Waldmeyer, Pierin und das Lehrstück

Der grösste Schweizer Wirtschaftsprozess seit Jahren fesselte auch Waldmeyer. Schade, gibt es wenig Bilder, denn die Argumentationsketten der Kontrahenten präsentieren sich wie in der Netflix-Serie „Suites“ – nur findet das Ganze hier bei uns in der Schweiz statt! Waldmeyer überlegte, was er daraus lernen könnte.

Der Prozess rund um Pierin Vincenz, ex CEO der Raiffeisenbank, erlaubt es uns, in gewisse Abgründe von systematischen Verfehlungen einzelner Wirtschaftsführer fast persönlich reinzuschauen. Natürlich weiss Waldmeyer, dass das mit Voyeurismus zu tun hat. Aber es ist eben auch ganz informativ. Interessant sind zum Beispiel diese raffinierten Bereicherungen, aber auch die Spesenexzesse, diese vielen Nightclubs, die bizarre Tour de Suisse Pierins durch die Rotlichtlokale.

Ebenso beeindruckend sind die Argumentationen der Angeklagten und ihrer Verteidiger: „Es ist nicht so, wie es aussieht.“ In diesen Füdlibars sitzen nämlich auch potenzielle Raiffeisenkunden, oder: Gewisse Kunden erwarten eben, dass man an solchen Orten Geschäftsabschlüsse tätigt. Nun wissen wir auch, dass bei grossen Banken Bewerbungsgespräche mit auf Tinder rekrutierten Kandidatinnen in feinen Restaurants stattfinden. Auch gut: Die Ehefrau musste den wichtigen CEO auf längeren Flugreisen nur begleiten, weil der wichtige CEO vorübergehend an Sehstörungen litt. Und Australien musste nicht ferienhalber besucht werden, sondern nur, um eine Schalterhalle einer fernen Bank zu studieren. 

Einerseits gemahnten die Ausführungen in diesem Prozess an eine Komödie, andererseits waren sie auch ein Lehrstück in Taktik und Unverfrorenheit. Wie in „Suites“ eben – nur durften wir diesmal hautnah dabei sein!

Pierin seine Freunde konnten aufzeigen, wie einfach und raffiniert es ist, sich frühzeitig für einen Apfel und ein Ei an Firmen zu beteiligen, um diese nachher vom eigenen Arbeitgeber aufkaufen zu lassen. Das ist weder „Korruption“ noch „Betrug“, denn der Käuferin – in diesem Fall der Raiffeisen – ist kaum ein nachweisbarer Schaden entstanden. 

Waldmeyer konstatierte: Gilt es etwas abzustreiten, muss die eigene Darstellung einfach konsequent durchgezogen werden. Ein roter Faden der Stringenz sollte sich durch die Argumente ziehen. „Wir können alles erklären.“ Schon früher hatten wir dies von Donald Trump gelernt, dem Erfinder der „Alternative Facts“. Oder von Putin, der bis heute abstreitet, dass es die Russen waren, die verdeckt in die Krim infiltrierten oder heute konsequent behauptet, Truppen rund um die Ukraine nur zusammenziehen, weil sich Russland von der Nato, hunderte von Kilometern weiter westlich, bedroht fühlt.

Ja, dieser Vincenz zieht die Sache einfach konsequent durch, reflektierte Waldmeyer. Er mag den moralischen Kompass dabei aus den Augen verloren haben, aber schliesslich muss er seine Haut retten, und er macht das wirklich gut, so unbeschwert und souverän. Eines muss man ihm lassen, meinte Waldmeyer: Das ist ein brillanter Verkäufer, mit Stehvermögen, Charisma und Kraft.

Die meisten öffentlichen Prozesse in der Schweiz waren bis heute von Langeweile durchtränkt. Entweder wurde einfach kalt abgestritten, oder die Angeklagten zeigten Reue und kamen so mit einem blauen Auge davon. Pierin Vincenz gebührt deshalb Respekt: Er unterhält uns nicht nur bestens, er könnte, mit seinem Lehrstück, gar einen ganzen Reigen an neuen Prozesskulturen eröffnen! Danke, Pierin, dachte sich Waldmeyer, du bringst endlich etwas mehr Drive und Farbe in unsere Kommunikationskultur. Pierin setzt einen Contrapunkt zu unserem hochanständigen, devoten und mit „Exgüsi“ und „Bissoguet“ gepflasterten helvetischen Habitus. „Also dieser Pierin, der macht das schono guet!“, meldete Waldmeyer aus seinem Eames Chair zu seiner Frau Charlotte rüber. Charlotte antwortete nicht.

Natürlich bleibt da die moralische Verurteilung, welche nichts mit der juristischen Wertung der Causa zu tun hat. Obwohl dieser plakative Prozessvorgang vordergründig doch etwas neu ist für uns (auch weil so offensiv und frech verteidigt wird), ist der Vorgang für die Eidgenossenschaft ziemlich systemimmanent. Es gibt nun einmal viel Filz in unserem kleinen Land. Oft als lauteres Netzwerk getarnt, werden Interessen in unserem Milizsystem oft grosszügig vermischt. Da gibt es eine Vielzahl von übergreifenden Verwaltungsratsposten, kombiniert mit Exekutivämtern in Regierung, Verwaltung und Gesellschaft, da zählen wichtige Seilschaften aus Vereinen, Sport und Armee. Wir lassen uns dabei immer wieder überzeugen, dass das alles nichts mit Interessenkonflikten, geschweige denn mit Korruption zu tun hat.

Aber zurück zu Pierin, unserem neuen Lehrmeister in Sachen angriffiger Kommunikation und Gesprächstaktik: Waldmeyer, der sich angesichts dieses frivolen Schwankes am Gericht fast als Bünzli sah, überlegte sich, was er nun abkupfern könnte. Ja, etwas mehr offensives Verhandlungsgeschick könnte er sich vielleicht aneignen, so beispielsweise bei seinen grossen Kunden in der Firma. Ein bisschen weniger Anstand – dafür eine Note mehr überzeugende Nonchalance. 

Das mit den Füdlibars irritierte Waldmeyer jedoch nach wie vor, seine Erfahrung beschränkte sich diesbezüglich auf ein paar Expeditionen während den militärischen Wiederholungskursen. Vielleicht sollte man da trotzdem wieder mal reinschauen?

„Charlotte, die Verwaltungsratssitzung morgen Abend wird im King’s Club stattfinden. Es werden alle kommen. Ausser Elisabeth, sie hat sich aus persönlichen Gründen entschuldigt.“

Charlotte antwortete, gefühlt binnen einer Millisekunde: „Das trifft sich gut, Max, ich habe hier nämlich unsere Frauentennisrunde eingeladen. Und die Chippendales kommen.“

Für einmal war es Waldmeyer, der nicht antwortete.

Waldmeyer erklärt die Hospitalisierung

Oder: Droht den SVP-Wählern bald eine Prämienerhöhung von 50 Stutz…? 

Eigentlich hatte Waldmeyer die Nase gestrichen voll von dieser blöden Pandemie. Trotzdem grübelte er weiter. Er hatte nämlich einen Verdacht: Könnte es einen Zusammenhang geben zwischen Intensivbetreuten und ihrer politischen Haltung?

Die Vermutung war etwas brisant, Waldmeyer war sich auch nicht ganz sicher. Also analysierte er nochmals: Inzwischen hatte sich gezeigt, dass ein Grossteil der hospitalisierten Corona-Opfer ungeimpfte Patienten sind. Statistisch ist das auf den ersten Blick nicht ersichtlich, da in gewissen Spitälern nicht nur Ungeimpfte liegen. Gäbe es indessen überhaupt keine Ungeimpften (und nur Geimpfte), lägen 100% Geimpfte in den Betten. 

Waldmeyer führte seinen persönlichen mathematischen Exkurs weiter: Er ging von einer Impfquote der Bevölkerung aus, die in der Schweiz zurzeit bei rund 68% liegt, bei den Erwachsenen bei rund 80%. Impfskeptiker und Impfgegner, sowie medizinisch nicht „Impfbare“ machen unter der erwachsenen Bevölkerung also nur etwa 20% aus. Von den besonders vulnerablen über 60-Jährigen sind vielleicht 85% geimpft. Das Verhältnis der Geimpften zu den Nichtgeimpften beträgt in dieser Spital-trächtig relevanten Gruppe also etwa 7:1. Würde die Impfung nicht funktionieren, lägen sechs oder sieben Geimpfte im Verhältnis zu einem Ungeimpften in den Intensivbetten. Das Verhältnis ist indessen ein genau inverses (nämlich rund 1:7)! Ein Ungeimpfter liegt damit mit einer Wahrscheinlichkeit von 7×7:1, also 49-mal eher in einem dieser Betten. 

Fazit: Die Impfung – ob man diese nun toll findet oder nicht – scheint im Moment zumindest zu funktionieren. Das würden wohl auch Impfgegner nicht abstreiten. Ausser vielleicht die Hardcore-Coronakritiker, die immer noch an eine Verschwörung glauben. Waldmeyer dachte gleich an Bettina Honegger, seine Nachbarin in Meisterschwanden (ja, Bill Gates, George Soros, 5G, Komplott der Pharmaindustrie, etc.).

So weit, so gut.

Waldmeyer überlegte noch, ob es bei diesen Zahlen vielleicht kantonale Unterschiede gibt. Beispielsweise bei den Korrelationen zwischen Gestorbenen und Intensivbetreuten, oder zwischen Hospitalisierten und dem Infektionsgeschehen. Aber tatsächlich sind zwischen den einzelnen Kantonen keine Unterschiede auszumachen – ausser die Zahlen könnten durch unterschiedliche gesundheitliche Voraussetzungen gestört werden: Ein Städter in Genf beispielsweise könnte über kein so starkes Immunsystem verfügen wie ein gestandener Treichler in Schwyz (was allerdings noch nicht nachgewiesen werden konnte). In der Tat wird die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisierung aufgrund einer Infektion in jedem Gebiet des Landes etwa gleich sein. Auch das Risiko, intensiv betreut zu werden. Und die Sterbewahrscheinlichkeit einer Person an der Beatmungsmaschine wird wohl ebenso in jedem Kanton identisch sein. Wir nehmen dabei grosszügigerweise an, dass das Spitalpersonal in Burgdorf den gleich guten Job macht wie in Zürich. Ausser in Appenzell Innerrhoden oder in Obwalden: Dort gibt es nämlich gar keine Intensivbetten. Und vielleicht ist es fraglich, ob die bescheidenen sechs Intensivbetten im Jura tatsächlich durch routiniertes Personal bedient werden können (nur schon die Beatmungsmaschine verfügt über ein mehrere hundert Seiten starkes Manual – und dies vielleicht nur auf Deutsch oder Englisch).

Trotz all dieser berechtigten Fragezeichen konnte Waldmeyer eine erste Schlussfolgerung ziehen: Je höher die Inzidenz, desto mehr Hospitalisierungen – und desto mehr Intensivbetreute pro Kanton (in Relation zur Bevölkerung natürlich). Leider auch desto mehr Tote. Dieses Fazit war vielleicht gar nicht so überraschend; Waldmeyer war indessen froh, den Gedankenstrang für sich selbst nochmals so sauber aufzeigen zu können.

Waldmeyer wähnte sich in einer weiteren Phase der absoluten Klarheit; dabei fiel ihm noch etwas auf: Erstens ist bereits seit ein paar Monaten bekannt, dass SVP-Wähler eine tiefe Impfrate aufweisen. Zweitens weisen Kantone mit hoher Inzidenz einen überdurchschnittlichen Anteil an SVP-Wählern auf. Zufall? Beides wird zumindest durch mehrere Medienrecherchen belegt. Aber  noch niemand hat den brisanten Zusammenhang ausgesprochen: Kantone mit einer tiefen Impfrate verfügen über einen höheren SVP-Wähleranteil. Das ist doch ganz interessant, fand Waldmeyer, und er ahnte schon, was er als nächstes überlegen könnte.

In der Tat hatte er nun eine delikate Schlussfolgerung: Es liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr SVP-Wähler in diesen inkriminierten Betten als andere Wähler!

Waldmeyer orientierte sofort sein Frau: „Charlotte, wir sollten eine Befragung bei allen Intensivbetreuten machen und herausfinden, ob in diesen Betten vor allem SVP-Wähler liegen!“ Charlotte antwortete wie immer nicht, rollte aber immerhin mit den Augen.

Waldmeyer überlegte: Sollten SVP-Wähler nun zur Kasse gebeten werden? Sie belasten unser Gesundheitssystem offenbar mehr als „normale“ Wähler. Gerade die SVP schwingt sich doch gerne als Gegnerin von sozialen Ausgleichen auf und vertritt oft den Ansatz des Verursacherprinzips. Für viele Belange findet dies auch Waldmeyer ganz ok. Bei den Müllsäcken beispielsweise funktioniert dieses Prinzip sehr gut. Sollte nun jedem SVP-Wähler vielleicht 50 Stutz oder so bei der Krankenkassenprämie draufgeschlagen werden…? Einfach im Sinne des Verursacherprinzips?

Waldmeyer und das bizarre Übergangskonzept

Oder: Wie man den Dry January richtig plant

Die EU-Kommission möchte Atom- und Gaskraftwerke „übergangsweise“ als Grün einstufen. Waldmeyer überlegte, was auch er „übergangsweise“ aussetzen könnte.

Dass sich die EU, bewehrt mit ihrer germanischen Pfeilspitze, mit ihren unrealistischen Klimazielen schon seit geraumer Zeit hoffnungslos verrannt hatte, war Waldmeyer seit Monaten klar: Man kann nicht in wenigen Jahren schon auf Atom- und Kohlestrom verzichten, indem man Windräder baut und Solarpanels aufstellt – und gleichzeitig erst noch alles auf „Elektro“ umstellt. Die Krux liegt in der „Dunkelflaute“. Einerseits ist diese ganz einfach dem Zustand der Nacht geschuldet, während der bekanntlich keine Sonne scheint, andererseits zeitgleich aber auch kein Lüftchen weht. Wochenlang schlechtes, düsteres Wetter ist ebenso wenig hilfreich. Dann fehlt‘s ganz einfach an Stromproduktion. Vor allem im Winter.

Noch vor kurzem hatte die EU-Kommissionspräsidentin, die ehemalige Kinderärztin von der Leyen, den Green Dealfür ganz Europa verkündet, mit einer baldigen neutralen CO2-Bilanz. Offenbar hat sie nun jedoch den Winter entdeckt. Und die Nacht. Deshalb der Trick mit der raffinierten Umetikettierung: Atomstrom darf jetzt plötzlich Grün sein, zumindest vorübergehend, und Gas ebenso. Gas ist vermutlich ebenso CO2-frei – auch übergangsweise.

In der Schweiz haben wir allerdings das gleiche Problem: Wir haben den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen und dies ohne eine echte Energie-Alternative. Sonne und Wind reichen auch in der Schweiz nicht aus, im Winter importieren wir Strom schon heute bis zu 40%! Die Dunkelflaute wird´s auch bei uns geben. Wie das übergangsmässige Rezept von Simonetta Sommaruga wohl aussehen wird?

Natürlich könnten wir die Wasserkraft ausbauen. Waldmeyer schaute aus seiner Villa auf den Hallwilersee runter: Wenn man diesen mit Staumauern kräftig stauen würde, läge sein Haus sogar näher am See. Im Extremfall wäre gar ein Seeanstoss möglich. Vielleicht ein eigener Strandabschnitt. Charlotte würde sich um die Auswahl der Palmen kümmern.

Waldmeyer verwarf den Gedanken wieder und erinnerte sich an einen alternativen Vorschlag, den er früher schon präsentiert hatte: Man könnte das Wallis stauen. Etwa bei Martigny. Oder gar erst bei Monthey. Lonza, heute noch in Visp, müsste einzig ihre Impfstoff-Fabrik weiter ins Tal hinunter verlegen, und ein paar Walliser müssten etwas höher an den Hang rauf ziehen – mit dem künftigen Vorteil eines schönen Seeblickes allerdings. Auf den Fendant würden sie dann verzichten (die qualitativ eh mittelmässigen Rebstöcke würden natürlich dem Flutungsprozess zum Opfer fallen); sie würden aber zweimal täglich weiter ihre Aperitifzeiten präzise einhalten und sich einfach mit dem mediokren Chasselas aus der Waadt zuprosten.

Mit einem solchen gigantischen Walliser Speicherkraftwerk könnte auch die Schweiz spielend ihren Green Deal kriegen. Wir würden zudem, wie bis anhin, den dreckigen (wenn übergangsweise auch grünen) Atomstrom und den ebenso dreckigen überschüssigen Gasstrom importieren, um mit dieser Energie, auch wie bisher, Wasser in die Stauseen raufpumpen. Wir würden künftig also das Gleiche tun wie bis anhin, nur viel umfangreicher, nämlich im Rahmen eines grossen Geschäftsmodells. Das Wasser würden wir dem Genfersee entnehmen, das fällt nicht so ins Gewicht – zumal die Hälfte den Franzosen gehört. Anschliessend liessen wir, immer schön bedarfsgerecht, das Wasser aus dem grossen neuen Wallisersee wieder runter durch die Turbinen rauschen. So produzieren wir den günstigsten aller Ströme und könnten diesen in der Folge (gewaschen quasi) wieder an die Kinderärztin zurückschicken, welche in der Dunkelflaute hockt. Das Konzept ist ein typisch schweizerisches, denn es ist von Geschäftssinn geprägt und ein klassischer Kompromiss. Wir importieren den im Ausland punktuell zu viel produzierten Strom übrigens schon heute, oft gar zu Negativpreisen, verkaufen ihn dann aber zu Saupreisen zu Spitzenzeiten.

Das mit dem Strom ist nun eine Sache. Das mit den übergangsmässigen Ausnahmen eine andere. Waldmeyer überlegte sich, ob er nicht übergangsmässig auch etwas einführen könnte. Er könnte beispielsweise versuchen, übergangsmässig ein bisschen mehr Steuern zu sparen. Oder die verhasste Gartenarbeit, zulasten von Charlotte natürlich, übergangsmässig auszusetzen. Er beschloss, zumindest übergangsmässig, am Sonntagmorgen nun künftig doch wieder mit dem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) die Brötchen im Dorf unten zu holen. Und nicht mit dem langweiligen E-Bike – womöglich bei Wind und Wetter. Dies im Sinne der Nutzung einer raffinierten „Brückentechnologie“, so wie das jetzt auch die EU-Kommission mit einem semantischen Salto formuliert hatte.

Übergangsweise darf man offenbar vieles tun, da gilt der moralische (und auch logische) Kompass nicht mehr. „Übergangsweise“ ist einfach viel mehr erlaubt. Aber natürlich nur dann. Die Kinderärztin war in der Tat inspirierend, denn Waldmeyer schossen noch ein paar weitere unmoralische Dinge durch den Kopf, die er „vorübergehend“ tun könnte – verwarf diese allerdings wieder.

Waldmeyer hatte eine andere Idee: Eigentlich hatte er nämlich einen „Dry January“ geplant. Was nun folgte, war ein typischer Managemententscheid: Mit sofortiger Wirkung entschied Waldmeyer, diesen Dry January auszusetzen. Natürlich nur „übergangsweise“.

Waldmeyer wird überstimmt

An gewissen Zürcher Schulen sollen demnächst die Schüler bestimmen, welche Lehrer sie wollen. Waldmeyer vermutet, dass das nur der Anfang ist: Vielleicht handelt es sich hier nur um den Beginn eines Umsturzes. Passiert es nun also doch, dass demnächst alle Macht an das Volk geht?

Es könnte tatsächlich nur der Anfang sein. Die Signale sind klar. Denn es ist zum Beispiel nicht vorgesehen, dass auch die Lehrer ihre Schüler auswählen dürfen.

Waldmeyer beobachtet schon länger, wie gewisse Städte in der Schweiz langsam zu einem heiteren, egalisierenden und verkehrsfreien Kibbuz verkommen. Eigentum droht zusehends kollektiviert zu werden, und da und dort wird ein bedingungsloses Grundeinkommen angedacht. Es droht zudem Tempo 30, auch auf grossen Durchgangsachsen – und demzufolge ein Abwürgen des Individualverkehrs. Dafür sollen demnächst Lastenräder subventioniert werden (so die neue Idee des rot-grünen Zürcher Stadtrates). 

Und nun der neue Trick: Wird jetzt mittels einem Geheimplan, mit dem Feigenblatt basisdemokratischer Entwicklung (Beispiel: freie Lehrerauswahl), die Macht doch noch ganz ans Proletariat übertragen? So, wie es unsere kommunistischen Vordenker schon planten?

Das Zürcher Modell ist insofern reizvoll, als weitergedacht werden darf: Sollten nicht auch Mitarbeiter (ja, inklusive der Mitarbeiterinnen…) ihre Chefs oder gar die Besitzer eines Unternehmens auswählen? Unternehmertum würde dann endlich so richtig bottom-up entwickelt. Die guten Ideen entwickeln sich bekanntlich selten top-down, vor allem nicht in grossen Konzernen. Echte Innovationen, wenn nicht in einer Garage im Silicon Valley, entstehen nämlich meistens von unten. Also müsste künftig doch auch die Führung von unten her organisiert werden. Deutschland kennt seit langem schon die Vorstufe zu diesem Modell: Arbeitnehmer hocken in paritätischen Aufsichtsräten und schwatzen bei der Unternehmensstrategie mit (es ist die Umkehr beispielsweise von Elon Musk‘s Ansatz). Vielleicht sieht das Zürcher Modell nun eine weitere Eskalation vor? Aber man sollte nicht nur schwarzsehen, denn eventuell könnte dergestalt gar ein modernes, digitales Proletariat entstehen!?

Waldmeyer blickte von seinem Tablet auf und sah zu Charlotte rüber: „Nächstes Jahr werde ich mich als VR-Präsident in meiner Firma nicht von den Aktionären, sondern von den Mitarbeitern wählen lassen. Die sollen doch mal abstimmen!“

„Und wenn sie dich abwählen und einen andern einsetzen, was dann?“, warf Charlotte ein.

„Das wäre natürlich blöd. Dann müsste ich einfach zum alten Wahlsystem zurückgreifen, wir beide zusammen haben ja die Aktienmehrheit, die Belegschaft hat nur 20%.“

„Und was ist, wenn ich dann mit der Belegschaft stimme…?“, blitzte Charlotte zurück.

Waldmeyer schaute entgeistert.

Waldmeyer schlägt 4G vor

Es ging natürlich nicht um den Handyempfang, sondern um die „Gs“ betreffend Corona. 3G, 2G, 2G+, 1G. Costa Rica beispielsweise verordnete bereits 1G. Waldmeyer wusste, dass das bei uns (noch) nicht geht. Deshalb hatte er nun eine Schweizer Lösung parat: nämlich 4G!

Waldmeyer hatte sich heute nicht wie üblich in die Tagesschau eingeloggt, sondern schaute konzentriert ins Kaminfeuer. Er hielt auch nicht wie sonst ein Glas Terre Brune in der Hand, sondern ausnahmsweise ein grosses Glas Bourbon. Plötzlich entdeckte er, dass das Eis schon stark geschmolzen war. Er stellte das Glas ab, um eine weitere Erwärmung zu verhindern und den Schmelzvorgang zu verzögern. Ja, G wie Geschmolzen. Und der Whisky: G wie Gebrannt. Allerdings wird der amerikanische Bourbon nicht aus Getreide, sondern aus Mais Gewonnen. Aber jetzt Getrunken. Die Gs häufen sich, sinnierte Waldmeyer.

Rundherum experimentieren alle stark demokratisch geführten, aber gleichzeitig unter-geimpften Länder mit der Pandemiebekämpfung: Holland, Belgien, Deutschland, Österreich. Auch die Schweiz sucht händeringend nach Lösungen. Zu viele finden Impfen nämlich nicht lustig.

Jedes Land verfolgt allerdings eine andere Strategie. 3G, 2G, 1G, Impfpflicht, „Impfnachweispflicht“, Lockdowns, Masken, Ausgangssperren, etc. Da dieses schlaue Virus sich in jedem Land offenbar anders verhält, wird es logischerweise überall auch anders bekämpft.

Die Erde zählt 195 Staaten. Alle Länder haben inzwischen den Kampf gegen die Krise angetreten. Ausser Somalia beispielsweise. Sogar ursprünglich Corona-skeptisch und/oder impfskeptisch orientierte Länder haben erkannt, dass nur eine umfassende Durchimpfung aus dem Schlamassel führt. Sogar in Brasilien, angeführt von dem wirren Bolsenaro, wird die Bevölkerung nun im Schnellzugtempo durchgepikst. Eigenartig, dass in Mitteleuropa die Leute oft nicht gegen das Virus kämpfen, sondern gegen die Virus-Bekämpfung. 

Waldmeyer würde sich tendenziell als nicht ausgesprochen emotional bezeichnen. Eher als faktenbasierter Realo. Esoterik zum Beispiel versteht er nicht richtig. Andererseits ist er auch nicht blind wissenschaftsgläubig. Ja, er nimmt gerade gegenüber der Schulmedizin in gewissen Belangen eine ganz kritische Position ein. Allerdings ist er auch kein überzeugter Anhänger der Alternativmedizin. Trotzdem hatte er sich in der Not, um seinen Rücken zu kurieren, ein paar Akupunkturnadeln setzen lassen. Das war im Oktober 2008, kurz nach Lehman Brothers – Waldmeyer erinnerte sich genau. Überhaupt: TCM, Traditional Chinese Medicine, sollte man ernst nehmen.

„Diese Chinesen sollten wir nicht unterschätzen“, meldete Waldmeyer von seinem Eames Chair aus Richtung Charlotte. 

„Bitte beginn nicht wieder mit dem China Virus, Max!“, antwortete Charlotte binnen einer Millisekunde.

Waldmeyer schenkte sich etwas Bourbon nach und holte sich genau zwei neue Eiswürfel (drei halbe hatten im Glas überlebt). Er stellte das Glas behutsam auf das Sideboard, um nicht den gleichen Fehler von vorhin zu begehen. Es gab nämlich schon genügend G-Fehler in der Politik. Auch im Verhalten der Gesellschaft.

Nach 15 Minuten Reflexion hatte Waldmeyer die Lösung: „Heureka, ich hab’s: Wir führen 4G ein! Geimpft, Genesen, Getestet, Gecancelt! Gecancelt ist, wenn du dich quasi freiwillig vom Gesundheitswesen abmeldest. Dann musst du dich nicht impfen lassen. Du kriegst das Zertifikat, im Coronafall aber kein Intensivbett.“

Waldmeyer verfeinerte seinen Plan: Die Gecancelten, also die Gekündigten, könnten zwar hospitalisiert werden, müssten dann aber selbst dafür bezahlen. Ein Intensivbett allerdings wäre nicht mehr drin. In Singapur beispielsweise gilt diese Regel mit der Selbstbezahlung für Ungeimpfte bereits. Ein Prämiendiscount bei der Krankenkasse von 50 Stutz monatlich könnte das Konzept noch perfektionieren. Insbesondere die Leute im Toggenburg zum Beispiel, oder generell die Bevölkerung auf dem Land, könnte dieses Angebot attraktiv finden. Auch die mit den Treicheln, die alle über ein super Immunsystem verfügen, würden bestimmt sofort mitmachen.

„4G, das wäre die Lösung!“, rief Waldmeyer aus. 

„Und was wäre mit denen, die da nicht mitmachen…? Du kannst sie ja nicht zwingen zum Canceln“, warf Charlotte sofort ein, wie immer scharfsinnig,

Waldmeyer schaute in sein Whiskyglas und suchte nach weiteren G-Inspirationen. „Stimmt. Das wäre dann eben 5G: G für Gefängnis. Oder G für Gestorben.“

„Bitte, Max. Jetzt gehst du zu weit!“

Warum Waldmeyers Cousin das Sacher in Wien übernimmt

Österreich kämpft mit dem Umstand, dass das Land einst eine pompöse Grösse aufwies, heute aber nur eine mediokre Gegenwart zu bieten hat. Vielleicht ist es deshalb gut nachvollziehbar, dass der Staat durch die Pandemie-Krise irrlichtert und im Stundentakt neue Regeln erlässt. Bruno Spirig, Waldmeyers Cousin, ist das nur recht. Er hat nämlich einen Plan. Aber dazu später.

Was bisher geschah:

Waldmeyers Cousin Spirig war immer schon etwas windig. In den Neunziger Jahren musste er sich wegen irgendeiner dubiosen Geschichte nach Brasilien absetzen, und im Frühling 2020 erschlich er sich parallel gleich drei Coronakredite auf seinem konkursiten Take-away in Schwamendingen; er setzte sich in der Folge mitsamt der Kohle nach El Hierro ab. Er machte sich keine Sorgen, da Ueli der Maurer die Rückzahlungspflicht auf 2028 verlängert hatte. Bruno wähnte sich also in Sicherheit. Zu allem Übel war diese kleine Kanareninsel auch noch Waldmeyers Tipp zum Untertauchen: äusserst günstig, angenehmes Klima, weitgehend unbekannt, auch weit weg – und trotzdem in Europa. Bruno betätigte sich dort als erfolgreicher Immobilienmakler und sorgte mittels Multiplikator-Effekt somit für makroökonomische Fortschritte auf dem pittoresken Eiland. 

Bruno war jedoch umtriebig genug, parallel dazu kurz darauf eine kleine Restaurantkette in München zu kaufen. Ihm war nämlich nicht entgangen, dass der deutsche Staat die zwangs-geschlossenen Restaurants mit 75% des Vorjahres-Umsatzes entschädigte. Also nicht den Gewinn oder die Marge kompensierte, sondern tatsächlich den Umsatz. Waldmeyer erinnerte sich noch an Brunos Erklärung: „Die Idee mit den 75% kommt ja von diesem Scholz“, meinte Bruno Spirig, „der hoch-gemerkelte Sozi ist zwar Jurist, hat aber wohl noch nie eine Kalkulation einer Kneipe gesehen, he, he…!“. 

Aber nun sass Bruno wieder auf dieser verlorenen Mickey Mouse Insel, bis in die letzte Faser durchtränkt von Langeweile. Er wollte raus. Deshalb nahm er nun sogar mit Österreich Vorlieb. Das Angebot war schlicht und einfach zu verlockend.

Also nun zu Österreich. Während die Schweiz das hektische Tun in Sachen Pandemie rundherum im Ausland mit Neugierde beobachtet und vorab die Räume ein bisschen besser durchlüftet und de facto, mit PCR-Tests auch für Geimpfte und Genesene, die Grenzen verriegelt (um auch Omikron aufzuhalten), verhaspelt sich die Regierung in Österreich täglich in neuen Dekreten. Der neue Kurz, dieser Schallenberg, liess nichts anbrennen: Österreich verhängte stakkatomässig 2G-Regeln, Lockdown für Ungeimpfte, dann trotzdem Lockdown für alle, dann Impfpflicht. Alle warten nun auf neue lustige Entscheide. Österreich, dieses Rumpf-Imperium einstiger Grösse und Grandezza, ist wirklich nicht zu beneiden. Wie meinte doch kürzlich eine SPÖ-Protagonistin sehr treffend: „Wie viele Tote müssen denn noch sterben?“

Neukurz, also Schallenberg, Diplomat von Beruf und eigentlich Schweizer, bleibt nur noch für ein paar Tage Chef der kleinen Alpenrepublik. Er war dann wohl der kürzeste Kanzler Österreichs aller Zeiten. Allerdings kann er ebenso wenig rechnen wie Genosse Scholz. Bruno Spirig hatte das natürlich sofort erkannt und facetimete gleich mit Waldmeyer. Der Handy-Empfang mit den Kanaren war wie immer etwas schwach. Die Auflösung der Bilder leider auch. Waldmeyer glaubte im Hintergrund nämlich ein paar braungebrannte Schönheiten auszumachen, die sich auf Liegestühlen räkelten – er war sich aber nicht ganz sicher.

„Bruno, bist du auf El Hierro…?“

„Ja, aber nicht mehr lange. Scheisslangweilig hier! Ich fliege morgen nach Wien!“

„Kommst du denn da überhaupt noch rein…?“, fragte Waldmeyer entsetzt.

„Klar, ich habe zweimal Sputnik, zweimal Pfizer aus der Schweiz, und jetzt doppelt aufgeboostert in Spanien.“

„Was zum Teufel willst du jetzt in Wien? Die haben das ganze Land runtergefahren. Und auf den Strassen sind nur noch Demonstrationen erlaubt!!!“

„Umso besser! Aber keine Sorge. Schau mal: Ich werde rückwirkend zum Lockdowntermin das jetzt geschlossene Hotel Sacher mieten, gleich mit der ganzen Restauration. Für drei Monate, mit Verlängerungsoptionen bis zur achten Welle!“

Wieder einmal war Waldmeyer verblüfft. Dieser Bruno war schon umtriebig.

„Weisst du, ich habe während dem Lockdown ja gar keine Kosten, ausser dieser reduzierten Miete und einem Abo für die Kronen Zeitung. Da schenken 80% des 2019er-Umsatzes schono ein!“ Dann meinte er noch: „Dieser neue Kurz war vermutlich nur kurz in der Schule in der Schweiz, die Mathematikstunden hatte er dann leider in Österreich. Und der Neukurz II, dieser Kurzhammer, der jetzt dann kommt, war ja Berufssoldat und kann vielleicht auch nicht rechnen.“ Stimmt, zumindest Schallenberg erging es wohl wie Kim Jong-un, denn auch dieser musste seine Bildungskarriere in Bern abbrechen (und zurück nach Nordkorea). Die Zeit ist noch zu kurz, um die Rechenkünste von Neukurz II zu beurteilen. Das Resultat dürfte wohl für Spirig sprechen.

„Weisst du: Je länger der Lockdown, desto besser. Und zwischen den Lockdowns läuft auch nichts, aber die Staatshilfe läuft weiter“, erklärte Bruno weiter. Sein Geschäftsmodell war bedrückend einfach. Da soll noch einer sagen, diese Pandemie bringe nur Verlierer hervor. Volkswirtschaftlich gesehen war das auch nicht kriminell oder unethisch. Im Gegenteil: Dieser schon auf El Hierro greifende Multiplikatoreffekt war der beste Freund von Brunos Handlungen; wichtig ist, dass das Geld rasch zirkuliert.

Das Abo der Kronen Zeitung war Bruno Spirig übrigens wichtig, weil er nur auf die Headline wartete: „Schweizer Spirig übernimmt Sacher!“, mit dem Untertitel: „Vorbildliche Aktion mitten in der Pandemie.“ Waldmeyer erhob sich vom Sofa, öffnete die Fenster zum Lüften und schenkte sich noch etwas Terre Brune ein. Wieso hat nur immer sein Cousin die guten Geschäftsideen?

Waldmeyers Reisepläne

Oder: Dürfen wir überhaupt noch fliegen?

Waldmeyer versuchte, seine Gedanken in Sachen Energieverbrauch kurz zu synchronisieren. Er stellte einmal mehr fest, dass der Aspekt der Umweltverträglichkeit in Sachen Fliegen zu sehr verpolitisiert wird. Nun wird für ihn das Thema plötzlich hoch-aktuell, da Charlotte und er beschlossen hatten, nach einem optimalen zweiten Lebensmittelpunkt (einem „2.LMP“) Ausschau zu halten. Aber die Sache ist tricky.

Wenn der Ort für ein «Second Home» nämlich zu weit weg zu liegen käme, könnte der ganze Plan unweigerlich zu einem heiklen Umweltthema werden. Waldmeyer wollte sich deshalb Argumente für eine kluge Verteidigungs-Strategie zurechtlegen – denn auch ferne Ziele sollten noch erreicht werden können. Ohne schlechtes Gewissen.

Waldmeyer dachte in der Causa Fliegen nicht zuletzt an seine ältere Schwester Claudia (früh-pensionierte Lehrerin, Otelfingen, SP, Kurzhaarfrisur, lustige farbige Brille, impfkritisch, altes Nokia, fliegt nie). Wie sie wohl reagieren würde, wenn sich die Waldmeyers nun plötzlich zeitweise nach Miami, Dubai oder Bali absetzen würden?

Jeder Flug wird heute als Sündenfall dargestellt. Fakt ist aber, so hatte Waldmeyer recherchiert, dass die Luftfahrt nur für rund 2% des weltweiten CO2-Ausstosses verantwortlich ist. Und die weltweite Digitalisierung produziert aufgrund ihres hohen Stromverbrauches allein so viel CO2 wie der ganze Flugverkehr. Fräulein Thunberg, so Waldmeyers Gedanke, sollte also vielleicht ein bisschen weniger streamen und posten – obwohl er ihr zugutehalten musste, dass es in letzter Zeit angenehm ruhig wurde um sie.

Die USA, China und Indien sind die Hauptverantwortlichen für die weltweite Luftverdreckung – und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für den Klimawandel. Die hiesigen Emissionen dagegen sind Pipifax und völlig unerheblich. Da helfen auch ein paar zusätzliche Lastenräder nicht, die unsere Autos ersetzen sollen.

Echte Sündenfälle finden wir bereits in unserer europäischen Nachbarschaft. Da sind zum Beispiel die Kreuzfahrten und die grossen Frachter. Die dicken Dampfer verbrennen tatsächlich noch schmutzigstes Schweröl, mit einem Verdreckungsgrad, welcher pro Liter Treibstoff 1500-mal höher liegt als der eines modernen Dieselfahrzeuges. 

Ganz schlimm sind auch die polnischen oder die deutschen Kohlekraftwerke. Zum Beispiel Neurath, die grösste deutsche CO2-Schleuder: Sie stösst genau zehnmal mehr Schadstoffe aus als der gesamte Schweizer Luftverkehr – nämlich über 50 Millionen Tonnen pro Jahr. Und das sind die Vorpandemie-Zahlen von 2018 und 2019, als noch tüchtig geflogen wurde. Pikant dabei ist ebenso, dass auch die Schweiz einen Teil dieses Dreckstroms aus Deutschland bezieht (Anm. der Redaktion: Die Schweiz importiert im Winter rund 40% ihres gesamten Strombedarfs). Die kontaminierte elektrische Energie wird anschliessend hier in unser Netz eingespeist, und Claudia, Waldmeyers Schwester, verbraucht dann vermutlich genau diesen schmutzigen Strom mit ihrem E-Bike. Vermutlich wird der Saft indessen vorher noch „gewaschen“: In der Nacht bezieht Helvetien bekanntlich billigen Überstrom aus diesen Kohle-Dreckschleudern, pumpt damit Wasser wieder in die Stauseen hoch und produziert am Tag darauf sauberen Stauwasser-Strom. Spätestens dann kommt Claudias E-Bike in den Genuss dieser cleanen, weil „gewaschenen“ Energie. Claudia hat bei ihrem Stromanbieter – in einer kafkaesken Entscheidungsfindung sozusagen – «grünen» Strom abonniert und bezahlt deshalb gerne ein bisschen mehr. Die Axpo hat Freude, der CEO von Neurath wird sich totlachen, und die Polen klatschen sich auf die Schenkel.

Waldmeyer versuchte ein Fazit zu formulieren: Im Vergleich zum Strombezug aus einem schmutzigen Kraftwerk oder dem Verzehr eines brasilianischen Steaks könnte Fliegen vielleicht doch nur ein Gentleman‘s-Delikt sein!?

Waldmeyer amüsierte sich zudem über eine interessante wissenschaftliche Abhandlung: Sogar der Entscheid, Kinder zu kriegen ist letztlich ein CO2-Entscheid! Jeder zusätzliche Mensch auf der Erde wird unsere Ressourcen- und Klimaprobleme vergrössern. Fünf Flüge im Jahr zu einem etwas weiter entfernt liegenden zweiten Ort, so rechnete Waldmeyer, würden jährlich dreimal weniger CO2 verbrauchen als ein einzelnes Kind. Ohne die täglichen Fahrten des Zöglings zur Schule gerechnet, welche die Mutter am Zürichberg mit dem SUV zurücklegen würde. Es stünde also 1 Kind in Konkurrenz zu 3 zusätzlichen fernen Second Homes, die es mit je 5 Flügen jährlich zu erreichen gälte – total also 15 Flüge. Contra 1 Kind eben.

Aber sollten wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen und allenfalls dieses komische Lastenrad anschaffen? Nun, damit würden wir bestimmt einen Chinesen in Shanghai oder einen Inder in Mumbai beeindrucken. Letzterer müht sich übrigens mit einem Lastenrad ab und träumt von einem SUV.

Waldmeyer ist sich absolut bewusst, dass seine arithmetischen Gedankenspiele heikel sind. Auch liegen seine Kinderentscheide schon weit zurück. Und er weiss durchaus, dass gewisse CO2-Vergleiche mitunter politisch nicht korrekt sind. Aber so sind eben die Fakten. Er darf also seine nächsten Flüge beruhigt buchen und auch seine Suche in Sachen Second Home ohne schlechtes Gewissen fortsetzen.

Allerdings behält Waldmeyer alle diese Gedanken vorerst mal für sich. Vor allem wird er seiner Schwester Claudia nichts davon erzählen. Es sind alles nur Reserve-Argumente.

Max Waldmeyer fährt 2034 nach Zürich

Meisterschwanden, November 2034. „Halleluja, wir haben einen Slot!“, jubilierte Charlotte und schaute von ihrer Tablet-Folie auf. Auch Max war erleichtert, hatten sie doch seit über 14 Tagen auf diese Nachricht gewartet. Es war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, als Individuum einfach so mal nach Zürich reinzufahren. Und was einen dann in der Stadt selbst erwartete, war auch nicht lustig. Aber dazu später.

Einiges hatte sich gewandelt in den letzten Jahren, vor allem in den grossen Städten. Und vor allem in Zürich. Die meisten Strassen in der City waren nun Grünflächen. Auch Dachgärten mussten begrünt werden (und sie mussten für alle frei begehbar sein). Selbst Baucontainer mussten bepflanzt werden – wenn es auch nur sehr wenige waren, denn gebaut wurde eigentlich kaum mehr.

Die Grün-Grün-Rot-Rote-Alternative-Regierung hatte einiges erreicht. Auch in ihrer Zusammensetzung, mussten doch seit 2028 – per Gesetz – alle LBGTQ+ Ausprägungen bei der Regierungszusammensetzung berücksichtigt werden. Gleichzeitig wurden übrigens alle Strassennamen „feminisiert“. Nur noch die weibliche Form der Namen war erlaubt – eine weitere Errungenschaft der aufgeschlossenen neuen Politiker-Generation. Die Gärtnerstrasse hiess nun „Gärtnerinnenstrasse“. Das führte nicht zuletzt zu einigen Komplikationen bei Google Maps.

In der Stadt durfte man sich, wenn nicht zu Fuss oder mit dem Fahrrad, nur noch elektrisch fortbewegen. Oder mit negativem CO2-Wert. Verbrennerfahrzeuge durften also nur verkehren, wenn sie CO2 vernichteten – es mussten quasi rollende Bäume sein. Und weil es dies noch nicht gab, durften diese Autos ganz einfach nicht mehr bewegt werden. 

Waldmeyer freute sich trotzdem auf den Abstecher nach Zürich. Er hätte ab Meisterschwanden natürlich erst den Bus, anschliessend die Bahn wählen können. Als alternder Individualist hatte er jedoch Mühe mit dieser Option und zog es vor, lieber als Automobilist zu leiden. 

Der Slot hatte extra gekostet, also galt es nun, diesen sofort zu nutzen. Max und Charlotte enterten also sofort ihren neuen Genesis E-4-u (Anm. der Redaktion betreffend Aussprache: „i-for-you“) und setzten sich in die veganen Sitze (Anm. der Redaktion: Ledersitze waren seit einigen Jahren nicht mehr sozialverträglich).

Das mit dem autonomen Fahren funktionierte immer noch nicht. Und wenn, dann nur auf den grossen Hauptachsen und nicht, wenn Schnee auf der Strasse lag. Im Moment war Schneeregen angesagt. Waldmeyer freute sich, denn so durfte er sich selbst ans Steuer setzen.

Beim Stadteingang wurde die Geschwindigkeit des Genesis abrupt und automatisch auf 20 km/h reduziert. Das war ganz praktisch, so musste man nicht mehr auf das Einhalten der Maximalgeschwindigkeit achten.

Bereits 2022 hatte es mit einer 30 km/h Limite begonnen, ab 2030 waren es nur noch 20 km/h.  Mila Perica, die neue Stadtpräsidentin aus der LBGTQ-Fraktion (serbisch, eingebürgert, Queer, platinblondes Kurzhaar, ausgebildete Traumatherapeutin) sprach bereits von einer weiteren Reduktion zwecks Verkehrsberuhigung. 

Es gab nicht viel Verkehr auf der Strasse. Der Grund lag unter anderem auch in der neuen Besteuerung seit 2030. Die Idee des Eigenmietwertes wurde im Kanton Zürich nämlich auf Privatfahrzeuge ausgedehnt: Nun wurde auch der Besitz eines Verkehrsmittels (ab vier Rädern) extra besteuert.

Die Begründungen für die drastischen Verkehrsmassnahmen in der Stadt waren vielfältig. Ursprünglich ging es nur um die Reduktion des Verkehrsvolumens. Dann ums Klima. Mit den Elektrofahrzeugen sublimierte sich dieses Argument allerdings schon bald, zumindest vordergründig. Also ging es nur noch um den Lärm. Dieser letzte Ansatz war insofern besonders anspruchsvoll, als dass Elektrofahrzeuge den Lärmpegel in den Strassen bereits deutlich reduzierten. Nun waren sie indessen viel zu leise, sodass sie mit einem künstlichen erzeugten Lärm (oder Sound, auch Musik war erlaubt) versehen werden mussten, um von den Fussgängern nicht überhört zu werden. Waldmeyer hatte aus dem Sound-Generator, über den nun jedes Fahrzeug obligatorisch verfügen musste, „Highway to Hell“ von AC/DC gewählt, Charlotte programmierte jeweils „As slow as possible“ (es handelte sich um das langsamste Musikstück der Welt, von John Cage). 

Dass der Klimawandel ein globales und nicht ein lokales Phänomen ist, wurde von der Politik seit Jahren schlichtweg negiert. Mikro-Management war angesagt. Das Outsourcing von CO2 war jetzt – aus dieser verkürzten Sicht – insofern erfolgreich, als dass die Umweltverschmutzung und der Klimawandel nun zum grossen Teil im Ausland stattfanden. Gebaut und entsorgt wurden Autos und Batterien ja nicht im eigenen Land. Und auch ein grosser Teil der Energie, insbesondere im Winter, kam aus dem Ausland – oft aus CO2-Dreckschleudern wie Kohlekraftwerken, die mangels anderer Energieproduktion immer noch nicht abgestellt wurden. Die Luftsäule über der Schweiz (und insbesondere über vielen grossen Städten) blieb so selbstredend vollkommen rein!

Parkplätze gab es fast keine mehr in der Stadt, fast alle waren abgebaut worden. Oberirdisch wurden sie in Grünflächen konvertiert, die Parkhäuser indessen wurden seit Ende der 20er Jahre als Asylantenheime oder LGBTQ-Begegnungsstätten genutzt.

Max lud Charlotte also verbotenerweise an einer Bushaltestelle im Schneeregen ab und drehte ein paar Kurven, bis Charlotte mit offline Einkaufen fertig war. Der Schneeregen war übrigens eine glückliche Fügung, denn so konnte man sich einigermassen flüssig auf den schmalen Fahrspuren bewegen. Bei gutem Wetter waren diese nämlich meistens von Demonstrierenden und Sit-ins belegt, unter die sich auch regelmässig Exekutivpolitiker mischten. 

Nun gab es einen Fahrerwechsel: Jetzt durfte Max mal offline. Und nach zwei Stunden schlichen sie mit ihrem Langsamgefährt wieder aus der Stadt.

Unterwegs wurden sie erst von einem Pulk aus Lastenrädern überholt, dann noch von ein paar Joggern. Einer war besonders schnell – es musste sich wohl um einen Typen wie Kylian Mbappé handeln (französischer Fussballstürmer 2020/2021, welcher bis zu 35 km/h schnell sprinten konnte). 

Während der Heimfahrt kramte Charlotte an der Stadtgrenze ihre etwas zerknitterte Tablet-Folie aus der Handtasche und überprüfte die Abrechnung für das Roadpricing: CHF 27.50 für den Slot waren bereits direkt von Bankkonto abgebucht worden. Das war soweit ok, schliesslich hatten beide Geld gespart beim Einkaufen – beide hatten nämlich gar nichts gekauft. Charlotte hätte das Geschäft von Grieder so oder so nicht gut erreichen können, da die Magerwiese vor dem Lokal klitschnass war und sie ihre Sneakers aus Recyclingmaterial schonen wollte. Und Max hatte keine Lust, mit den sechs Flaschen Terre Brune in der Jutentasche durch die Stadt zu stapfen und dann irgendwo zu warten, bis die Schleifen ziehende Charlotte mit dem Genesis vorbeischlich – also hatte er den Wein stehen lassen.

„Offline ist für mich gestorben“, brüllte Max zu Charlotte rüber (er versuchte, das etwas zu laute „Highway to Hell“ zu übertönen). Beide beschlossen, ihre Sachen künftig nur noch online zu bestellen. Dann würde eben der schwere Transporter bei ihnen in Meisterschwanden vorfahren. Vielleicht mehr als einmal im Tag, denn Amazon, Alibaba, etc. kamen nach wie vor für jeden Artikel einzeln vorbei. Das war zumindest ganz abwechslungsreich.

Immerhin hatte man in Zürich nun den Klimawandel aufgehalten und die Stadt endlich beruhigt.

Waldmeyer und das saubere Wasser aus Italien

Max Waldmeyer erinnerte sich an seine Kindheitsurlaube in Italien. Seine Eltern bläuten ihm jeweils ein, nur nicht direkt vom Wasserhahn zu trinken.

Aber es waren nicht nur Waldmeyers kognitive Wahrnehmungen in Sachen sauberes Wasser in Italien. Die Sache ist komplizierter.

Waldmeyer erinnerte sich auch genau daran, dass während seinen Jugendjahren viele Strände Italiens aufgrund ihrer unsäglichen Verschmutzung mit einem Badeverbot belegt waren – was sich 1973 in Alassio leider erst vor Ort herausstellte und klein Max nicht ins Meer durfte.

Italien wird allerdings generell nie besonders mit „Sauberkeit“ oder mit „sauberem Wasser“ assoziiert. Umso merkwürdiger erschien es Waldmeyer, dass San Pellegrino und Panna auf allen Kontinenten erhältlich sind; es wird sogar in Glasflaschen überall hingekarrt oder hingeflogen. Dass ein Land mit schmutzigem Wasserimage weltweit sauberes Wasser verkaufen kann, grenzt also fast schon an ein biblisches Wunder.

Charlotte störte jedoch mehr der offensichtliche ökologische Sündenfall: «Schau mal, Max, Wasser um den Erdball zu transportieren, das geht doch nicht». Waldmeyer anerkannte diese Sinnlosigkeit ebenso, aber eben auch die bemerkenswerte Marketingleistung der Italiener! Unglaublich, was man mit der richtigen Kommunikation und intelligenter Unternehmensstrategie alles realisieren kann. Demgegenüber sind z.B. die wunderbar überteuerten Plastik-Täschchen von Louis Vuitton aus Frankreich nur eine Randerscheinung. Die Italiener sind schon clevere Kerle. Sie vermarkten nicht nur einen selten fahrtüchtigen Maserati oder einen technologisch eklatant rückständigen Cinquecento mit bemerkenswerter Brillanz, sie vermarkten eigentlich das ganze Belpaese hervorragend. „Italianità“ ist etwas Wunderbares, es blendet alles aus: die horrende Staatsverschuldung, die marode Infrastruktur, die Mafia, alles… 

Trotz seiner mangelnden humanistischen Bildung schlägt Waldmeyer gerne kulturelle Bögen. Immerhin weiss er so aus seiner Gymnasialzeit, dass im klassischen Theater der Höhepunkt am Ende des dritten Aktes stattfindet. Vielleicht, so seine Beobachtung, befindet sich Italien – rein politisch und gesellschaftlich – bereits im vierten Akt, ohne dass das dramatische Ende abzusehen wäre! Im Übrigen hat Waldmeyer begriffen, dass es einfach zur neuen italienischen Denkschule gehört, dass die Abfallberge in den Städten ab und zu brennen müssen und dass die grassierende Korruption in Politik und Wirtschaft ein natürlicher Teil der Gesellschaft ist. 

Gerade deshalb muss man den Italienern in Sachen Marketing einfach Bestnoten verleihen. Jeder Kommunikationsfachmann muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Wasser aus Italien…!

Charlotte hatte natürlich recht: Das mit den Glasflaschen um den Erdball ist sinnlos. Waldmeyer erinnerte Charlotte jedoch daran, dass die beiden Wassermarken seit Jahren Teil des Schweizer Nestlé-Konzerns sind und damit quasi hervorragende Schweizer Erzeugnisse. Die Marketingleistung gehört damit eigentlich uns. Ja, wer hat’s erfunden?

Max Waldmeyer studiert effizientere Gastronomie

Auf seinen vielen Explorationsreisen studiert Waldmeyer nicht nur Land und Leute, sondern immer auch die Gastronomie. So auch kürzlich in Lissabon. Die Küche Portugals hat bekanntlich keinen Blumentopf gewonnen; die Portugiesen können allerdings auch nichts dafür, denn wie sollten sie mediterran kochen, wenn sie gar nicht am Mittelmeer, sondern am rauen Atlantik leben. Waldmeyer berichtet heute von einem gastronomischen Schlüsselerlebnis.

Es muss wohl seltsame Gründe geben, warum in Portugal vor allem deftige Eintöpfe serviert werden. Waldmeyer kennt für solche Fälle jedoch ein Ausweichmanöver: Man muss sich einfach an die Früchte des Meeres halten – da kann weniger schiefgehen. So kam Waldmeyer im Juni 2021 auch zu einer einschneidenden Erfahrung im Restaurant Ramiro in Lissabon:

Also dieses Restaurant Ramiro ist ein angesagter und traditioneller Ort, bekannt insbesondere für seine frischen Fische, Muscheln und andere feinen Früchte des Meeres. 

Vergiss die Reservation: Telefonanrufe nimmt zwar ein wie ein Maschinengewehr artikulierender Portugiese entgegen, jedoch keinerlei Reservationen. Das Maschinengewehr empfiehlt dir, optional doch por favor eine E-mail zu schreiben. Diese E-Mail wird jedoch selbstredend nie ankommen oder nie beantwortet werden.


Max und Charlotte fuhren also besser gleich hin, schon frühzeitig. Dort standen bereits Einheimische und Touris Schlange, bis auf die Strasse hinaus. Irgendwann wies die schlecht angezogene deutsche Dame aus dem Ruhrgebiet, ebenso wartend, Waldmeyer an, er solle jetzt doch bitte eine Nummer ziehen zum Anstehen. Also zog Waldmeyer eine Nummer. Und nun das Geniale: Die Nummer wird nicht sequenziell vergeben. Das heisst, die vierstellige Zahl, 1892 im Falle Waldmeyers, hat nichts mit irgendeiner Abfolge zu tun. Man darf also warten und an der offenen Bar draussen erst einmal konsumieren und aufmerksam den Zahlen horchen. Diese werden in drei Sprachen per Zufallsgenerator mittels plärrendem Lautsprecher ausgerufen.

Dann, vielleicht zwei Cervejas später, so nach einer guten halben Stunde, wurde plötzlich „1892“ ausgerufen und die Waldmeyers durften ins Restaurant reinhetzen. Ein durchschwitzter Kellner mit glänzender schwarzer Sonntagshose prügelte sie in den dritten Stock. Dort wieselte und schrie es nur so rum. Sie wurden in einen der hässlichen Räume (Neonlicht) gescheucht. Glänzende Hose Nummer 2 machte auf Tempo: schnell, schnell den QR-Code einscannen für das Online-Menü. Die Hose gab ihnen gefühlt acht Sekunden Zeit, dann entriss sie Charlotte das Handy und bestellte mehr oder weniger für beide. Inzwischen lag schon das Knoblauchbrot auf dem Tisch (glänzende Hose Nummer 3), 30 Sekunden später bringt Hose Nummer 4 das Mineralwasser und tippt ungefragt eine Weinbestellung in sein speckiges Smartphone (eigentlich wollte Waldmeyer erst einmal nur die Weinkarte für die Wahl des „Vinho Tinto“ verlangen, wie er aus seiner Sicht akzentfrei kommunizierte). Es gibt allerdings nur ganze oder halbe Flaschen in dem Lokal, auch keine Auswahl, und so wuchtete glänzende Hose Nummer 5 beim Vorbeihetzen ungefragt eine Flasche auf den Tisch. Klar, «by the glass» wäre zu umständlich, der Aufwand zum Aus- und Nachschenken und das Management zum Verwalten der Flaschen wäre zu aufwendig. Jetzt war Waldmeyer doch langsam beeindruckt. An Effizienz fehlte es hier offenbar nicht.

Zwei Minuten später, Waldmeyers hatten kaum das Knoblauchbrot runtergewürgt, waren bereits alle Gerichte auf dem Tisch. Es gab nur Meeresfrüchte, keine blöden Beilagen oder Vorspeisen. 15 Gerichte standen zur Auswahl – fertig. Von Muscheln über Langusten bis zu einer knappen, aber ganz gelungenen Fischauswahl. Max und Charlotte hatten vier Positionen bestellt. „Bei 15 Gerichten gibt es beim vierten Besuch dann wieder das Gleiche“, rechnete Waldmeyer scharf vor. 

Nebenan waren die Japaner schon fertig, es waren ja bereits 25 Minuten verstrichen. Der Tisch konnte neu besetzt werden, die nächsten Gäste wurden reingeprügelt: Es waren Einheimische, offenbar Stammgäste, denn sie bestellen noch beim Hinsetzen, und nach 30 Sekunden standen auch wieder die Getränke auf dem Tisch. Die Bestellung hatte glänzende Hose Nummer 2 vorher bereits nach hinten geschrien. Nach zwei Minuten wurde gegessen.

Waldmeyers Fazit: Das Essen war gut im Ramiro, wenn auch nicht hervorragend. Einfach frisch und gut. Die Muscheln waren sogar sehr gut. Die Hosen rannten immer noch weiter um die Waldmeyers rum, begannen unverzüglich mit dem Abtragen und verbreiteten weiter Krisenstimmung.
Waldmeyer schätzte, dass die Tische mindestens zehnmal pro Tag verkauft werden. Es gibt etwa je fünf büroartige Räume (mit scheusslichem Dekor) auf drei Stockwerken, rund zehn glänzende Hosen pro Stockwerk. Charlotte unterbrach Waldmeyer beim Rechnen, sodass er den Jahresumsatz und die Rentabilität nicht abschliessend eruieren konnte. 

Indem Waldmeyer von den leckeren Muscheln nachbestellt hatte, konnte er seinen Besuch etwas in die Länge ziehen (48 Minuten Aufenthaltszeit total). Allerdings war er in der Folge dermassen erschöpft, dass er froh war, dieses Tollhaus raschmöglichst verlassen zu können. Beim Rausgehen erwischte er den falschen Ausgang und konnte plötzlich in die Küche reinspähen: eine ganze Brigade! Aber nur Chinesen, die durcheinanderwuselten und sich Befehle zuschrien.

Waldmeyer war mehr als beeindruckt. Aber das alles war auch ein Rätsel. Denn die Portugiesen sind ja betont introvertiert, schwermütig und bedächtig – wenn nicht langsam. Sie hören Fado und denken dabei (vermutlich) an Selbstmord. Effizienz und Geschwindigkeit sind ihnen fremd. Wie ist es möglich, dass so etwas gerade hier – in Lissabon – funktioniert…? Merkwürdig. Und warum war das Lokal immer voll?

Waldmeyer überlegte sich, was man daraus lernen könnte. Was er gesehen hatte, war nicht Fast Food. Es war auch kein normales Spezialitätenrestaurant. Es war ein Hybrid. Efficient Food? Auf jeden Fall sehr erfolgreich – und ökonomisch wohl besser als die Staatsdefizite, die Portugal jedes Jahr produziert.

Waldmeyer überlegte weiter, wie lange es jeweils ging, bis er in der Kronenhalle in Zürich die Menükarte erhielt, wann er endlich bestellen konnte, wann und wie denn der komplizierte „Wagen“ vorbeigeschoben wurde mit dem nicht immer saftigen Kalbsbraten. Ob man hier vielleicht auch etwas nachhelfen sollte? Leider konnte er darüber nicht mehr mit dem 2005 verstorbenen Gustav Zumsteg sprechen, heute gehört das Restaurant einer Stiftung.

Auf der Heimfahrt in dem verlotterten Taxi meinte Waldmeyer zu Charlotte: „Ich werde nächste Woche mit dem Stiftungsrat der Kronenhalle zusammensitzen“. „Bitte nicht, Max!“, stöhnte Charlotte.

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