einfach zu meiden. Oder Rechtsaussen-Vertreter poltern gegen eine 10-Millionen-Schweiz und meinen, in naiv-populistischer Manier, mittels einem Einwanderungsstopp das Problem lösen zu können. 

Angesichts dieser Wohnungsmalaise erscheinen die Metaverse-Ideen da geradezu erfrischend. Ja, warum denn über zu wenig Wohnraum lamentieren, wenn es diesen à discrétion in der virtuellen Welt gibt!

Tatsächlich boomt der Markt mit virtuellen Immobilien. Diese Metaversen haben Namen wie „The Sandbox“ „Second Live“ oder „Decentraland“. Private und Firmen haben schon Milliarden in Boden und Immobilien investiert. Viele dieser Projekt kann man mit gut aufgemachten Renderings „besuchen“. Es werden ganze Lifestyle-Modelle entwickelt, mit Freizeitmöglichkeiten, Shoppingcentern und Einkaufsstrassen. Louis Vuitton soll sich kürzlich in einem Laden in „Axie Infinity“ eingemietet haben, und Adidas hat sogar eine aktive Partnerschaft mit The Sandbox bekanntgegeben.

Schön an den virtuellen Immobilien ist, dass man diese nicht real liefern muss. Die Nagelprobe erfolgt somit gar nie, es bleibt eben immer bei der Kunstimmobilie. Für den Immobilienentwickler ganz angenehm – Mängelrügen zum Beispiel sind damit zum Vornherein ausgeschlossen. Und noch ein Vorteil von virtuellem Land: Eine CS-Aktie kann den Wert verlieren oder eine sozialistische Landreform kann eine individuelle Investition pulverisieren; ein Metaverse indessen bleibt – weil es gar nichts Reelles zum Vernichten gibt.

Waldmeyer hatte sich schon über Elon Musk mokiert: Der geniale, aber etwas irre Unternehmer möchte ja unbedingt den Mars bevölkern. Das Vorhaben wird natürlich noch eine Weile dauern – deshalb besteht auch hier kaum je das Risiko der Nagelprobe. 

Interessant fände Waldmeyer nun, bereits jetzt schon Land zu sichern auf dem Mars. Es müsste ja nur ein kleiner, virtueller Abschnitt sein. Dieser lässt sich dann in einer Metawelt – da ja nie geliefert werden muss – elegant entwickeln. Wie wir gesehen haben, ist die Qualität dieser virtuellen Immobilien entscheidend, sie bestimmt den Preis. Die Gestaltung der Landschaft, die Verkehrsverbindungen, das ganze Umfeld, die Nachbarn und vieles mehr definieren den Wert dieses virtuellen Besitzes. Es lag also auf der Hand, etwas auf dem Meta-Mars abzubilden, dass bereits zu Beginn an Perfektion grenzt. 

Heureka! Waldmeyer hatte die Lösung: Man könnte doch einfach die Schweiz abbilden! Alle interessanten Landstriche und alle Gemeinden fänden genügend Raum auf dem kleinen Planeten. Nicht alle Staaten hätten natürlich Platz, aber Gebiete wie Russland, China oder grosse Teile Afrikas könnte man so oder so vergessen. Auch Nordkorea, den Iran oder den Gazastreifen, und die Ukraine müsste mit dem Hinweis „under development“ versehen werden, vielleicht auch die Innerschweiz. Der grosse Unterschied zu anderen Metaversen wäre nun, dass der Mars tatsächlich existiert. Er gehört niemandem, also kann man sich etwas davon nehmen. Das war bei den Siedlern im Wilden Westen auch so. Und auf dem Mars müsste man nicht einmal erst Indianer vertreiben, das Land wäre einfach hier, leer. 

Natürlich, in vielen Jahren, vielleicht, würden andere auch Anteile am Mars reklamieren. Aber man sollte sich nicht darüber aufhalten, was viel später ist. Das machen die Politiker auch nicht. Staaten verschulden sich heute bis über beide Ohren; man verschiebt das brisante Thema einfach auf den Sankt Nimmerleinstag. Das macht die deutsche Regierung auch, sie beschliesst zudem ohnehin immer, nicht zu beschliessen – oder sie beschliesst und liefert nachher nicht. Der grosse Digitalisierungsschub beispielsweise wurde schon vor über zehn Jahren beschlossen, passiert ist noch nichts. Ja, wie wir mit der Bauerei in der Schweiz.

Doch zurück zum Mars. Das Risiko, je einmal reell liefern zu müssen, beurteilte Waldmeyer als vernachlässigbar. Charlotte meinte nur, eher spöttisch: „Dann gründe doch gleich Meisterschwanden auf dem Mars, wenn du schon daran glaubst!“ Nun erlebte Waldmeyer indessen sein zweites Heureka: Ja, warum denn mit der viel zu grossen Kelle anrühren, Meisterschwanden wäre perfekt. Natürlich bräuchte es noch ein paar Finetunings, für diesen Klon auf dem Mars. Waldmeyer würde beispielsweise die lästige Verkehrsberuhigung auf gewissen Strassen rückgängig machen. Und den Steuerfuss senken. Und die Ladenöffnungszeiten verlängern, auch etwas gegen die Überschussgeburten gewisser Neuzuzüger machen, usw. 

Am Samstagnachmittag grüsste Waldmeyer beim Rausgehen wie immer seinen Nachbarn Freddy Honegger. Er war am Rasenmähen, wie üblicherweise samstags. Freddy ist insofern eine interessante Causa, als er gerne Verschwörungstheorien nachhängt. Früher war er mal bei den Zeugen Jehovas (weshalb er auch nie in den WK musste). Covid-19 wurde von Bill Gates und dem alten Soros orchestriert, usw. Honegger sitzt gerne immer falschen Informationen auf. Er glaubt auch, dass der Elektro-Golf seiner Bettina sauber ist (obwohl u.a. mit Kohlestrom aus Deutschland betrieben, via unsere Steckdose). Ja, Freddy würde sich sicher für Waldmeyers Marsprojekt interessieren!

„Freddy, ich habe Meisterschwanden übernommen. Metamars, weisst du.“

„Scheisse, das hätte ich auch gerne gekauft“, erwiderte Honegger wie aus der Pistole geschossen. 

„Sorry, tut mir leid“, meinte Waldmeyer, supponierte sofort einen Telefonanruf und liess Honegger stehen. „No, no, I don‘t sell Meisterschwanden. No, really not.“ Honegger stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. Er hatte schon vorher seinen mit Kohlestrom betriebenen sauberen Elektrorasenmäher abgestellt. Hatte er Meta-Meisterschwanden etwa verpasst?

„Tut mir leid, Freddy, ich wusste nicht, dass du auch interessiert gewesen wärst. Ich kann dir aber vielleicht einen Teil im Norden abtreten, aber ohne Seeanstoss. Für den Süden, dort bei der Seerose, du weisst schon, habe ich bereits einen Interessenten. Du, ich muss jetzt weg!“ Waldmeyer entfernte sich hektisch und erinnerte sich an den Kurs „Tactics in Corporate Sales“, den er vor 20 Jahren mal belegt hatte. Ja, so läuft Verkauf.

Am Sonntagmorgen wurden Waldmeyer und Honegger handelseinig. Honnegger kaufte 1/3 von Meisterschwanden, sogar inklusive dem alten Arbeiterstrandbad Tennwil im Norden. Der Preis war stolz, wenn auch einiges unter den derzeit bezahlten in der (reellen) Gemeinde. Waldmeyer versprach, binnen einer Woche ein professionelles Zertifikat zu liefern, und er lud Honegger gleich ein, für ein paar exekutive Funktionen dem Gemeinderat beizutreten (Waldmeyer dachte dabei an die geplante Gratisverteilung von Verhütungsmitteln an Immigranten).

„Siehst du, Charlotte, der Markt funktioniert!“, meinte Waldmeyer triumphierend. „Du darfst einfach nicht der Letzte sein.“

Was weder Honegger noch Charlotte wussten: Nächsten Monat wird Waldmeyer sein Immobilienprojekt „New Meisterschwanden“ im Metamars präsentieren. Hansueli Loosli wird dort vielleicht einen virtuellen Coop betreiben. Und Honegger wird mit Sicherheit eine Wohnung übernehmen. Waldmeyer wird dann, virtuell, mit seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) durch Meisterschwanden cruisen und sich an der Prosperität seiner Gemeinde erfreuen. Nur intelligente, schöne und freundliche Leute würden ihm zuwinken.

Waldmeyer reduziert seine Sterbewahrscheinlichkeit

Waldmeyer lag auf dem Sofa und weigerte sich standhaft, den Tisch abzuräumen. Charlotte wirbelte in der Küche. Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich? Wie gestaltete sich seine subjektive Gefährdung? Wie könnte er seine persönlichen Todesfallrisiken runterbringen? 

Unfälle durch Haushaltarbeit könnte Waldmeyer schon einmal ausklammern. Aber die Sache ist komplizierter. Waldmeyer hatte sich das anspruchsvolle Ziel gesetzt, erstens auf natürliche Weise alt zu werden und zweitens nicht schon vorher willkürlich zu sterben. Es galt nun, die beiden Ziele zusammenzuführen.

Dabei hilft natürlich der Staat: Mit allerlei Gesetzen, Vorschriften und Kampagnen verhindert er das vorzeitige Ableben des Bürgers. Und mit der richtigen Gesundheitsversorgung sorgt er auch für Lebensverlängerungen. Nur setzt der Staat an komischen Hebeln an, nämlich nicht dort, wo viel gestorben wird. Waldmeyer wollte deshalb die Sache selbst in die Hand nehmen und so dazu beitragen, ein verfrühtes Ableben zu verhindern. Also nahm er eine Auslegeordnung vor.

Als erstes wollte er Todesursachen ausschliessen, die für ihn nicht passen. Also fast nicht in Frage kommen. Zum Beispiel als russisches Kanonenfutter irgendwo im Ukrainekrieg zu sterben. Oder an einer Fentanyl-Überdosis im Drogenelend in San Francisco zu verenden. Überhaupt, die Amerikaner leben gefährlich, sie sterben viel öfter als wir an Autounfällen, an Fettleibigkeit oder an Schussverletzungen. Deren Lebenserwartung sinkt seit Jahren deutlich, insbesondere bei der schwarzen Bevölkerung – bald auf das Niveau eines Entwicklungslandes.

Insbesondere die Fettleibigkeit scheint ein grosses Todesfallrisiko in sich zu bergen. Mexiko hat diesbezüglich die USA überholt, Diabetes ist zur Todesursache Nummer 1 geworden. Kein Wunder, ein Mensch mit zum Beispiel 597 Kilogramm ist natürlich etwas gefährdet. In Europa leben wir da schön gesünder. Ausser die Deutschen, deren BMI ist der höchste in Europa. Deren Lebenserwartung verhält sich deshalb auch reziprok zu ihrem Gewicht.

Aber zurück in die USA, denn in Sachen Todesfälle sind sie eine besonders interessante Causa. Die meisten plötzlichen Todesfälle ereignen sich durch Waffengewalt. Fairerweise müssen wir den Amerikanern aber zugestehen, dass dies nur die natürliche Folge eines demokratischen Prozesses ist. Dieser sieht ja vor, dass Schusswaffen sogar im Supermarkt einfach erstanden werden können. Männer in den USA werden nur 73 Jahre alt. In Mississippi stirbt man im Schnitt etwa Mitte Sechzig, also rechtzeitig beim Eintritt ins Rentenalter.

In Asien stirbt man da schon an anderen Sachen. Rund 16’000 Menschen sind letztes Jahr bei Bahnunfällen gestorben, die meisten fallen dabei von den Zugdächern.

Sicherer sind da schon die Kreuzfahrtschiffe. Aber trotzdem fallen weltweit jährlich über 20 Menschen über Bord. Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt dabei bei nur 20%, denn meistens wird das Malheur nicht sofort entdeckt.

Mittels eines weiteren Ausschlussverfahrens überlegte sich Waldmeyer, woran er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht sterben würde. Er dachte dabei an einen Meteoriteneinschlag oder an ein abruptes Ausbrechen des Vesuvs, wenn er, auch nur beispielsweise, im nächsten Herbst in Neapel gerade einen Teller Spaghetti alle vongole geniessen würde. 

Überhaupt, das mit dem Essen: Waldmeyers Gedanken kreisten für einmal nicht um den BMI, sondern um die faszinierende Betrachtung der «letalen Dosis». Gift ist nämlich nur ein relatives Problem. Man kann an einer Pilzvergiftung sterben, aber auch an Brot. Die Menge ist auschlaggebend! Wenn man 100 kg Brot auf einmal verzehrt, ist eben auch Brot giftig, die letale Dosis ist dann überschritten. Beim Freitod muss man also genau auf die Art des Giftes achten, noch mehr aber auf die einzunehmende Menge. An Suizid stirbt man in der Schweiz übrigens relativ oft, rund 2’500-mal jährlich. In Grönland liegt die Selbstmordrate jedoch deutlich höher. Aber beide Daten sind unerheblich, denn Waldmeyer sieht sich nicht in der Zielgruppe.

Auch bei einem Motorradunfall ums Leben zu kommen, würde bei Waldmeyer an Wahrscheinlichkeit Null grenzen. Er hatte die Idee mit der Harley Davidson nämlich bereits im Frühling 2006 aufgegeben, nachdem er die Unfallwahrscheinlichkeit mit Todesfolge genauer studiert hatte (über 20-mal höher als beim Autofahren).

Fliegen ist, rein statistisch, wohl am sichersten. Aber auch Autofahren stellt heute überhaupt kein Risiko mehr dar. Die Anzahl der Verkehrstoten im Strassenverkehr sinkt seit Jahren. Anfangs der Siebziger Jahr betrug sie noch über 1’700 pro Jahr, heute sind es nur mehr rund 200 – und dies beim dreifachen Verkehrsaufkommen. Der Strassenverkehr ist damit rund 25-mal sicherer geworden. Erstaunlich, dass der Staat dermassen viel Energie aufwendet, den Verkehr zu überwachen, ihn einzuschränken, Bussen zu verteilen und die Fahrzeugsicherheit zu überprüfen. Daneben sterben jährlich 200 Personen an plötzlichen Sportunfällen, 3’500 an Blutvergiftungen, 2’000 an Haushaltunfällen (also zehnmal mehr als im Strassenverkehr!), weit über 100’000 an frühzeitigen Herzkreislaufproblemen, an Hirnschlägen oder an Krebs. Selbst an Grippe stirbt man deutlich öfter als an Verkehrsunfällen. Am Rauchen stirbt man offenbar in rund 10’000 Fällen, ausserdem lebt man als Raucher sieben Jahre weniger. Aus staatlicher Sicht ist das allerdings vorteilhaft, denn mit den Tabaksteuern nimmt der Staat ein Vermögen ein, und die reduzierte Lebenserwartung der Raucher spart bei der AHV.

An übermässigem Alkoholgenuss starben letztes Jahr 3’500 Personen – also wie an Blutvergiftung. Der Staat tut viel gegen den Alkoholkonsum (nimmt allerdings auch kräftig Steuern damit ein). Aber was tut er gegen Blutvergiftungen…?

Die meisten staatlichen Massnahmen und Millionen-Investitionen konzentrieren sich tatsächlich auf den Schutz des Bürgers vor Verkehrsunfällen – die es fast nicht mehr gibt. Allerdings häufen sich in letzter Zeit die Unfälle mit Elektrobikes und Lastenrädern. Letztere Todesursache (also Sterben an oder mit Lastenrad), würde Waldmeyer für sich ausschliessen. Ausser er würde als einfacher Fussgänger von einem Lastenrad mitten in der Stadt Zürich überrollt.

Waldmeyer entschied, seine Auslegeordnung hier nun abzubrechen. Er zog ein erstes Fazit: Sport ist gefährlicher als Autofahren. Ein Sofortentscheid könnte also sein, nicht übermässig Sport zu treiben. Ausserdem sollte man verhindern, ein übergewichtiger Deutscher, Mexikaner oder Amerikaner zu sein. Vor allem kein schwarzer Amerikaner. Die schlimmste Korrelation würde sich vermutlich dadurch ergeben, dass er als schwarzer Ami zudem homeless in San Francisco leben würde und Fentanyl-süchtig wäre. Die Einschränkung, nie in eine solche Situation zu geraten, fiel Waldmeyer relativ leicht. Er beschloss zudem, nicht mit dem Rauchen zu beginnen. Auch dieser Entscheid kostete ihn nichts.

Schon grössere Sorgen bereitete ihm eine mögliche Krebs- oder Kreislauferkrankung. Es ging einerseits um die Wahrscheinlichkeit, eine solche Krankheit überhaupt zu kriegen, andererseits um die Sterbewahrscheinlichkeit in einem solchen Fall. In der Schweiz sterben jährlich immerhin fast 40‘000 an Krebs – aber die meisten einfach im hohen Alter, was quasi einer natürlichen Todesursache gleichkommt. An Herzversagen sterben rund 8‘000 p.a. 

Interessant fand Waldmeyer, dass nur rund 400 p.a. an Leberzirrhose sterben. 

Sein Alkoholkonsum mochte in der Tat, aber nur subjektiv von aussen betrachtet, etwas überdurchschnittlich sein. Aber erstens hatte er gar keine Leberzirrhose eingeplant und zweitens, so reflektierte Waldmeyer, könnte man z.B. an Terre Brune unmöglich sterben. Auch hier geht es eben um die letale Dosis! Ausserdem hielt er sich an diese geniale Studie von französischen Ärzten, welche eine Dosis von zwei Glas Rotwein pro Tag als medizinisch wertvoll erachteten.

Waldmeyer räkelte sich weiter auf dem Sofa und fand nun zu einer Schlussfolgerung: Für ihn gab es überhaupt kein ausserordentliches Todesrisiko, vielleicht würde er einfach 100 werden und dann an Alter sterben!? 

Waldmeyer nahm sich trotzdem vor, nun etwas gesünder und vorsichtiger zu leben. Folgerichtig wollte er nur noch relativ sichere Tätigkeiten verrichten. Das mit dem Haushaltunfall hatte er zumindest schon mal ausgeschlossen.

«Charlotte, wir sollten ab sofort etwas faktenbasierter und vernünftiger leben – und so die grossen Risiken vermeiden. Wir sollten also mehr fliegen, mehr Autofahren und mehr trinken. Dafür wird das Bahnfahren in Indien ab sofort gestrichen, wir nehmen kein Fentanyl, werden nicht schwarz, hantieren weniger mit Schusswaffen, du wirst nicht fett, und das mit Neapel im Herbst sollten wir überdenken.»

Charlotte, wie so oft, antwortete nicht.

Waldmeyer verbessert seine persönliche Ökobilanz

Angesichts der vielen hehren politischen Ziele, Klima und Umwelt weniger zu belasten, nahm sich auch Waldmeyer vor, diesbezüglich ein paar wichtige persönliche Entscheide zu fällen. Dabei berücksichtigte er, dass die helvetischen Umweltziele sich vor allem auf das eigene Land beziehen.

Auch Waldmeyer spürt die Klimaerwärmung: In Meisterschwanden war es diesen Sommer wirklich schön warm. Der Klimawandel, das ist offensichtlich, ist heute Tatsache. Man mag sich da und dort noch über die Ursachen streiten. Sicher ist jedoch, dass der weltweite CO2-Ausstoss nicht förderlich ist. 

So oder so: Energiefragen sind etwas sehr Komplexes. So lassen sich beispielsweise Kühe nicht mit Solarstrom betreiben. Aber dazu später.

Waldmeyer versuchte erst einmal, sich einen globalen Überblick zu erschaffen. China ist weltweit die führende Dreckschleuder, 30% des CO2-Ausstosses gehen auf seine Rechnung. Das Land treibt unter anderem den Ausbau seiner Kohlekraftwerke massiv voran. Dass gleichzeitig die Produktion von Elektroautos beschleunigt wird, hat andere Gründe: Die sollen nämlich exportiert werden. Denn insbesondere Europa stellt sein ganzes Leben auf elektrische Energie um. Die Chinesen klopfen sich dabei auf die Schenkel. Sehenden Auges deindustrialisiert und schwächt sich so beispielsweise Deutschland, und gleichzeitig wird es in ganz Europa künftig an elektrischer Energie fehlen.

China, die USA und Indien produzieren über die Hälfte des globalen CO2-Ausstosses. Der grösste Schmutzfink allerdings ist Russland. Obwohl das Land nur über eine Bevölkerung von einem Zehntel derjenigen Chinas oder Indiens verfügt und heute ein lächerliches BIP von lediglich dem Doppelten der Schweiz produziert, landet es auf Platz vier der weltgrössten Verursacher von Treibhausgasen. Dass Putin seine Erdgasproduktion zuweilen auch einfach abfackeln lässt (da gerade kein Abnehmer), macht die Sache nicht besser.

Waldmeyer fragte sich also, warum er mit Tempo 30 durch die Schweizer Städte schleichen muss. Ja, vermutlich geht es um die Luftsäule, die gerade über seinen Aufenthaltsorten sauber gehalten werden muss. Oder, positiv gedacht: Die Passatwinde werden dann unsere saubere Luft schon in dreckige Gebiete tragen und dort zu einer Verbesserung beitragen. Dass wir die 30 km/h künftig nur noch elektrisch zurücklegen sollen, trägt weiter zu diesem Effekt bei. Dass unsere Gefährte dann u.a. auch mit schmutzigem Kohlestrom aus dem Ausland aufgeladen werden, ist ein kleiner Nebeneffekt, den unsere Politik elegant ignoriert.

Sollte Waldmeyer nun tatsächlich seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) gegen ein Elektrofahrzeug eintauschen – vielleicht sogar gegen ein chinesisches? Wenn, dann würde er dieses indessen nur mit seinem eigenen Solarstrom aufladen. Alles andere wäre Augenwischerei. Waldmeyer hat sich noch nicht entschieden.

Überhaupt, die Solarpanels: Damit lässt sich gutes Geld verdienen – aber alles der Reihe nach. Waldmeyer studierte nämlich ein Projekt für sein Haus in Meisterschwanden. Es sollte jedoch nicht ein kleines «Balkonkraftwerk» werden, sondern ein richtig grosser Solarpark auf dem Dach seines bescheidenen Anwesens. Die Ertragsrechnung brachte indessen vernichtende Ergebnisse zutage: Von November bis Februar liegt die monatliche Solarproduktion bei nur 10% des Monates Juni. Das ist ärgerlich, denn die energiefressende Wärmepumpe braucht den Strom hauptsächlich im Winter. Was sich der Habeck wohl ausgedacht hatte, wie es im Winter künftig aussehen wird in Deutschland, wenn für die Elektrofahrzeuge und die Heizungen nicht genügend Strom produziert werden kann? Natürlich gibt es da noch die Windräder. Aber was ist, wenn kein Wind weht? Dann herrscht eben diese berühmte «Dunkelflaute».

Waldmeyer müsste den Strom nachts und im Winter also von Erwin Ramsauer beziehen, seinem Bekannten im EW in Meisterschwanden. Diese Elektroenergie kommt dann von irgendwo her. Vielleicht von einem Atomkraftwerk aus Frankreich, von einem Kohle- oder Gaskraftwerk aus Deutschland (falls der Habeck dann noch liefern kann), bestenfalls von unserer Wasserkraft, vielleicht auch von den letzten helvetischen Atomkraftwerken, bevor diese abgeschaltet werden.

Tatsache ist, dass die Solarpanels lächerlich wenig Strom liefern im Winter, und leider scheint nachts die Sonne nicht. Waldmeyer könnte sein Fahrzeug also nur am Tag aufladen, vielleicht gerade dann, wenn er mit der Elektrokarre unterwegs ist. Und im Januar reichts überhaupt nicht zum Aufladen mit dem eigenen Solarstrom. 

Die Speicherung der Sonnenenergie ist kaum gelöst. Eine immens dimensionierte Hausbatterie könnte allenfalls noch den Tag-/Nachtausgleich schaffen. Aber bestimmt nicht einen saisonalen Ausgleich. Im Januar wäre sogar der Tag-/Nachtausgleich nicht gewährleistet – auch nicht mit einer wirklich grosszügigen Solaranlage und einer ebenso grosszügigen Batterie. 

Die Schweiz importiert im Winter 40% ihres Strombedarfs. Also würde Waldmeyer dann eben auch Importstrom beziehen – woher auch immer. Rein energetisch erwies sich sein Solarprojekt damit als sehr unbefriedigend. Aber es gab einen ökonomisch positiven Lichtblick: Waldmeyer erhält grosszügige Förderbeiträge für die Installation der Anlage, auch kann er den Überschussstrom, so insbesondere tagsüber und im Sommerhalbjahr, dem Ramsauer verkaufen. Ramsauer weiss dann zwar nicht, was er mit dem Zuviel an Strom anfangen soll. Aber so sind nun mal die Gesetze und Bestimmungen in der Schweiz. 

Abgesehen von solaren Massnahmen gibt es noch viele andere Möglichkeiten, um den CO2-Abdruck zu reduzieren. Zum Beispiel mit weniger Fliegen. Zwar verursacht der weltweite Flugverkehr nur 2% der Treibhausproduktion. Ein Businessflug produziert allerdings den doppelten Ausstoss. Die weltweite Digitalisierung aber noch mehr. Trotzdem: Sollte Waldmeyer nicht doch weniger fliegen?

Charlotte schlug zudem vor, weniger Fleisch zu essen. Der Vorschlag war berechtigt, denn Waldmeyer schätzte, dass unsere Schweizer Viehwirtschaft ebenso viel Treibhausgase verursacht wie der ganze Verkehr, insbesondere, wenn noch die Produktion der importierten Dünge- und Futtermittel aufgerechnet wird. Kühe furzen und rülpsen nun mal den ganzen Tag und stossen so immense Mengen an Methangas aus. Hmm, also tatsächlich weniger Fleisch essen? Sollte Waldmeyer jetzt Tofu-Rezepte studieren?

Waldmeyer könnte auch auf die im Winter aus Südafrika importierten Erdbeeren verzichten. 

Oder er könnte darauf achten, nicht übergewichtig zu werden. Mehr Gewicht belastet die Umwelt in mehrfacher Sicht: Man isst mehr, muss grössere Kleidergrössen tragen, verbraucht mehr Transportenergie, man fährt vielleicht auch mehr zum Arzt.

Ja, man sollte auch keine Kinder mehr kriegen. Jedes zusätzliche Kind auf der Erde produziert wieder mehr CO2. Ein schwieriges Thema. Die Zeit unter der heissen Dusche zu verkürzen, ist da schon einfacher.

Weniger Abfall zu produzieren, ist auch hilfreich. Dieser wird zum Teil in unseren Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt. Diese gelten gar als «klimaneutral», das hat der Bund so definiert. Allerdings wissen wir, dass viel Haushalt- und Industrieabfall aus Mitteleuropa in osteuropäischen Ländern landet, welche auch tüchtig Geld dafür erhalten. Der Müll wird dann in Bulgarien einfach abgefackelt oder in Albanien in einen Bergsee gekippt. Waldmeyer meinte gar, anlässlich einer ausgedehnten Balkanreise, einmal eine leere Flasche Terre Brune auf einer Abfalldeponie ausserhalb Tiranas entdeckt zu haben. Diese Flasche könnte tatsächlich aus seinem Weinkeller in Meisterschwanden stammen.

Zusammenfassend, aus Sicht der nationalen Politik, sollte offenbar möglichst viel für das eigene Land getan werden. Waldmeyer versuchte alles einzureihen und rang nach einer Lösung. Einer individuellen Lösung:

Also überlegte er, wie er nun seinen CO2-Fussabdruck vorab in unserem schönen Land reduzieren könnte.

Erstens wird Waldmeyer – trotz der zweifelhaften Ökobilanz – seine Solarpanels installieren lassen. Die Förderbeiträge sind zu attraktiv, neu auch die Vergütungen für die Einspeisung. Es ist ein interessantes Businessmodell. In der Nacht wird er dann den Dreckstrom aus deutschen Kohlekraftwerken beziehen. Das ist indessen nicht tragisch, weil die Luftsäule über der Schweiz so sauber bleibt. 

Von November bis Februar wird er den Strom ebenso aus dem Netz beziehen, der kommt dann immer aus französischen Atomkraftwerken oder wiederum von ausländischen Dreckschleudern. Aber auch hier: Immerhin bleibt die Schweiz sauber.

Die Überproduktion an Strom im Hochsommer stört ihn nicht, denn die Elektrizitätswerke werden ihn für gutes Geld abnehmen. Erwin Ramsauer wird ihn dann zum Teil zu Negativpreisen verkaufen müssen. Notfalls werden mit dem Überstrom auch die Weichen der SBB geheizt, denn dieser blöde Strom muss auf Teufel komm raus vernichtet werden. Waldmeyer würde im Juli also die SBB-Weichen beheizen…? Es scheint danach auszusehen. Waldmeyer kann jedoch gut damit leben, denn der Negativeffekt ist zu vernachlässigen.

Waldmeyer wird zweitens kein Elektrofahrzeug anschaffen. Solange die Speicherung der Solarenergie nicht besser gelöst ist, macht es keinen Sinn. Er darf also weiter seinen Porsche Cayenne bewegen.

Ein weiterer Entscheid: Waldmeyer wird ab sofort die Businessflüge zwischen Zürich und Genf streichen. Er würde diese Strecke zwar gar nicht mit dem Flugzeug zurücklegen. Aber irgendwie muss man sich eben einschränken.

Ausserdem wird er seinen BMI bei genau 25 stabilisieren. Das hatte Waldmeyer sich zwar eh schon vorgenommen. Aber es ist immerhin ein Beitrag zur Reduktion der Treibhausgase.

Auch das mit dem Abfall ist gelöst: Wenn sein persönlicher Abfall in der Schweiz verbrannt wird, ist er sauber. Und wenn er exportiert wird, betrifft es nicht die Schweiz.

Aber da wäre noch das mit dem Fleischkonsum: Waldmeyer beschloss, ab sofort nur noch importiertes Fleisch zu essen. Die feinen Stücke aus Uruguay, beispielsweise, sind nämlich nicht zu verachten, und deren Produktion fällt nicht in der Schweiz an. Ja, man muss sich halt ein bisschen einschränken. 

Und noch was: Charlotte hatte Waldmeyer überredet, im Garten einen Baum zu pflanzen. Es sollte ein Kirschbaum sein, dieser blüht wunderbar im Frühjahr, der Früchteertrag reduziert die Importe und der Baum vernichtet CO2. Das wäre ein sehr schönes Projekt. Vielleicht sollte es ein ganzer Hain werden? Zudem schlug Waldmeyer vor, den Rasen nicht mehr zu mähen. Das dann wachsende Moos würde längerfristig CO2 speichern, und die Energie für den Rasenmäher könnte eingespart werden. Waldmeyer würde auch weniger Kohlenhydrate verbrauchen, wenn der mühsame Mähvorgang entfällt. Ja, man muss eben das Big Picture sehen. 

Waldmeyer und die Blackbox

Oder: Der Staat als Copilot? Nein danke!

Kommt jetzt der gläserne Autofahrer? Es scheint einen Plan des Bundesamtes für Strassen (ASTRA) zu geben, künftig alle Fahrzeugbewegungen überwachen zu wollen. So soll es künftig eine Blackbox in jedem Auto geben. Aber es kommt noch schlimmer. Waldmeyer überlegt nun verzweifelt, wie er reagieren soll.

Das Bundesamt für Strassen plant jetzt, durch die Hintertüre einer einfachen Verordnung, ganz klandestin, ab 2024 eine Blackbox für jedes neue Fahrzeug vorzuschreiben. Hintergründe für diesen Plan gibt es verschiedene.

Erstens einmal zerbricht sich der Bundesrat den Kopf, wie Elektroautos künftig besteuert werden sollen. Es soll ja auch für elektrisches Fahren künftig eine ordentliche Verkehrsabgabe geben. Dieses Ansinnen mag einer gewissen Logik gehorchen, denn dem Staat schwimmen die Felle davon: Die Steuern auf fossilen Treibstoffen werden bald versiegen, wenn nur noch Elektrofahrzeuge verkehren. Der Bund wünscht sich am liebsten eine Abgabe pro Kilometer, die Ansätze sollen gestaffelt nach Fahrzeuggrösse definiert werden. Die Krux nur: Diese Kilometer müssen erfasst werden. Und damit landen wir genau bei einem ziemlich hässlichen Überwachungsproblem. Denn wenn Autos schon mal alle über eine Blackbox verfügen, liesse sich dies künftig viel besser einrichten. Die Blackbox wäre dann so gescheit, dass sie nicht nur die Kilometer aufzeichnet, sondern auch zwischen verschiedenen Strassenarten (und somit unterschiedlichen Tarifen) unterscheiden könnte, und die Verrechnung der Verkehrsabgaben könnte auch gestaffelt nach Zeitfenstern erfolgen. Der Tarif während der Rush Hour könnte beispielsweise höher angesetzt werden oder mitten in der Nacht gäbe es einen Discount. Auch so lässt sich, gut versteckt, das bisher von den Bürgern immer abgeschmetterte Roadpricing einführen.

Und was ist, wenn wir ins Ausland fahren? Dies könnte die Blackbox, allenfalls mit geometrischer Ausrüstung auf den Meter genau, spielend erheben. 

Aber auch dies möchte Waldmeyer nicht. „Den Staat soll es einen Dreck angehen, wo ich wann bin und wieviel ich fahre!“, meldete Waldmeyer zu Charlotte rüber.

 „Vielleicht solltest du dir doch ein Lastenrad zulegen, Max“, meinte Charlotte lakonisch, „damit kannst du vielleicht auch ins Ausland, ohne dass es jemand merkt“.

So einfach mit der totalen Überwachung wird die Sache allerdings nicht sein. Schon für die Einführung einer elektronischen Vignette (in anderen Staaten seit einem Dezennium in Betrieb), musste der Bund Kompromisse eingehen. So wird es neben unserer elektronischen Vignette parallel auch weiter eine Klebeetikette geben. Zwei Systeme, zweimal die Kosten. Die Verkehrsminister in Singapur oder Dubai werden sich totlachen. Doch: was kostet die Welt… 

Die elektronische Vignette zumindest könnte man relativ einfach mit allen Sicherheiten zur Wahrung der Privatsphäre ausstatten. Aber mit der Blackbox, welche alle Daten aufzeichnen kann, wird das schwierig.  

2035 kommt das „Verbrennerverbot“ in der EU. Ab dann sollen nur noch Fahrzeuge produziert, importiert und neu in Verkehr gesetzt werden, welche ohne fossile Treibstoffe betrieben werden. Also nur noch Elektroautos. Gemessen, ob fossil oder nicht, wird bekanntlich nur am Auspuff: Dass die elektrische Energie vermutlich auch dannzumal noch aus einem dreckigen Kohlekraftwerk kommt, ist einerlei. Die Schweiz, als Ministaat mitten in Europa, wird sich diesem Verbrennerverbot nicht entziehen können. Mit anderen Worten: Auch Waldmeyer wird dann kaum mehr ein Fahrzeug kaufen können, welches konventionell angetrieben wird.

Für Deutsche mag die Vorstellung von einer Blackbox im Auto nicht so schlimm sein. Sie haben sich bereits daran gewöhnt, dass ihnen der Staat jederzeit ins Bankkonto reinschauen kann. Der gläserne Bürger ist für sie bereits Realität und die ganz klare Durchsicht wird nur dadurch gebremst, dass das Land immer noch eine digitale Wüste ist.

In der Schweiz kennen wir diese inkriminierte Blockbox bereits: Freiwillig lassen wir sie teilweise von den Versicherungen in unserem Fahrzeug installieren, mit dem Zückerchen einer Prämienvergünstigung. Im Falle eines Unfalles weiss die Versicherung dann ganz genau, was im Auto stattgefunden hat: Geschwindigkeit, Beschleunigung, Lenkradeinschlag, Bremsbetätigung – alles.

Schon heute speichern viele Fahrzeughersteller viele Fahrdaten. In Deutschland kürzlich musste ein Tesla-Fahrer nach einem Unfall per Gerichtsbeschluss alle Fahrdaten outen. Tesla lieferte bereitwillig. Solche gespeicherte Informationen können für einen Fahrer selbstredend positiv oder negativ sein. Aber mit dem Kauf eines Fahrzeuges würde Waldmeyer immer auch sein Einverständnis für die Speicherung sämtlicher Daten geben – allenfalls auch für deren Verwendung.

Künftig jedoch würde die Auswertung einer Blackbox durch die Behörden also genau aufzeigen können, wo, wann und in welchem Fahrmodus man sich genau aufgehalten bzw. bewegt hat. Unser Banker Pierin Vincenz müsste also nicht einmal seine Kreditkartenabrechnung offenlegen, der Staat wüsste bereits zeitnah, vor welchem Nachtclub er parkiert hätte.

Natürlich müsste eine Blackbox künftig dazu nicht umständlich ausgebaut und untersucht werden – wie die Blackboxes nach einem Flugzeugabsturz. Denn alle Daten wären in Echtzeit bereits in einer Cloud gelandet. Waldmeyer stellte sich vor, dass er morgens um sieben Uhr einen Anruf erhielte: „Herr Waldmeyer, sie haben gestern in Zürich vor dem Tre Fratelli parkiert und die Parkzeit um mehr als zwei Stunden überzogen, nachher sind sie mit 43 anstatt mit 30 km/h durch die Stadt gerast, und an der Ecke Europabrücke/Winzerstrasse haben sie den Blinker nicht betätigt. Dürfen wir jetzt noch ihren Restalkohol überprüfen bitte? Ein Patrouillenfahrzeug ist zu Ihnen nach Meisterschwanden unterwegs.“

Noch ist nicht klar, wieviel Daten gesichert werden und wieviel davon die Behörden künftig auslesen dürfen. Es wird davon abhängen, in welchem Masse wir uns als Bürger dagegen sträuben werden. Der Staat müsste vielleicht etwas mehr in die Unfallstatistiken blicken, denn eigentlich müsste er nur genau dort eingreifen, wo die Bürger am meisten geschützt werden müssen. Dann würde er erkennen, dass ein Grossteil der Unfälle heute mit Bikes, E-Bikes und Motorrädern erfolgt. Waldmeyer nahm den Gesprächsfaden mit Charlotte wieder auf und schlug vor, dass zuerst einmal alle Lastenräder eine Blackbox erhalten sollten. Charlotte erwiderte nichts.

Dieses Eigenleben des ASTRAs ist schon merkwürdig, ja bedenklich. Der Trick mit den Überwachungsprojekten wurde noch zu Zeiten unserer Konzertpianistin (Simonetta Sommaruga) iniziiert. Aber vielleicht wusste sie gar nicht, was da hintenherum auf der Klaviatur gespielt wurde?

Waldmeyer kann nur hoffen, dass alle diese neuen Vorschriften nicht gleich zeitnah greifen. Aber Waldmeyer hofft vergeblich, denn ab Anfang 2024 wird Big Brother definitiv auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Denn ab diesem Zeitpunkt muss jedes neu immatrikulierte Fahrzeug über einen „Ereignisdatenspeicher“ verfügen. Zu Beginn, als raffinierter Trick eben, wird es sich um ein Aufzeichnungssystem handeln, welches nur alle Fahrzeugdaten kurz vor und nach einem Unfall speichert.  

Doch das scheint nur der Beginn der Überwachung zu sein. Denn dass die ganze künftige Verkehrsüberwachung durch den Bund nicht nur eine Vision ist, zeigt sich darin, dass bereits ein gigantisches Projekt für eine „Mobilitätsdateninfrastruktur“ angestossen wurde. Dafür will der Bund sogar eine eigene Bundesanstalt schaffen. Dutzende von Vollzeitstellen werden nun geschaffen, ein monströses IT-Millionenprojekt wird aufgegleist. Ob das wohl gut ausgehen wird…? Wir hatten ja schon einige Probleme mit unseren staatlichen IT-Ausflügen – meist endeten sie in einem teuren Fiasko. Ein solches Fiasko könnte vielleicht einen Hoffnungsschimmer darstellen, dass dieser toxische Kelch mit der Überwachung an uns vorübergeht?

Natürlich soll mit der Erfassung der Mobilitätsdaten der Verkehr später aktiv gesteuert werden. Spannend ist deshalb das übergeordnete Ziel dieses dunkelrot und dunkelgrün eingefärbten Projektes: Das Endziel soll sein, so wörtlich, „auf ein eigenes Fahrzeug zu verzichten“. Hallelujah, schöne neue Welt.

Waldmeyer wird sich künftig also den ihm zugewiesenen Parkplatz vom Netz holen, er wird für unterschiedliche Streckenabschnitte unterschiedlich zur Kasse gebeten, oder er wird seine Karre eben zuhause lassen, weil ihm kein Slot zugeordnet wird. So könnte, so um das Jahr 2036, nach dem Verbrenner-Aus, Waldmeyers Smart Watch (11. Generation), plötzlich melden: “Max, in 15 Minuten beginnt dein Slot WM836-5-YZ. Du darfst von 07:30 bis 08:15 dein Fahrzeug verwenden. Alternativ morgen 03:15 bis 04:00 mit Slot WM837-5-ZZ. Wähle 1 für Slot 1, wähle 2 für Slot 2.»

Aber vielleicht wird es zu all diesen garstigen Szenarien gar nie kommen? Vermutlich wird es nämlich gar nicht genügend Strom geben, um alle Fahrzeuge elektrisch zu bewegen. Und alle Heizungen, künftig auf Wärmepumpenbasis mit viel Input an elektrischer Energie. Strom aus Deutschland wird dann auch keiner mehr erhältlich sein, denn der Habeck braucht ihn selbst im Land. Wenn dann keine Sonne scheint, die Windräder nicht drehen – also eine „Dunkelflaute“ herrscht und die Energie nicht gespeichert werden kann, werden die Elektrofahrzeuge stillstehen und das mit der Blackbox wird sich erübrigt haben.

Waldmeyer fragte sich: Wieso gibt es keinen Aufschrei aufgrund all dieser offensichtlich geplanten staatlichen Überwachungspläne? Das ASTRA macht natürlich nicht viel Aufhebens um seine Schlachtpläne, möchte man doch nicht schlafende Hunde wecken. Deshalb auch diese heimtückische Einführung der Mobilitätsüberwachung, ganz gemein in eine einfache Verordnung eines Bundesamtes verpackt. Doch wieso haben die bürgerlichen Parteien das Thema noch nicht aufgegriffen? Sind sie wirklich so naiv und wollen das Thema etwa den Freiheitstrychlern überlassen? Diesmal geht es nämlich um echte Kontrolle durch den Staat!

Waldmeyer ist der dezidierten Meinung, dass er sich vom Staat weder ins Portemonnaie noch ins Schlafzimmer gucken lässt. Und vor allem: schon gar nicht ins Auto!

Waldmeyer beschloss, seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), nicht zu ersetzen. Auf ein neues Fahrzeug – mit einem troyanischen Pferd, geritten von staatlichen Überwachungsbehörden – wird er verzichten. Der Staat als Copilot…? Nein, danke. Er wird sein schon in die Jahre gekommenes Fahrzeug einfach behalten, for ever.

Waldmeyer und die Luftschutzkeller

Krieg mitten in Europa: Ein Szenario, dass bis vor Kurzem undenkbar war. Aber wir sind vorbereitet in der Schweiz. Die Sturmgewehre warten im Schrank, man rückt regelmässig zur Übung in den WK ein. In mehreren Jahren kommen auch die neuen Flieger, etwas später die neue Flugabwehr. Aber vor allem: Wir haben Bunker. 

Deutschland zählt seit Monaten seine Luftschutzbunker. Schon Christine Lamprecht, die vormalige Verteidigungsministerin, Typ Handarbeitslehrerin, hatte mit diesem wichtigen Projekt begonnen. Der Neue, Pistorius, etwas forscher, zählt weiter. Man wird vielleicht Ende Jahr wissen, wo man steht. Das ist wichtig, denn verteidigen kann sich Deutschland kaum mehr selbst. Die einigermassen einsatzbereiten Geräte und Waffen wurden in die Ukraine geliefert und werden nun dort verheizt. Etwas neue Ausrüstung ist bestellt, ist aber noch nicht eingetroffen. Der Iron Dome zum Beispiel, die neue Luftabwehr aus Israel. Sie soll 2025 kommen. Das ist wichtig, denn eine Rakete aus dem russischen Kaliningrad braucht nur fünf Minuten, um beim Scholz in Berlin einzuschlagen. Deutschland wusste das schon immer, aber erst mit dem Ukrainekrieg fiel es unseren Nachbarn wie Schuppen von den Augen, dass hier plötzlich eine nicht unrealistische Bedrohung besteht. In der Not setzt Deutschland nun einfach auf die Nato. Und die Bunker. Wenn man sie denn findet und einen Überblick kriegt.

In der Schweiz sieht es nicht viel besser aus in Sachen Gesamtverteidigung. Wir setzen auf die Gamellenpolitik: Unsere Wehrkraft ist, wenn wir ehrlich sind, mehr oder weniger nur Nostalgie. Unsere Sturmgewehre und die Gefechtspackungen liegen zwar bereit (inklusive der Gamelle), wir wissen auch genau, wohin wir bei einer Mobilmachung einrücken müssen, in der Regel zu einem Gehöft auf dem Land oder in eine Turnhalle, von wo aus wir dann in der nahen Kaserne das 50-jährige Kriegsgerät holen. Dem Marschbefehl wird ein SBB-Billet beiliegen. So hat alles seine Ordnung.

Leider finden Kriege heute jedoch kaum mehr an der Grenze statt, sondern mit kontinentalen und interkontinentalen ballistischen Mitteln, mit Cyber-Waffen, Trolls und politischer Unterminierung. Rein numerisch verfügen wir zwar über eine der grössten Armeen in Europa. Unglücklicherweise zum Teil indessen ausgerüstet mit Uraltgerät, worüber sich ein Ukrainer heute totlachen würde. Über eine brauchbare Luftwaffe werden wir leider erst 2030 verfügen, etwas später dann über eine einigermassen wirksame Luftabwehr. Ein „Iron Dome“ ist nicht geplant. Im Notfall könnte aber unser Bundespräsident mit dem Scholz telefonieren, der würde dann vielleicht helfen. Der Anruf müsste indessen rasch erfolgen, die Rakete braucht zwar etwas länger zum Bundeshaus in Bern anstatt nach Berlin, aber es werden auch nicht mehr als neun Minuten sein. Tatsache ist: Heute und auch auf absehbare Zeit könnten wir uns tatsächlich nur beschränkt verteidigen. Deshalb hegen und pflegen wir unsere Neutralität, dann passiert uns nichts.

Es war ein ganz normaler Samstagmorgen, als sich Waldmeyer für den Rest des Tages verabschiedete: „Charlotte, ich bin dann mal im Luftschutzkeller“. Endlich wird da mal aufgeräumt, dachte Charlotte. Die Pritschen stehen seit Jahren in der Ecke, noch in der Originalverpackung und nicht zusammengebaut. Ebenso das Trocken-WC. Und die Vorräte liegen irgendwo dazwischen. Höchste Zeit also, den Luftschutzkeller neu einzurichten.

Die Schweiz ist wohl der einzige Staat auf der Welt, der bei den meisten Bauvorhaben zwingend die Erstellung von Luftschutzkellern vorschreibt. Das Land ist in der Folge flächendeckend mit Atombunkern überzogen. Vor einigen Jahren wurde eine Lockerung dieses vermeintlichen Anachronismus verworfen. Nicht zuletzt war es die Bauindustrie, die hervorragend lobbyiert hatte, um die teuren Einbauten weiter vorzuschreiben. Wie dem auch sei: Wir Schweizer können uns nun sicher fühlen. 

Deutsche haben immerhin U-Bahnen, in deren Stollen man Zuflucht suchen kann. In Kiew hat sich eine halbe Stadt dort mehr oder weniger häuslich eingerichtet – so gut es eben geht.

Die minuziöse teutonische Zählung der Bunker in unserem Nachbarland macht also Sinn. Vermutlich wird man auch die U-Bahn-Stollen dazurechnen, das hilft bei der Zählung, braucht aber wohl nochmals etwas mehr Zeit. Viele deutsche Städte haben U-Bahnen. Dieses horrende Tempo der Schutzplatz-Erfassung kann uns indessen gleich sein. Denn was Deutsche nicht wissen: Wir Schweizer müssen gar nicht erst zählen. Wir haben unsere Plätze. Fast jedes Haus verfügt über einen Luftschutzkeller. Wirklich, fast jede Immobilie. Im Notfall nehmen wir die Tunnels dazu – davon gibt es viele, denn das Mittelland und die Alpen sehen heute, verkehrstechnisch, wie Emmentalerkäse aus: nur noch Löcher. Aber das sind Tunnels, in denen wir überleben können. Allerdings sind wir Schweizer nicht sehr kollektiv denkende Menschen, wir sind eher Individualisten. Deshalb schätzt jeder seinen eigenen Luftschutzbunker. Der Tunnel wäre nur ein Notfall-Zufluchtsort. Für Ausländer, Asylanten vielleicht, oder grüne Hausbesetzer. Der „normale“ Schweizer verfügt über einen persönlichen Ort des Schutzes, mit Proviant, Notschlafstelle und Trocken-WC. Jeder. Tatsächlich, und das wissen wir eben bereits (im Vergleich zu den Deutschen), verfügen wir über neun Millionen Schutzplätze – etwas mehr also, als die Bevölkerung zählt. Im Notfall hätte es so noch etwas Platz für ein paar versprengte und gut zahlende Touristen.

Wandmeier kam, pünktlich zur Apérozeit, abgekämpft wieder aus dem Keller hoch. „Alles erledigt, alles neu eingerichtet!“

„Was hast du denn so alles gemacht, Max?“, fragte Charlotte skeptisch – im Wissen darum, dass sie selbst inzwischen Einkaufen war, das Dinner vorbereitet, zwei Ladungen Wäsche erledigt, die Garageneinfahrt gekehrt, Zahlungen gemacht und einem Kunden die Offerte über das neue Interior Design für die Büros in Zürich-West geschickt hatte (inklusive Gym-, Still- und gendergerechtem Begegnungsraum).

„Also“, erklärte Waldmeyer, „alles ist neu eingerichtet. Die Bordeaux sind an der Wand ganz hinten, sortiert nach Trinkreife. Die Riservas aus der Toscana alle links, die Chilenen und Argentinier für die Gäste hinten rechts, aber Achtung, nur die unteren Regale für die Gäste. Die Spanier sind vorne rechts. Der Terre Brune ist gleich beim Eingang links auf Griffhöhe.“ 

Charlotte erwiderte nichts. Immerhin hatte Max einen realistischen Überlebensplan entworfen.

Waldmeyer, der Städtebau und der Organhandel

Die Lage spitzt sich zu in der Schweiz: Wir haben zu wenig Wohnraum – und dieser ist erst noch zu teuer. Der grosse Wurf fehlt eben, wir blockieren uns selbst. Waldmeyer stellt einen Zusammenhang her mit der längsten Stadt der Welt und dem Organhandel.

Es war wieder einmal eines dieser Sonntagmorgengespräche, am späten Frühstückstisch. Waldmeyers Sohn Noa brachte die Augen kaum auf, offensichtlich war er intensiv daran, den Restalkohol vom gestrigen Abend zu verarbeiten. Lara sah auch nicht viel fitter aus. Trotzdem schnitten sie ein Problem an: Wohnraum.

Tatsächlich ist die Misere mit Händen zu greifen, denn ohne etwas «Old Money» werden junge Generationen kaum je ein Eigenheim besitzen können. Selbst für ordentlich verdienende und gut ausgebildete junge Menschen wird die herangesparte Eigenkapitalbasis nicht ausreichen, binnen nützlicher Frist die Finanzierung für eine eigene Immobilie sicherzustellen. Ohne eine Anschubleistung von aussen wird das zur Makulatur. Auch zehn Jahre lang netto jährlich CHF 20’000.- zu sparen, also CHF 200’000 auf die Seite zu legen, wird in unseren Ballungsräumen kaum für ein adäquates eigenes Zuhause reichen.

Noa meinte, mit Sparen würde man nur alt werden, aber kaum je eine eigene Hütte besitzen. Da müsste man schon gescheit in Kryptowährungen investieren, Zuhälter werden oder in den Drogenhandel einsteigen. Vor allem mit synthetischen Drogen. Noa empfahl Flakka. Das bringt Marge.

Lara (sie studiert neu Ethnologie in Basel) meinte, Human Trafficking bringe auch was ein. Besser noch der internationale Organhandel. Da könne man echt Kohle verdienen.

Charlotte sagte nichts. Waldmeyer rollte nur die Augen und verkniff sich die Bemerkung, dass man mit Ethnologie bestenfalls mal ein Asylantenheim führen, aber nie eine Wohnung kaufen könnte.

Aber die Kids hatten schon recht: Es gibt zu wenig erschwinglicher Wohnraum. Die linksgerichteten Stadtregierungen in der Schweiz suchen die Lösung daher in der Förderung von sozialem Wohnungsbau. Städte wie Basel oder Genf beginnen, die Mieten zu plafonieren, Berlin plant gar die Enteignung von Wohnraum in grossem Stil. Investoren treten bei all diesen Massnahmen die Flucht an und die Probleme verstärken sich noch.

Gründe für die Misere kennen wir: Zwar wächst die Bevölkerung leicht (nämlich um rund 1% pro Jahr) und der individuelle Bedarf an Wohnquadratmeter steigt kontinuierlich. Doch der wahre Grund des Mankos an Wohnraum liegt bei der mangelnden Produktion. Die Auflagen und Behinderungen mit einem Dickicht an Gesetzen und Verordnungen verhindern rascheres Bauen. Die teure Bauweise in der Schweiz, diverse Abschottungen und Kartelle, plus das bereits bestehende Missverhältnis von Angebot und Nachfrage treiben die Preise in die Höhe – kein Wunder. 

Kommt hinzu, dass viele Industriebrachen unberührt in den Agglomerationen liegen, aber nicht umgezont werden dürfen. Und ein immenses Überangebot an Büroflächen ziert die meisten grossen Städte. Aber dort ist Wohnen nicht vorgesehen, Umnutzungen dauern oft Dezennien.

Waldmeyer überlegte weiter: Auch in der Gegend um Payerne oder Porrentruy, oder auch im Thurgau, wäre noch viel Platz zum Bauen vorhanden. Man müsste einfach auf ein bisschen Landwirtschaft verzichten (welche eh nur defizitär und nicht nachhaltig ist).

«Wir sind einfach zu langsam», warf Charlotte ein. Stimmt. Für ein neues Schulhaus braucht es 20 Jahre. Der Ausbau des Gubrist brauchte länger. Waldmeyer wird auch kaum mehr durch die neuen Gotthardröhren rauschen können. Bis der neue Tunnel fertig und der alte renoviert ist, wird er über 80 Jahre alt sein. Vielleicht darf er dann eh nur noch mit dem Lastenrad rumkurven. Mit dem Timing von grossen Wohnsiedlungen ist es genau gleich, alles geht eine Ewigkeit.

Ja, Politik und Regierung sollten mal ihre Komfortzone verlassen und grössere Würfe wagen!

Wie sagte doch Churchill: Never waste a good crisis. Man sollte also über den Tellerrand hinausschauen und studieren, was andere Länder so machen. China beispielsweise realisierte ganz grosse Würfe, komplett neue, riesige Städte wurden ins Land gestellt. Auch Despotenstaaten lancieren oft Grossprojekte; sie bauen z.B. eine neue Hauptstadt in den Dschungel. Oder auch Athen, um ein realistischeres Bespiel zu nennen: Athens Riviera ist ein ganz neuer, riesiger Stadtteil, er wurde in den letzten Jahren richtiggehend aus dem Boden gestampft. Und das in einem EU-Land mit einer demokratisch legitimierten Regierung. Es geht also doch?

„Kennt ihr Neom?“ warf Waldmeyer in die sonntägliche Runde, um etwas vom Lamentieren über den Schweizer Wohnraum abzulenken. In der Tat ist es interessant, was Saudi-Arabien so plant: nämlich eine komplett neue Stadt in der Wüste. Neom soll sie heissen, auch The LINE genannt. Sie soll vom Ort Neom aus am Roten Meer quer durch die Wüste führen, 170 Kilometer lang und 200 Meter breit. Da soll Wohn- und Arbeitsraum für neun Millionen Menschen entstehen. Und dies alles mit einer Ausdehnung von nur 34 Quadratkilometern – was ungefähr der bescheidenen Fläche des Zugersees entspricht. Drei unterirdische Ebenen für den motorisierten Verkehr, für eine U-Bahn und für die Fussgänger sind geplant. Ein begrüntes Atrium über der Siedlung dient als Naherholungsraum und sorgt für angenehme Kühlung. Energetisch soll die Stadt eh CO2-frei sein. Wasserstoff, produziert aus Sonnenergie, wird die nötige Energie liefern. Alles nur eine Vision? Nein. Denn Tausende von Bauarbeitern buddeln bereits den Sand auf. Der Spass wird bis zu 500 Millarden kosten, allein für den ersten Abschnitt. Aber diese Zahl muss relativiert werden, denn die Credit Suisse war alleine einmal 100 Milliarden wert. 

„Ja, wir sollten uns mal eine Scheibe von den saudischen Projekten abschneiden», meinte Waldmeyer zum Frühstückstisch.

„Wir haben in der Schweiz bereits eine längere Stadt als die Saudis“, warf Charlotte ein. „Unsere Stadt beginnt in St. Margrethen und führt bis Genf. Entlang der Autobahn ist alles bebaut, wir haben vielleicht die längste Wurmstadt der Welt. Es sind genau 384 Kilometer. Wir schlagen die Saudis bei weitem.“

Stimmt. Aber leider ist unsere Wurmstadt nicht so gelungen. Linke Aktivisten werden zum Beispiel bemängeln, dass sie nicht verkehrsfrei ist. Es können auch nur beschränkt Lastenräder zirkulieren. Der Wurm wird vorab mit elektrischer Energie betrieben, die zu einem Gutteil aus deutschen Kohlekraftwerken stammt. Und vielleicht ist diese helvetische LINE auch nicht gendergerecht. Öffentliche Bauten sollten künftig nämlich gendergerecht geplant werden, so die politischen Vorstösse in der Stadt Zürich. Noch ist nicht klar, was das genau bedeuten soll, die Initianten waren auch noch nicht imstande, es zu formulieren.

„Diese Wurmstadt zählt nicht, Charlotte“, warf Waldmeyer ein, „die ist nicht genderkonform.“ Damit war die Diskussion betreffend eine bessere Stadtplanung vorerst beendet. Waldmeyer musste auch eingestehen, dass Neom nur dank sprudelnder Erdölquellen gebaut werden kann und der Bevölkerung stark subventioniert hingestellt wird. Rahmenbedingungen, von denen die Schweiz nur träumen kann. Die Saudis müssen sich auch nicht gegen die Fallstricke der direkten Demokratie wehren und eine Unzahl von bürokratischen Hindernissen überwinden. Und ob es in Neom dann Alkohol gibt, steht in den Sternen.

Neom dient also nicht als Vorzeigemodell für die Schweiz, stellte Waldmeyer ernüchtert fest. Wir müssten das Problem selbst lösen oder eben individuelle Strategien festlegen, um an ein Eigenheim zu kommen. «Ich hätte Verständnis dafür, wenn Lara in den Organhandel einsteigt», meinte Waldmeyer zu Charlotte. Charlotte antwortete nicht. Lara auch nicht, zumal sie den Tisch schon ab der Sequenz Neom verlassen hatte.

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