Waldmeyer und die kulturelle Aneignung

Eigentlich hatte sich Waldmeyer vorgenommen, sich nicht auch noch in die Dreadlock-Affäre einzumischen und Fragen der kulturellen Aneignung zu stellen. Aber das ganze Thema ist einfach zu absurd, zu schön und zu verlockend, um es links liegen zu lassen.

Die Vorgeschichte ist uns sattsam bekannt: Lokale in Bern und Zürich veranstalten Konzerte mit weissen Reggae-Musikern, welche – wie entsetzlich – Dreadlocks tragen. Gäste fühlen sich ob dieser infamen kulturellen Aneignung „unwohl“, und die Musiker werden ausgeladen. Internationale Medien liessen es sich nicht nehmen, das absurde Thema aufzugreifen. Fortsetzung folgt.

Seltsam auch, dass gerade solche Lokale sich aus dem Kulturtopf staatlicher Subventionen bedienen, grosszügig alimentiert durch grüne und linke Exekutivpolitiker. Und ob all der tatsächlichen Probleme, wie Energiesicherung, Klimaveränderung oder Krieg in Europa kommen nun nicht nur staatstragende Fragen wie die umsichtige und 15 Jahre dauernde Auswahl eines neuen Kampfjets hinzu. Nein, jetzt geht es ans Eingemachte, nämlich generell um die wichtige soziokulturelle Frage, was wir künftig dürfen und was nicht.

Waldmeyer fragte sich, in einem lichten Moment, abends bei einem Glass Cognac, was denn reine Kultur ist. In Anlehnung an Nietzsche fast überlegte er, was wir denn kulturell durchgehen lassen sollten und was nicht. Natürlich gilt es, unsere eigene Kultur nicht zu fest zu durchmischen. Doch wenn die Kultur manchmal etwas arm ist, wie rein sollte sie denn wirklich bleiben? Heute ist es offenbar ein Gebot der Stunde, die Beimengung von additiver Kultur in homöapathisch richtigen Quantitäten – und ebenso rein – zu vollziehen. 

Vielleicht geht es ja nur um die kulturelle Selbstfindung von ein paar irrlichternden Aussenseitern? Waldmeyer nahm sich vor, bei einem weiteren Glass Cognac, das mal richtig durchzudenken.

Zum Beispiel: Würde es das Schweizer Kulturverständnis erlauben, mit Indianer-Schmuck die Zürcher Bahnhostrasse rauf- und runterzugehen? Waldmeyer meint: Ja, das sollte durchgehen. 

Dürfen wir Schweizer, mangels eigener bescheidener historischer Gastronomiekultur, eine Pizza essen? Champagner schlürfen? Oder an diesem Cognac nippen? Ja, das dürfen wir. Wo kämen wir denn sonst hin. Waldmeyer schenkte sich gleich noch etwas nach.

Aber darf man einen Bronzebuddha aus dem Thailandurlaub mitbringen? Und zuhause ins Buffet stellen? Nun, das geht durchaus. Aber wenn man es öffentlich tut, den Buddha auf die Bahnhofstrasse stellt und sich im Lotussitz davorsetzt und „Ohm“ brummelt? Grenzwertig. Es hängt wohl davon ab, ob bei Passanten dieses „Unwohlsein“ eintritt.

Darf man Yoga machen? Zuhause oder in geschlossenen Gebäuden: Ja, das geht.

Darf eine Simbabwerin beim Klavierspiel auf Mozart zurückgreifen? Aus europäischer Sicht ja. Aus lokaler afrikanischer Sicht eventuell nicht.

Durfte Hermann Hesse sich anmassen, „Siddharta“ zu schreiben? Oder erübrigt sich die delikate Frage, weil das Buch eh niemand verstand und somit keinen Schaden anrichtete?

Ist es vielleicht so, dass wir zurzeit kulturelle Vermischung mit kultureller Aneignung verwechseln? Aber wer verwechselt dies? Die linksalternativen Veranstalter der Reggae-Partys? Die Gäste? Oder nur die Medien?

Berechtigte Fragen häufen sich. Amerikanisches Junkfood zu konsumieren: Darf man? Ja, weil dieser Verzehr keinen kulturellen Vorgang darstellt, sondern Unkultur ist. Dann darf man. Man sollte vielleicht nicht – aber, weil es kein originärer “kultureller” Diebstahl ist, ist es (leider) erlaubt.

Damit kristallisierte sich für Waldmeyer bereits eine Lösung heraus: Vielleicht geht es um die Definition von „Kultur“? Wenn es „echte“ und wertvolle Kultur ist, darf man nicht, bei mangelnder Kultur darf man – zumindest aus einer soziokulturellen Perspektive. Nur: Sind Dreadlocks „wertvoll“, kulturell gesehen? Waldmeyer begriff indessen den Umstand, dass diese verfilzten Locken an sich nicht von kulturellem Belang sind, sondern nur eine Ausprägung der wertvollen jamaikanischen und erst noch schwarzen Reggaekultur. Und dann darf man offenbar nicht. Es scheint also darum zu gehen, diesen schmalen Grat zu erkennen, der die Kultur von der Nicht-Kultur trennt.

Waldmeyer fiel kürzlich auf, dass in Spanien Raclette-Käse verkauft wird. Raclette ist selbstredend ein Schweizer Kulturgut. Aber die Verkäufe sind ökonomisch wichtig, also wird dieser Export toleriert. Dass ein Spanier dann, am Ende der Lieferkette, ein Raclette verdrückt, muss hingenommen werden – ansonsten müsste man legal differenzieren zwischen Handel und Konsum, wie bei den Drogen. Oder beim Alkohol (da darf man unter 18 nicht kaufen, sich besaufen ist jedoch ok).

Deshalb das vernichtende Raclette-Fazit: Das mit dem schmalen Grat der Kulturdefinition führt leider auch nicht weiter. Der Beweis dafür, so fiel Waldmeyer jetzt erst auf, ist das Indianerkostüm: Ein Indianeroutfit kann sehr wohl eine wertvolle kulturelle Ausprägung sein, man denke nur an den schönen Federschmuck und an den kunstvoll geschnitzten Griff des Tomahawks. Also wäre das mit der Bahnhofstrasse trotz allem fragwürdig – weil kulturell. Jemand könnte sich „unwohl“ fühlen, z.B. gerade ein versprengter Juso, der sich im Quartier verirrt hat. 

Waldmeyer versuchte deshalb, ein weiteres Theorem zu formulieren: Wenn es keine Aneignung, sondern nur eine kulturelle Performance ist, könnte man vielleicht dürfen? Also wenn der Indianer auf der Bahnhofstrasse nur ein verkleideter Aargauer ist (mangels echtem Indianer) und er gleichzeitig noch eine Botschaft oder sonst etwas Kunstvolles produziert, so einen Regentanz, dann könnte man es doch durchgehen lassen! In der Filmindustrie sind ja auch allerlei lustige Verkleidungen erlaubt. Und genau hier unterscheidet sich eine solche Performance von Aneignung: Der weisse, Reggae spielende Dreadlockträger spielt nämlich keine Rolle. Er ist so und möchte so sein – eine durchaus ernste Angelegenheit. Dann wird, aus dieser reduzierten alternativen Perspektive eben, eine störende Aneignung vollzogen. 

Indessen muss der Grat, welcher das So-Tun und das So-Sein messerscharf trennt, genau erkannt werden: Das Blackening etwa, also das Schwärzen des Kopfes, müsste, als Performance, wohlüberlegt vorgenommen werden, um nicht missverstanden zu werden. Gerade in der Mohrenfrage verträgt es bekanntlich keinen Spass.

Vielleicht ist es so, reflektierte Waldmeyer weiter, dass man mangels eigener Kultur einfach etwas fremde beimischen muss, um überhaupt auf einen vernünftigen Kulturlevel zu kommen. Gerade wir Schweizer waren tatsächlich immer schon auf den Import von Kultur angewiesen. Einst ein einfaches Volk von Bauern und Söldnern, waren wir richtiggehend angewiesen auf kulturelle Aneignungen. Damit hatte Waldmeyer ein weiteres mögliches Theorem entdeckt: Bei eigenem Kulturmangel darf man durchaus!

„Charlotte, dürfte Serena Williams ihre langen schwarzen Haare blond färben?“, fragte Waldmeyer zu Charlotte rüber. „Das wäre natürlich auch eine kulturelle Aneignung“, überlegte Charlotte laut und messerscharf, „zumal sie eine öffentliche Person ist. Wenn man es ihr indessen verbieten würde, wäre es rassistisch.“ Jetzt fiel es Waldmeyer wie Schuppen von den Augen: Rassismus-Vergehen gelten offenbar nur für Weisse.

Waldmeyer und das Nichtstun

Beim Wein ist es vielleicht so wie in der Politik: Durch Nichtstun wird das Ganze nur besser. Waldmeyer überlegte deshalb, ob er nun den Terre Brune in seinem Keller etwas länger lagern sollte. Oder doch besser trinken, und dann neuen bestellen? Vielleicht gar keinen jungen Jahrgang kaufen, sondern gleich einen älteren?

Politiker zerschlagen oft weniger Geschirr, wenn sie nichts tun. Das entspricht in der Regel auch dem Krisenmodus im Bundesrat: Wenn’s brenzlig wird und Entscheidungen und Tempo angesagt sind, tut er oft erst mal nichts. Angela Merkel hatte diese Taktik besonders ausgefeilt: Sie strahlte immer Ruhe aus, formierte erst einmal ihre unsägliche Raute mit den Händen und sagte und tat dann … nichts.

Das muss nicht immer falsch sein, denn Nichtstun verhindert oft grössere Fehler als ein Tun auslösen könnte – weil das Tun dann eben unüberlegt und falsch ist. Fatal ist, wenn beides zusammenkommt: Einerseits grossflächiges Nichtstun, andererseits, bei den raren Entscheiden dann, ein falsches Tun.

Mutti Merkel war eigentlich die Inkarnation der unglücklichen Paarung von Nichtstun und falschem Tun, resümierte Waldmeyer. Jetzt sitzt sie stumm zu Hause, kocht allenfalls ihre berühmte Kartoffelsuppe und macht wieder … nichts. Ihre Nicht-Entscheide oder die falschen Entscheide ziehen sich, einer politischen Blutspur gleich, durch 16 fatale Regierungsjahre.

Eine pazifistisch verbrämte Haltung – vielleicht bedingt durch ihre DDR-Vergangenheit – führte erst einmal zu einer Verkümmerung der Bundeswehr. „Da gibt es heute nur noch Warmduscher mit kaputten Waffen“, dachte Waldmeyer laut. „Wenigstens haben die keine Homeoffice-RS“, warf Charlotte ein. Stimmt.

Aber zurück zu Merkel: Gleichzeitig mit ihrem Regierungsbeginn wurde mit dem Bau der Nordstream 1 begonnen, welche aus russischer Sicht die Umgehung der Ukraine zum Ziel hatte und die Abhängigkeit des europäischen Westens von den Ressourcen des verblassten Sowjetreiches beschleunigte. Und Putin frische Finanzmittel in seinen korrupten Staatshaushalt spülte.

2008, im gleichen Jahr, als Georgien von Russland überfallen wurde, stand auch die Aufnahme der Ukraine in die Nato zur Diskussion. Merkel hatte sie verhindert, sie hatte sich am stärksten dagegen gewehrt. Hier dürfen wir ihr allerdings keine Bösartigkeit unterstellen – es war schlichtweg Naivität und die panische Angst vor dem Groll Putins.

2014 war das Jahr der Annexion der Krim. Spätestens jetzt hätte man die Glocken läuten hören sollen. Und wieder war es unter anderem Merkel, welche die Weichen falsch stellte: Sanktionen gegen Russland waren nur Feigenblätter. Im gleichen Jahr wurde gar mit der Detailplanung von Nordstream 2 begonnen. Der Ukraine wurde nach dem Überfall auf die Krim nur mit Lippenbekenntnissen und Nichtstun geholfen – obwohl es, angesichts der Geschichte, gerade an der Bundesrepublik gewesen wäre, hier Farbe zu bekennen. 

2015 folgte dann „Wir schaffen das“. Angela trat mit ihrer vollkommen falschen Beurteilung der Flüchtlingssituation in eine fatale politische Falle. Die Diskussion um die Personenfreizügigkeit und die Flüchtlingspolitik waren es letztlich, welche den Brexit befeuerte und den Austritt der Briten verursachte – und damit Europa als Ganzes schwächte. Leider erneut Merkels Schuld. Oder zumindest ihre Mitschuld.

Inzwischen wurde in Deutschland ziemlich unbedacht die Energiewende mit einer radikalen Abkehr von der Atomenergie eingeleitet, worauf die Abhängigkeit von Russland als Energielieferant noch weiter stieg. Diese gipfelte am Schluss sogar in der Erfindung der „Brückentechnologie“, wonach Gas plötzlich, „vorübergehend“, als grüne Energie deklariert wurde. So wollte sich Deutschland schneller von Kohle- und Atomstrom entledigen. Doch auch hier nur, schon wieder, mittels einer Steigerung der Energieabhängigkeit von Russland. Auch unsere Konzertpianistin (Simonetta Sommaruga) sprang auf diesen Zug auf. Nun ist es merkwürdig still geworden um die geplanten grossen Gaskraftwerke.

Das mit dem Nichtstun, welches Schlimmeres verhindert, stimmt wohl eben doch nicht, reflektierte Waldmeyer. Er sass vor dem Kaminfeuer und schenkte sich nochmals ein Glas Terre Brune ein. Das Holz im Kamin knisterte angenehm; es handelte sich um die Überreste des alten Apfelbaums, den Waldmeyer im März 2014, kurz nach der Krim-Annexion, eigenhändig gefällt hatte. So ein Feuer ist eben „sustainable“, überlegte er. Wie der Terre Brune.

„Hätte die Merkel anders gehandelt, hätte dieser irre Putin die Ukraine vielleicht nicht angegriffen“, meldete Waldmeyer zu seiner Frau rüber. 

„Wir haben auch dem Nichtstun gefrönt, Max. Hätten wir in der Schweiz nicht 200 Milliarden von kleptokratischen russischen Oligarchen entgegengenommen und würden wir nicht einen Grossteil des korrupten russischen Rohstoffhandels unbehelligt über die Schweiz abwickeln, hätte Putin vielleicht gar nicht die Mittel erhalten, die Ukraine zu überfallen“, meinte Charlotte lakonisch. Sie nippte nun, entgegen ihren Gepflogenheiten, ebenso an einem Glas Terre Brune.

Wenn das so weitergeht, wird der Terre Brune eventuell knapp, vielleicht sollte er etwas mehr bestellen, schoss es Waldmeyer durch den Kopf. Verknappung der Ressourcen, Lieferkettenprobleme, nun auch in Meisterschwanden …? Andererseits: Vielleicht sollte man nicht auf zu hohem Niveau lamentieren. Und vielleicht hatte Charlotte ganz einfach recht: Die Schweiz hat mit Nichtstun ebenso beigetragen zu diesem geopolitischen Desaster.

Waldmeyer fasste wieder einmal einen klassischen Management-Entscheid. Ohne zu zögern, eben nicht wie ein Politiker: Er nahm sich dringend vor, morgen als erstes gleich Terre Brune nachzubestellen.           

Waldmeyer und die Modewörter

2018 waren es noch Genderbegriffe. Max Waldmeyer hatte sich schon damals in die Nesseln gesetzt, als er anlässlich eines Schulbesuches diesen Peter Holenstein (Laras Lehrer) als „Lehrerin“ ansprach. Es kam nicht gut an. 

Waldmeyer hatte schon immer Probleme mit den plötzlich aufkommenden neuen Begriffen. Doch alle Rechtfertigungen nützten nichts, damals, in der Causa Holenstein. Dabei hatte Waldmeyer es nur gut und genderfreundlich gemeint. Seine Tochter Lara hat ihm das bis heute nicht verziehen und rächt sich seither mit ihren Schreibweisen – mit Sternen, Unterstrichen oder diesen dämlichen Wortkombinationen mit „Innen“. Immerhin schaffte es Waldmeyer seither, solche unästhetischen Schreibweisen nie selbst zu verwenden und Zeitungsartikel, welche durchwegs nur die feminine Form verwenden (es gibt dann tatsächlich nur „Lehrerinnen“, vielleicht auch nur „Mörderinnen“) sofort wegzulegen.

„Ich kümmere mich jetzt mal um den Garten“, meldete Waldmeyer zu Charlotte rüber. Es war ein trüber Samstagmorgen. Gartenarbeit hat den Vorteil, dass man dabei gleichzeitig Gescheites reflektieren kann, freute sich Waldmeyer.

Also stapfte er in seinen Garten in Meisterschwanden und spann seine Gedanken weiter. In Sachen Modewörter eben. Vorletztes Jahr ärgerte er sich über das Wort „Gentrifizierung“. Keine Ausgabe der Tageszeitung, kein gescheiter Aufsatz ohne dieses Wort. Zu Beginn googelte Waldmeyer noch: Mit Gentrifizierung war der sozioökonomische Strukturwandel einer Stadt oder eines Stadtviertels aufgrund allerlei Einflüsse von aussen gemeint. Soho in London beispielsweise produzierte eine ganz angenehme Ausprägung von Gentrifizierung, zumindest für Aussenstehende. Barcelona ist ebenso ein Beispiel für diesen Wandel, die Stadt besteht heute allerdings nur noch aus Touristen, welche Airbnb-Wohnungen suchen; die Einheimischen finden das gar nicht lustig. Zürich-West ist eine weitere – geplante – Gentrifizierungs-Geschichte: Hier versucht die Stadtverwaltung mit allen Mitteln, das bünzlige Aussenquartier in einen hippen Stadtteil zu verwandeln. Was bis heute allerdings nur im Ansatz gelang.

Wenn dann selbst Schweizer Lokalblätter von Gentrifizierung, so beispielsweise einer Agglomeration im Aargau, sprechen, ist der Begriff endgültig durch. Es ist so wie mit der Börse: Wenn die Putzfrau mit Spekulieren beginnt und das Gespräch diesbezüglich mit dir sucht, ist die Sache vorbei – gleichentags noch solltest du in diesem Fall sofort alles verkaufen. Das Gleichnis diente Waldmeyer zur Illustration von Modewörtern: Wenn ein Begriff inflationär gebraucht wird, ist er eben verbraucht. Dessen Verwendung grenzt dann schon fast an Peinlichkeit. 

Das Unwort des Jahres 2021 war „Pushback“, 2020 war es „Corona-Diktatur“. Interessanter 2017: „Alternative Fakten“. Das war immerhin etwas wirklich Einnehmendes, ein richtig starkes Wort: alternative facts. Trump sei Dank. Es läutete ein Zeitalter ein, in dem Fakten sich neu verwischen dürfen: Ab diesem Moment durfte man die Wahrheit umkrempeln und deren neue Darstellung als das Richtige präsentieren. PR-mässig eine Sonderleistung, moralisch etwas vom Verwerflichsten, was die „Zivilisation“ in den letzten Jahrzenten hervorgebracht hat. Der russische Aussenminister Lawrow verdient diesbezüglich auch einen Kaktus.

Und jetzt geht es täglich um das „Narrativ“. Alles ist ein Narrativ. In jeder Talksendung, in jedem Artikel wird jetzt ein Narrativ besprochen. Früher gab es offenbar keine Narrative, jetzt laufend. Eigentlich ist der Begriff nichts anderes als eine Abwandlung von Trumps alternative facts: Narrative sind erzählende und sich festhaftende Darstellungen. Clichés, die sich durchgesetzt haben und auf denen aufgebaut wird. „Syrier integrieren sich nicht“, „Franzosen denken nur ans Essen“, „Spanier handeln im Sinne des mañana“. „Der Westen ist selbst schuld, dass die Russen die Ukraine attackiert haben – wegen der Osterweiterung der Nato nämlich“. Das ist zurzeit das beliebteste Narrativ. Es wird von Russland verbreitet und hat sich an vielen Orten festgesetzt. Oder zumindest unterschwellig als Erklärungsteil etabliert. Der rechte Flügel der SVP und andere Putinversteher haben dieses Narrativ übernommen.

Die Fakten sind indessen anders, betreffend der Osterweiterung. Deshalb ärgert sich Waldmeyer besonders über dieses blöde „Narrativ“. Hatte es kürzlich tatsächlich eine Osterweiterung gegeben? Nein! Dass Montenegro etwa, das Exjugoslawienland mit einer Armee von 1‘600 Mann (wohl etwa so viel wie die Feuerwehr in Zürich), vor ein paar Jahren der Nato beigetreten ist, kann beim besten Willen nicht als Osterweiterung taxiert werden – zumal Montenegro südlich liegt. Vor 18 Jahren sind u.a. die baltischen Staaten der Nato beigetreten, aus nackter Angst vor dem post-sowjetischen Imperialismus. Freiwillig. Was wäre wohl geschehen, wenn diese Staaten heute nicht in der Nato wären? Hätte sie sich Putin noch vor dem Frühstück einverleibt? Im Frühjahr 2008 wurden die Nato-Beitrittsgesuche der Ukraine und Georgiens abgelehnt (Deutschland und Frankreich legten ihr Veto ein). Ein paar Monate später wurde Georgien von Russland attackiert und die Gebiete Südossetien und Abchasien erobert – die bis heute unter russischer Kontrolle sind. 2014 war dann die Ukraine an der Reihe, die Krim und der Donbass wurden überfallen und ebenso dem Putin-Reich angehängt. Und 2022 ist nun die ganze Ukraine an der Reihe. So sieht eine Westerweiterung aus. Eine Osterweiterung der Nato fand, seit 2004, nie statt. Aber eben: das Narrativ … Das Narrativ definiert, dass der Westen eine aggressive Osterweiterung der Nato vornimmt – oder plant –, Russland deshalb verärgert ist und es somit Verständnis für seine imperiale Reaktion braucht. Der selbstverliebte Weltwoche-Verleger und SVP-Rechtsaussen Roger Köppel z.B. ist ein Russland-Versteher in diesem Sinne. Aber auch andere irrlichternde Protagonisten bedienen unablässig dieses Narrativ – in kompletter Ausblendung der Geschichte, bis zurück ins Zarenreich. Medwedew, einer der wichtigsten Adlaten Putins, formulierte es kürzlich kristallklar: Er wünschte sich ein „freies Eurasien von Wladiwostok bis Lissabon“. Russland war immer, ist es und wird es leider auf absehbare Zeit bleiben: imperial. „Osterweiterungen“, sofern es diese denn überhaupt gab, hatten überhaupt keinen Einfluss. Narrative halten sich eben, wenn sie geschickt lanciert werden.

2022 wäre „Zeitenwende“ als Unwort angebracht. Nur schon, weil es insbesondere deutsche Politiker dauernd verwenden, ohne auch die Massnahmen konsequent einzuleiten, die eine Zeitenwende verdient hätte. Immerhin wurde ein Tankbonus verteilt (Kosten: drei Milliarden Euro, mittels Giesskannenprinzip verteilt), um die Wende kurzfristig abzuwenden. 

Wie dem auch sei: Waldmeyer versuchte, sich wieder seinem Garten zuzuwenden. Das Stück Land, das er nun zusätzlich vom Nachbarn abkaufen konnte, wird sein Grundstück in Meisterschwanden schön abrunden. Er arbeitete persönlich an der nötigen Humus-Aufschüttung auf der Morgenseite seines Grundstückes, im Osten also. Eine schöne Aufgabe, so sah man auf jeden Fall nach ein paar Stunden einen Effekt – in der Firma war das eher selten. Und gleichzeitig konnte man Narrative analysieren.

„Bist du jetzt fertig mit der Aufschüttung?“, fragte Charlotte gegen Abend.

„Du meinst die „Osterweiterung …?“, fragte Waldmeyer zurück und erschrak. Hatte er jetzt soeben ein Narrativ bedient?

Waldmeyer und das Sondervermögen

Die deutsche Regierung bedient sich bei der Beschaffung von neuen Armeegerätschaften eines raffinierten Taschenspielertricks: Ausgaben sollen einfach als „Sondervermögen“ getarnt werden. Waldmeyer lernt daraus.

Die dringend nötige Ertüchtigung der heruntergekommenen Armee wird damit mittels Erfindung dieses „Sondervermögens“ finanztechnisch gar nichts kosten. Bundeskanzler Scholz, gelernter Verwaltungsjurist, hatte schon immer etwas Mühe mit der Buchhaltung. Jetzt wird seine ökonomische Unbedarftheit noch sekundiert von seinem Finanzminister. Laut Lindner erfolgt die Beschaffung der neuen Armeeausrüstung mittels eben diesem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro. Dies im Sinne einer „einmaligen Ausnahme, welche neben die Schuldenbremse gestellt wird“. Bei Waffen, Munition und anderen Armeeausrüstungen handelt es sich also allesamt und plötzlich nicht mehr um Aufwandposten, sondern um eine einzige grosse, immerwährende Investition.

Waldmeyer überlegte: Er könnte doch seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) auch nie abschreiben, sondern einfach zum ursprünglichen Investitionswert virtuell stehen lassen. Normalerweise müsste der Wagen, grosszügig gerechnet, in zehn Jahren auf null abgeschrieben werden. Waldmeyers Haushaltsbudget in Meisterschwanden müsste also pro Jahr mit rund CHF 10‘000 Amortisationskosten belastet werden (neben den nicht zu unterschätzenden Betriebskosten für den schweren Achtzylinder). Man könnte den Wagen einfach nie hergeben und ihn während einer unendlichen Zeit im Garten stehen lassen. For ever. Waldmeyer sah sofort ein, dass das ein schlechter Finanzplan wäre. Und das mit dem Garten ginge schon wegen Charlotte nicht.

Da macht es der Lindner schon gut: Er schreibt die neuen Geräte einfach nicht ab. Zumindest wird das so bleiben, so vermutet Waldmeyer, solange er in der Ampelregierung bleibt.

Zum Teil lässt sich das alles sogar ein bisschen erklären: Da rotten in Deutschland nämlich eingemottete Panzer aus den 70er Jahren vor sich hin, zählen aber immer noch zum Armeebestand. Man könnte also tatsächlich versucht sein, solche Geräte während 50 Jahren abzuschreiben, das entspräche einem Amortisationssatz von lächerlichen 2% pro Jahr! Waldmeyer könnte nur träumen von einem derart vergünstigten Porsche Cayenne.

Obwohl z.B. Uraltpanzer ausgemustert in teuren Armeehallen stehen, ist Waldmeyer nun klar, warum diese Geräte nur zögerlich an die Ukraine geliefert werden: Sie befinden sich nämlich noch mitten in einem Abschreibungszyklus, aus dem sie nicht herausgerissen werden können! Diese Gefährte tun also keinesfalls nichts – im Gegenteil: Ihre Funktion konzentriert sich, mit grosser Andacht, auf das einsame Amortisieren in diesen klimatisierten und von viel Personal unterhaltenen Hangars.

Immerhin werden diese alten Geparde, Marder, Haubitzen usw. in der Staats-Bilanz Deutschlands (vermutlich) ein klein bisschen abgeschrieben jedes Jahr. Dies im Vergleich zu den geplanten neuen Gerätschaften in dem Sondervermögen: Hier drückt sich die Ampel-Truppe um die Nennung eines Abschreibungssatzes; im Moment ist tatsächlich nichts vorgesehen. Der Linder, dieser brillante Finanzminister, ist schon ein cleverer Hund: Er kann Schulden fast zu Nullzinsen aufnehmen und wechselt sie dann in ein Sondervermögen um, dieses wiederum wird in Form von neuem Armeespielzeug angelegt – ohne Kosten, wohlverstanden! Frau Amherd sollte sich mal überlegen, ob wir unsere neuen Kampfjets nicht auch gratis bekommen könnten.

Waldmeyer studierte nun, wie er diesen raffinierten Beschaffungsansatz für sich selbst anwenden könnte. Das mit dem Porsche funktionierte offensichtlich nicht, seine kurze Halbwertszeit ist zu offensichtlich.

Vielleicht klappt es besser mit dem Weinkeller: Waldmeyer könnte zum Beispiel, als „Sondervermögen“, 2’000 Flaschen seines geliebten Terre Brunes einlagern. Oder, vielleicht noch nachhaltiger, einen schönen Bordeaux bunkern – so beispielsweise den Château Faugères. Der hält sich ziemlich lange. Beim derzeitigen Beschaffungswert entspräche diese Investition sogar weniger als einem neuen Porsche. Wenn man diesen guten Saint-Emilion dann gar nicht trinkt, sondern nur klug lagert, müsste er auch nicht abgeschrieben werden. 

Für diesen etwas unerfreulichen Plan, nämlich das Nicht-Trinken, hatte Waldmeyer rechnerisch bereits einen eleganten Ausweg gefunden: Wenn der eingelagerte Château Faugères nur schon 2.5% jährlich an Wert zulegen würde, könnte er jährlich 2.5% seines Weinbestandes konsumieren, ohne den Gesamtwert der gehorteten Flaschen zu verringern! Das entspräche immerhin einer Flasche pro Woche. Aber eben nur einer einzigen Flasche.

Das stimmte Waldmeyer nun doch etwas nachdenklich, und er meinte zu Charlotte: „Was der Lindner kann, können wir auch. Oder wir machen es sogar besser. Charlotte, sollten wir die Bestellung nicht etwas erhöhen?“

Waldmeyer untersucht bipolare Störungen

Oder: Aberwitzige Zahlen bei den BIPs – ein Beitrag nur für Zahlenfreunde …

Waldmeyer schickt gleich eine Warnung voraus: Seine Gedanken sind nichts für Leser, die keine Freude an Zahlen haben. In diesen Fällen also bitte auf keinen Fall weiterlesen! Waldmeyer wunderte sich nämlich über Verwerfungen der Bruttoinlandprodukte – da gibt es allerlei „BIPolare“ Störungen. 

Waldmeyer überlegte, ob die Schweiz nicht etwas expandieren sollte. Wir könnten eventuell sogar Russland überholen. Aber dazu später.

Waldmeyer ist ein bekennender «Rankaholic». So ist es ihm nicht entgangen, dass einzelne Staaten Wirtschaftsleistungen aufweisen, die ziemlich im Widerspruch zur allgemeinen Wahrnehmung stehen. 

Italien beispielsweise ist Weltmeister in der Disziplin „BIPStagnation“. Seit dem Jahr 2000 tritt der Belpaese mit rund 2‘000 Milliarden USD praktisch an Ort, Italiens Wirtschaftskraft entspricht heute gerade einmal der Börsenkapitalisierung von Microsoft – aber nicht mal derjenigen von Apple (rund 2’300 Mia USD)! Fairerweise müsste allerdings die Schattenwirtschaft in Italien dazugerechnet werden, denn in gewissen Regionen verbucht diese einen bemerkenswerten Anteil von 40% der gesamten Wirtschaftsleistung. Pro Kopf gemessen muss Italien, zumindest laut den offiziellen Daten, erst recht darben: Verglichen mit 2006 (also vor 16 Jahren), ging das reale BIP pro Kopf sogar zurück! 

Ebenso interessant findet Waldmeyer die relativen BIP-Grössen. Russland beispielsweise produziert tatsächlich weniger als Italien. Oder nur das Doppelte der Schweiz. Aber das flächenmässig grösste Land der Erde, dieser auf den Karten immer grün eingefärbte unförmige Riesenkoloss, exportiert nur Waffen, Wodka und etwas Rohstoffe. Im Dienstleistungsbereich sind es nur Hacker-Leistungen und Trolls. 

Im Vergleich zu Staaten haben es Firmen wesentlich einfacher, um zu wachsen: Sie übernehmen einfach andere Firmen. Die Firmen mit den grössten Börsenkapitalisierungen der Welt sind nämlich nicht nur durch inneres Wachstum gross geworden. Ausser Tesla vielleicht, die Firma hatte vor ein paar Monaten noch eine absurd hohe Börsenbewertung von schwindelerregenden 1´000 Mia USD erlangt. Dies entspricht den kumulierten Börsenbewertungen von sämtlichen deutschen Automobilherstellern, plus derjenigen von GM und Ford. Sogar Toyota müsste noch dazugezählt werden, um auf die irre Dollar-Billion zu kommen. Auf die jährlich produzierten Tesla-Fahrzeuge runtergebrochen entsprach diese wahnwitzige Marktkapitalisierung einem Wert von rund einer Millionen USD pro Fahrzeug. Bei VW sind es nur etwas mehr als USD 10‘000 pro Fahrzeug, also 100-mal weniger. Ob das mit den Plänen von Elon Musk zusammenhängt, den Mars zu bevölkern?

Aber zurück zu den „bipolaren“ Störungen bei den Staaten: Auch Staaten können natürlich expandieren, wenn sie mit der eigenen Leistung nicht richtig vorwärtskommen. So krallte sich Russland die Krim und versucht sich jetzt mit einer weiteren Expansion in der Ukraine. Die Krim-Annexion führte damals zu einem kleinen Schub in der lendenlahmen Bevölkerungsentwicklung (plus 2 Millionen Einwohner). Aber auch ein bisschen beim BIP (ca. plus 2 Mia USD). Dem BIP pro Kopf war damit jedoch nicht geholfen; dieses dümpelt immer noch bei bescheidenen USD 11‘000 p.a. rum – auf dem Niveau Malaysias etwa; künftig werden es, im Rahmen der konzertierten „Entglobalisierung“ Russlands wohl gar deutlich weniger sein. Besser zahlte sich der Schachzug mit der Krim-Annexion in Sachen Landmasse aus: plus 27‘000 km2! Womit wir, nur vergleichsweise, wieder bei der Schweiz landen (Deutschschweiz: ebenso rund 27‘000 km2). Die Einverleibung der Ukraine wäre da schon ein Quantensprung: Die Landmasse des verblichenen Sowjetstaates könnte sich um fast das Zweifache Deutschlands vergrössern, die Bevölkerung könnte mit einem Schlag um gut einen Viertel wachsen, das BIP aber leider nur um 7.5 Prozent. Das durchschnittliche BIP pro Kopf würde also runterrasseln. Nur schon aus diesem Blickwinkel wäre eine solche Expansion ein schlechter Plan. Das russische BIP ist absolut gesehen so oder so lächerlich, als Markt ist der grüne Koloss fast irrelevant – umso peinlicher erscheint damit das grössenwahnsinnige Gebaren dieses staatskapitalistischen Landes.

Da macht es China schon besser, vor allem mit seinem konstant hohen Entwicklungstempo; vielleicht schon ab 2030 könnte das BIP des Riesenreiches (wieso immer gelb eingezeichnet auf den Landkarten?) die USA überholen. Schneller ginge es noch mit einer bösartigen Einverleibung Taiwans. Taiwan allein bringt nämlich ein BIP von gut 600 Milliarden Dollar auf die Waage; das Überholmanöver könnte so also beschleunigt werden. Damit landen wir, wenn wir Taiwan mit der Schweiz vergleichen, wieder bei den eidgenössischen Zahlen (BIP Helvetiens: rund 750 Milliarden). Die Schweiz steht damit immerhin auf der aktuellen Bewertungshöhe von Tesla.

750 Milliarden USD beträgt auch das BIP der Türkei – ein Land, das notabene eine zehnmal grössere Population als die Eidgenossenschaft aufweist. Dafür hat Präsident Erdogan, wie Waldmeyer schon früher bemerkte, in Ankara in seinem Palast mehr Zimmer (es sind 1‘000), während sich unser Bundespräsident mit einem mittleren Büro in biederem Design begnügen muss.

Um es noch mehr zu verdeutlichen: Der Kanton Aargau hat ein höheres BIP als Tunesien, und Uri übertrifft Burundi, die Ukraine lag letztes Jahr wirtschaftlich lediglich auf dem Level des Kantons Zürich.

Was Waldmeyer nun anfangen könnte mit all diesen Informationen? Natürlich nichts. Aber man kann es immerhin weitergeben. „Vieles ist einfach relativ“, fasste Waldmeyer gegenüber Charlotte am anderen Ende des Tisches zusammen.

„Bist du wieder bei den Zahlen, Max?“

„Die Schweiz sollte auch expandieren“, antwortete Waldmeyer. Er verschonte Charlotte allerdings mit einer neuen detaillierten Überlegung: Sollten sich LiechtensteinÖsterreich, das Elsass, das Südtirol und weitere Filetstücke Oberitaliens – also die eher zivilisierten Gebiete unserer Nachbarn – zu einer potenten Alpenrepublik mit der Schweiz zusammenschliessen, so würde man gar das BIP dieses lächerlichen Russlands deutlich übertreffen. Und dies natürlich alles unter der Führung der Eidgenossen! Wir könnten auch noch Bayern in den Club einladen, welches fast so viel wie die Schweiz auf die Waage bringt – dann wären wir das endgültige Powerhouse in Europa. 

Ja, hätten wir das alles nur früher schon getan, hätte unser Winzer Guy Parmelin, 2021 noch Bundespräsident, während dem Genfer Gipfel endlich auf Augenhöhe mit Putin sprechen können! „Wir aben ein schöner développement in der BIP, Monsieur Président, es isch mehr als die Sovjet!

Und ja: Vielleicht läge dann für unsere Bundespräsidenten künftig auch ein etwas feudaleres Büro drin?

Waldmeyer rückt in die RS ein

Anfangs 2022 rückten die neuen Rekruten nur virtuell ein, denn es war Homeoffice angesagt. Kombattante Verteidigung lernt man nun also allein und von zuhause aus. Von diesem irren Vorgang war nun plötzlich auch Max Waldmeyer, Jahrgang 1966, betroffen!

Wie die Schweizer Armeeführung auf diese aberwitzige Idee kam, ist schleierhaft. Es gibt einfach Berufe und Vorgänge, die lassen sich schlecht von zuhause aus erledigen. Ein Coiffeur oder ein Metzger beispielsweise kann seinen Job einfach unmöglich im Homeoffice verrichten. Eigentlich wäre das auch bei einer Soldatenausbildung so: Da geht es, vor allem in den ersten Wochen, um Disziplin, Ordnung, kontrolliertes Verhalten. Führung muss gefühlt, Teambildung andererseits erlernt werden. Eine kafkaeske Vorstellung also, dass 20-jährige Boys das alles von zuhause aus selbst in sich reinprügeln. 

Hoffentlich erfährt das der Putin nie, dachte sich Waldmeyer, er würde einen Lachanfall kriegen ob dieser belustigenden Nachricht aus dem kleinen und fernen Helvetien. Und Waldmeyer überlegte noch: Ob die tapferen Ukrainer wohl auch im Homeoffice ausgebildet wurden? Oder gar die Navy Seals …?

Andererseits, so reflektierte Waldmeyer weiter, könnten wir dergestalt, auch längerfristig, viel Geld einsparen. Man könnte doch gleich auch die Wiederholungskurse künftig im Homeoffice absolvieren! Alles mit Distance Learning. Dazu braucht es nur diese gescheiten E-Learning-Programme der Armee. Bis jetzt liefen sie noch nicht so richtig, es gab zu viele Pannen. Aber binnen einem Jahr würde unsere digital gestählte Armeeführung das vielleicht hinkriegen. Allerdings bestünde vielleicht Gefahr, dass diverse Mütter eine Sammelklage gegen die Armee einreichen könnten (es ginge um eine Kompensation für die Landschäden, die die vielen Gefechtsparcours anrichten, die in den Gärten angelegt werden).

Überhaupt: Konflikte wie in der Ukraine liegen weit weg; ein richtiger Krieg in der Schweiz ist sehr unwahrscheinlich. Also könnte man doch die ganze Armee nur virtuell aufstellen. Auf jeden Fall liesse sich ein grosser Teil der fast 6 Milliarden Franken, die wir jährlich für die Armee ausgeben, hervorragend einsparen. Über 10 Jahre ergäbe sich ein Einsparungspotential von vielleicht 50 Milliarden – das entspräche rund der Hälfte der Schweizer Staatsverschuldung. Ab 2032 könnten wir dann auf Normalbetrieb umschalten und wieder klassisch Armee und somit auch RS spielen. Das Timing wäre ideal, denn dann wären vielleicht die neuen Flieger und die neue Luftabwehr eingetroffen – vorher könnten wir uns so oder so kaum verteidigen. Sofern diese Geräte unsere Viola tatsächlich bestellen darf. Waldmeyer fragte sich, ob er einfach Nachsicht üben sollte mit diesem Zeitlupen-Konzept. Wie meinte doch Korporal Mosimann, damals, 1986 in der RS: „Numme nid gsprängt!“

Nun also dieser RS-Marschbefehl für Noa. Waldmeyers Sohn hatte allerdings überhaupt keine Lust, in eine Homeoffice-RS einzurücken. Noa wollte noch dringend in die Stadt, hatte Diverses schon mit Bekime (seine albanische Freundin) geplant, und es befanden sich bereits verschiedene Partys – mit entsprechenden Erholungsphasen – in der Pipeline. Er wollte auch die Reifen an seinem alten BMW wechseln. Also schlichtweg keine Zeit. Noa provozierte Waldmeyer zudem mit der Idee, vorübergehend formell sein Geschlecht zu ändern – was jetzt bei den Behörden spielend leicht geht und ihn sofort von einer Armeepflicht befreien würde.

Das war zu viel für Waldmeyer. Und so geschah es, dass er sich tatsächlich erweichen liess: Rekrut Max Waldmeyer rückte an Noas Stelle in die RS ein! Das heisst, in diese Homeoffice-RS. Waldmeyer setzte noch als ultimative Bedingung durch, dass er dafür auch den Sold einstreichen durfte.

Noa machte also sein Ding, und Waldmeyer hockte sich an den PC mit den komischen Armee-Programmen. Vorher zog er noch seine alte Uniform an (obwohl sie etwas gar eng geworden war). Charlotte zuliebe liess er seine Armeewaffe im Schrank. Bei den Lernprogrammen war allerlei Lustiges dabei. So zum Beispiel ein Tutorial zum Kravattenbinden, eine Tetris-Anleitung zum Zerlegen und wieder Zusammensetzen von allerlei Waffen und Geräten. Waldmeyer frischte seine Kenntnisse im Erkennen von wichtigen Armeeabzeichen auf (Grad, Waffengattungen, etc.). Er legt auch einen ersten Marsch in seinen alten Militärschuhen im Garten zurück. Gekonnt scannte er den QR-Code für das Erlernen der Nationalhymne und lud die verschiedenen absolvierten Tests virtuos in die Militärwolke rauf. 

Charlotte wunderte sich, wieviel Knie- und Rumpfbeugen Waldmeyer plötzlich in seinem Büro machte. Auf die Frage, warum er dafür in seiner alten Uniform stecke, meinte Waldmeyer nur: «Manchmal darf man nicht den einfachsten Weg gehen.» Für den Moment reichte das, und Charlotte liess ihn kopfschüttelnd allein. 

Die Homeoffice-Periode verstrich im Nu. Nach deren Ablauf drückte allerdings die Frage, wie jetzt Noa – völlig unvorbereitet – physisch einrücken sollte. 

«Dad, du musst gehen! Ich hab diesen Scheiss überhaupt nicht intus.» Stimmt, Noa wäre der Situation gar nicht gewachsen – auch mental nicht. Es fehlte eindeutig die Disziplin, der Drill.

Waldmeyer stellte sich in der Folge vor, dass er tatsächlich einrücken würde. Mit Noas Dienstbüchlein und der zuvor im Zeughaus bezogenen Ausrüstung.

Aber was, wenn der Korporal ihn dann nach dem Jahrgang fragen würde? «Rekrut Waldmeyer: Mütze weg!». Waldmeyer stellte sich vor, dass er dann allerlei Begründungen parat haben müsste. Zum Beispiel: «Ich kann alles erklären!» oder «Es ist nicht so, wie es aussieht.» Oder ganz einfach die nackte Wahrheit: «Ich habe schon immer älter ausgesehen». Dann, als situative Vorbereitung, sollte der Korporal (vielleicht ein Soziologiestudent) etwas intellektueller rüberkommen: «Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nur ein Darwin’scher Querschläger».

Waldmeyer wusste nicht mehr, wie die Geschichte weiterging – oder besser: wie sie weitergegangen wäre. Auf jeden Fall wäre der Ausgang vermutlich nicht so spektakulär gewesen. Vielleicht hätte er einfach ein ÖV-Billett zweiter Klasse erhalten, Kaserne Bülach-Meisterschwanden einfach.

Oberleutnant a.D. Waldmeyer, immer lösungsorientiert, entschied sich anders: Er würde eine Home-Kaserne errichten und Noa armeetauglich machen! 

Charlotte schaute entsetzt aus ihrem Bürofenster in den Garten und sah Waldmeyer in Uniform und Stiefeln. Er hielt ein kleines rotes Buch in der Hand, und sie hörte ihn brüllen: «Noa, wir haben nun noch ein langes Wochenende vor uns. Zeit genug, um alles nachzuholen! Also, Rekrut Waldmeyer: Jetzt ist vorbei mit Digital. Beginnen Sie schon mal mit den Liegestützen. Ich bereite den Gefechtsparcours vor!»

Waldmeyer und Russland, im Juli 2032

Wir befinden uns bereits im Jahr 2032. Putin war nun etwas älter, genau 79 Jahre alt. Er stolperte mit seiner weissen Dishdasha über die spärlich begrünten Gehwege seiner Villa in Saudi-Arabien. Ja, seine Dishdasha, dieses weisse arabische Gewand, war etwas lang geschnitten. Putin schwitzte. 

Putins zweite Frau Alina Kabajewa hatte sich vorübergehend ihrer schwarzen Abaya entledigt und machte Aerobic-Übungen auf dem Rooftop des grosszügigen Anwesens. Auch sie hatte sich Riad nicht ausgesucht. Und auch sie war etwas älter geworden, aber sie hielt sich gut. Die ehemalige Kunstturnerin, vor zehn Jahren mit ihren zwei Kindern noch unter falschen Identitäten im Tessin, reiste bereits 2022 zurück nach Moskau. Moskau einfach, hiess das früher. Und dann ging es bald nach Riad.

Jetzt langweilte sich Putin zu Tode. Er befasste sich, zur Ablenkung, immer noch intensiv mit der russischen Geschichte; er träumte vom Zarenreich und litt unter dem Zusammenbruch der Sowjetunion – das war 1991. Wie hatte sein Adlat Medwedew doch 2022 noch referiert: Man bräuchte ein „vereintes Eurasien, von Wladiwostok bis Lissabon“.

A propos Medwedew: Putin überlegte, ob er gegen Abend zum Aperitif zu seinem Kollegen rübergehen sollte. Dieser lebte nun, ebenso im Exil, gleich nebenan; nur ein kleines Sandstück trennte die beiden Villen, es war ihnen jedoch erlaubt, dazwischen hin- und her zu stapfen – durch den heissen Sand. Medwedews Villa war allerdings bedeutend kleiner. 

„Wir könnten im August Putin und Medwedew besuchen“, meinte Waldmeyer zu Charlotte, „vielleicht kann man sie beobachten, wie sie in diesem Saunakäfig in Riad rauf- und runtertigern!“

„Vergiss es, Max, du wolltest doch die Alhambra buchen, Granada“, entgegnete Charlotte belustigt. Sie wusste genau, dass Max nie und nimmer zu den abstinenten Saudis reisen würde.

Lawrow, der perfide und raffinierte russische Aussenminister, Meister im Faktenverdrehen, hatte sich 2023 in Nordkorea verschanzt, ins letzte kommunistische und von der normalen Zivilisation abgekoppelte Land der Welt. Er erlag allerdings noch im selben Jahr einem Herzinfarkt. Man sollte sich über solche Vorkommnisse nicht freuen. Aber die ganze westliche Welt tat es. Es geschah ausgerechnet anlässlich einer kafkaesken nordkoreanischen Präsentation des Sieges Russlands über den Westen, obwohl es eine klare Niederlage war. Das Ende einer absurden Kriegsepisode war nun auch das Ende Lawrows. Seine Tochter, vor Jahren noch in London gesehen, Gucci-behängt, später aber sanktioniert und zurück im versehrten Moskau, lebt nun wieder in London. Sie wohnt jetzt in einer einfachen WG und studiert, immer noch im Jahr 2032, Ethnologie, finanziert von einem befreundeten Ex-Oligarchen.

Aber alles der Reihe nach. Was bisher geschah:

Russlands Überfall auf die Ukraine verlief bekanntlich nicht nach Plan. Der langwierige Stellungskrieg im Süden und Osten der Ukraine dauerte noch bis 2023. Der irre Kremlherr und seine Armee-Muppetshow boten alles auf, was es an Material und Reservisten aufzubieten gab. Vergeblich. 

Inzwischen zog sich auch die ökonomische Schlinge zu: Russland wurde regelrecht ent-globalisiert und vom ganzen Welthandel abgeschnitten. Die Gestelle in den Supermärkten blieben leer, auch die letzten westlichen Firmen hatten sich aus Russland zurückgezogen, und die erst zaghaft begonnene Digitalisierung des grossen Landes wurde rückabgewickelt.  Deutschland verzichtete inzwischen sogar auf Gaslieferungen. Alternativ musste der grüne Habeck zähneknirschend alle Braunkohlekraftwerke wieder anwerfen. Trotzdem waren unsere deutschen Nachbarn gezwungen, in jenem kalten Winter 2022/2023 tatsächlich einen zweiten – oder gar einen dritten – Pullover anzuziehen. Heizen war nur bis 16 Grad erlaubt. Der Vorteil der deutschen Verhaltenspsyche ist, dass diese sehr obrigkeitshörig ist. Deshalb hielten sich auch alle Deutschen an die Vorschriften.

In der Verzweiflung startete Putin einen kleinen provokativen Einmarsch von Transnistrien aus in die Moldau und feuerte seine letzten ballistischen Spielzeuge ab. Gleichzeitig schoss er von Kaliningrad aus eine „versehentliche“ Rakete nach Riga. Schon vorher war er – mit den letzten Bataillonen aus Sibirien – in Georgien einmarschiert. Damals hatte die Nato noch zugeschaut (Georgien liegt zu weit weg). Aber das mit der Riga-Rakete war nun zu viel: Die Nato veranstaltete eine „militärische Sonderoperation“ im Westen der Ukraine. Es war eine Friedensaktion und hatte nichts mit Krieg zu tun. Die schon halb verhungerten russischen Truppen glichen inzwischen einer Bourbaki-Armee, ergaben sich sofort und wurden erst mal ordentlich verpflegt. Die Ukrainer, inzwischen bestens gerüstet mit allerlei Kriegsspielzeug, deckten den Rest der feindlichen Truppen im Süden mit einem Bombenhagel ein, versenkten sämtliche russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer und konnten nur mit Mühe zurückgehalten werden, gleich auch noch weiter gegen Osten nach Russland vorzurücken.

Die russisch gesteuerten transnistrischen Truppen wurden kurzerhand von der rumänischen Armee mittels einer „Polizeiaktion“ zurückgedrängt. Die Nato zog es vor, sich hier nicht die Finger zu verbrennen. Es funktionierte; binnen 12 Stunden ergaben sich die erschöpften russischen Truppen mit ihren kaputten Geräten auch an dieser Front. Das Rote Kreuz zog gleich hinten nach, und die Schweiz schickte Lawinensuchhunde (die kann man nämlich auch bei eingestürzten Gebäuden gut einsetzen).

Inzwischen warfen die USA im Auftrag des Roten Kreuzes (im Rahmen einer 24-Stunden-Luftbrücke) über Moskau und St. Peterburg Hilfspakete ab; insbesondere die russischen Städter, welche über keine Dacia auf dem Land verfügten, verhungerten regelrecht.

Nun war die Maske Russlands endgültig ab. Die russische Armee, so hatte sich gezeigt, war seit Dezennien nur ein einziger Bluff gewesen, ein Sauhaufen von Analphabeten-Soldaten mit Uraltgeräten, kommandiert von versoffenen und korrupten alten Generälen. Das Autokratenreich hatte offenbar ein riesiges potemkinsches Fake-Dorf aufgebaut, das ausser Rohstoffen nichts produzieren und exportieren konnte. Inzwischen wurde auch die Ladaproduktion eingestellt. Nichts mehr wurde importiert, nichts ging mehr raus. Ausser die Rohstoffe. 

Jetzt war es für Putin an der Zeit, entweder zu kapitulieren, Zyankali zu schlucken oder zu fliehen. Er floh. Saudi-Arabien bot ihm Asyl. Der ganze Armeestab floh indessen nach Syrien; Präsident Assad zeigte sich grosszügig, denn endlich konnte er sich revanchieren, und dort ist es eh wärmer. Ärgerlich war nur, dass sich der ganze Armeeclan gleich an der schönen syrischen Mittelmeerküste festsetzte, in Tartus – dort unterhielt Putin bereits seit 2019 eine Luftwaffenbasis. Waldmeyer ist der Meinung, dass Syrien generell unterschätzt wird, verfügt das Land doch über rund 200 km Küste am Mittelmeer. Die Armeeschergen lebten dort nun in Saus und Braus, konnten sie doch Dutzende von Paletten mit USD mitnehmen. Die meisten russischen Köpfe des Geheimdienstes tauchten übrigens unter.

Und dann geschah es: Aus dem Kreml hörte man nichts. Tatsächlich war der Kreml nun führungslos und die Nato musste plötzlich mit unbekannten Köpfen verhandeln. Der inzwischen von FSB auf RSF (Russischer Staatsfreund) umbenannte Geheimdienst holte Nawalny aus dem Gulag zurück und versuchte, ihn als neuen Präsidenten zu installieren. Ein taktisch kluges Manöver, denn so konnte mit dem Westen wieder auf „normal“ geschaltet werden. Kriegsverbrechen wurden vordergründig untersucht, bis heute sitzen indessen nur ein paar subalterne Armeeangehörige in Den Haag und warten auf ihren Prozess. 

Nawalny sagte zu. Aber er hielt noch am selben Tag seiner Wahl in der provisorischen Duma eine vernichtende Rede gegen das neue Regime, welches offenbar ebenso korrupt war wie das alte, und er trat am gleichen Abend noch zurück. Nawalny lebt nun in Los Angeles und versucht, zusammen mit ein paar bekehrten Oligarchen, eine Exilregierung aufzubauen. Die Amerikaner helfen dabei.

Russland war am Boden. Es erfuhr den perfekten wirtschaftlichen Kollaps. Im Jahre 2032 war das grösste Land der Erde nur noch eine Tankstelle für China. Das lächerliche BIP Russlands betrug schon 2022 nur das Doppelte der Schweiz, halbierte sich indessen bis 2032, stabilisierte sich dann aber auf rund 800 Mia USD – knapp unterhalb des Niveaus der Schweiz.

Der militärisch, politisch und wirtschaftlich implodierte Unstaat war nun zu Reparationszahlungen an die Ukraine verpflichtet. Anstatt wie früher in die Privatkassen der Nomenklatur und der Oligarchen gingen nun genau 19 Cent pro Liter Öl, welches Russland exportierte, in den ukrainischen Aufbaufonds. Fürs Gas, das nun wieder vereinzelt in den Westen gepumpt wurde, gab es eine äquivalente Abgabe. Waldmeyer rechnete: Ein Barrel Öl hat 159 Liter, macht gut 3 USD Abgabe pro Barrel (der Marktpreis für das Barrel lag inzwischen bei rund 150 USD, die Abgabe war also verkraftbar). Dieser Fonds, eine Art Marschallplan, wurde übrigens von unserem ehemaligen Notenbankpräsidenten Philipp Hildebrand geleitet; gespeist wurde er ebenso von den konfiszierten Oligarchengeldern aus vielen westlichen Ländern. Auch die Schweiz kam nicht darum herum, die eingefrorenen 28.6 Mia USD einzuzahlen. Im Beirat des Aufbaufonds sassen auch Merkel und Scholz, dort gab es allerdings nichts zu entscheiden, was den beiden sehr entgegenkam. Selenski freute sich, es kamen so rasch Milliardenbeträge zusammen. Hildebrand zwar inzwischen sein bester Freund.

Selenski traute der Sache allerdings noch nicht ganz und hielt täglich immer noch engagierte Ansprachen in seinem olivgrünen Battle-Dress und weihte, am Laufband und immer telegen, Schulen, Spitäler und Einkaufszentren ein. Er prügelte die ukrainische Wirtschaft virtuos voran, das Land konnte sich binnen kurzem zu einem florierenden Industrievorhof Westeuropas entwickeln. Die Ukraine hatte kurz nach dem Krieg den Euro übernommen (ohne der EU beitreten zu können), was dem inzwischen assoziierten Land den Austausch von Waren und Dienstleistungen erheblich erleichterte. In Russland zirkulierte, pro memoria, ab 2023 praktisch nur noch der USD, der Rubel kannte einzig im Raum Wladiwostok noch eine gewisse Verbreitung.

Putins Privatinsel in Gelendschik am Schwarzen Meer – eine palastähnliche Festung, von gigantischem Ausmass und mit allem Luxus ausgestattet – wurde zur Touristenattraktion. Es war ein verzweifelter Versuch der neuen russischen Regierung, sich vom alten Regime zu distanzieren und gleichzeitig Devisen einzunehmen. TUI kaufte die Insel für einen unbekannten Milliardenbetrag und fliegt nun Tausende von neugierigen westlichen Urlaubern ein. Hier kann man bestaunen, was im Sozialismus alles möglich war. Eine erweiterte Tour, die man buchen kann, schliesst die Besichtigung des weltgrössten Panzerfriedhofs in der nahen Südukraine ein; für hartgesottene Touristen wird eine nochmals erweiterte Tour im zerbombten Mariupol angeboten. Hier können allerlei Rundfahrten gebucht werden; diese erfolgen auf erbeuteten russischen Schützenpanzern, gelenkt von begabten und bildhübschen ukrainischen Soldatinnen. 

Nun hatte Waldmeyer plötzlich einen Plan: „Charlotte, ich habe das mit der Alhambra überlegt, idealer im August wäre ein ganz anderer Ort. Lass uns doch nach Gelendschik ans Schwarze Meer gehen! Da gibt es ein interessantes erweitertes Programm.“

Jetzt fand es Charlotte nicht mehr lustig – denn Waldmeyer war es todernst.

Waldmeyer und die Geldvernichtung

Waldmeyer zündete sich eine Zigarre an. Er tat es mit einer Ein-Dollar-Note. Ja, wie im Film. Er dachte dabei an Geldvernichtung und versuchte eigentlich nur, endlich ein Gespräch diesbezüglich mit Charlotte einzuleiten – über Inflation, Misswirtschaft und vorsätzliche Geldvernichtung.

Waldmeyer hustete leicht. Eigentlich war er Nichtraucher. Also legte er die angerauchte Cohiba wieder auf die Seite.

Er dachte an seine Tochter Lara. Sie studiert seit Jahren Kunst, in Basel. Auch das war Geldvernichtung – diese monatlichen Überweisungen waren zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber leider ohne sichtbares Ziel. Es war ein wirtschaftlicher Schuss in den Ofen, und dies zu allem noch in Waldmeyers eigener, aber offenbar nicht mehr kontrollierbaren, ganz persönlichen Mikroökonomie. Oder besser «Nanoökonomie». Ein «nanoökonomischer Gau», reflektierte Waldmeyer.

Waldmeyer ist ein bekennender «Rankaholic». Deshalb interessiert ihn auch Geldvernichtung in der Makroökonomie – und zwar im Rahmen der Fragestellung, welche Länder denn am besten und schnellsten Geld vernichten können. Meist hängt es zusammen mit der Vernichtung des Bruttoinlandproduktes: Wer fährt die Volkswirtschaft am schnellsten runter? Wer schafft es, rekordhohe Inflationsraten zu produzieren? Wer – meist gleichzeitig – schafft es, den Wert der Landeswährung raschmöglichst zu pulverisieren? 

Venezuela ist zwar das Land mit den grössten Erdölreserven der Welt, schaffte es aber, in rund zehn Jahren das BIP um 90% zu verringern. Heute fristet der kümmerliche Staat ein Entwicklungsland-Dasein; seine Wirtschaftsleistung übersteigt kaum jene des Kantons Aargau (40 Mia). Besser sieht es mit der Inflation aus: Die genialen Wirtschaftsführer Chavez und später Maduro hatten es geschafft, eine rekordverdächtige Inflation von mehreren 1‘000 Prozent hinzulegen. Der venezolanische Bolivar wird heute nicht mehr gezählt, sondern nur noch gewogen – schubkarrenweise.

Libanon ist ein zweites schönes Beispiel von gelebter Geldvernichtung. Das Land ist immer noch etwas kriegsversehrt, die iranisch kontrollierte Hizbullah hat den Süden des Landes übernommen, das Land besteht zu 30% aus syrischen Flüchtlingen, und Covid half auch nicht weiter. Dann kam noch diese merkwürdige Explosion im Hafen von Beirut hinzu. Der Strom geht aus, das Benzin, die Jobs, die Nahrungsmittel. Das Resultat: ein BIP-Rückgang allein im Jahr 2020 von fast 60%; von 53 Milliarden USD sauste die Wirtschaftsleistung der ehemaligen «Schweiz des Nahen Ostens» auf rund 20 Milliarden runter. Das entspricht, um den gleichen Vergleich nochmals zu strapazieren, nur noch der Hälfte des BIPs des Kantons Aargau. Das muss man erst mal hinkriegen! Und der Rückgang ist anhaltend, denn die Zahlen für 2021 sehen kaum besser aus (sie liegen noch nicht vor, und eventuell werden sie überhaupt nie vorliegen),  für 2022 wohl auch nicht. Vielleicht erfolgt einmal eine Landung auf dem BIP-Niveau von Appenzell Innerrhoden. Und das alles mit einer gewissen Vorsätzlichkeit.

Nummer drei ist, gemäss Waldmeyers Rangliste, Simbabwe, die einstige Kornkammer Afrikas. Präsident Mugabe «reformierte» sein Land zu Tode: Enteignungen, Misswirtschaft, Vetternwirtschaft – das ganze Repertoire von ökonomischen Fehlleistungen wurde abgerufen. Es folgte eine galoppierende Inflation, welche fast nur mit derjenigen des Dritten Reiches vergleichbar ist. Heute wird in USD bezahlt, die eigene Währung ist nicht mehr relevant.

Auch die Türkei ist ein schönes Beispiel für volkswirtschaftliche Fehlentscheide: Entgegen aller ökonomischen Regeln versucht Präsident Erdogan nun seit Jahren die Inflation statt mit steigenden, mit tiefen Zinsen zu bekämpfen. 730 Milliarden beträgt das BIP der Türkei nur, weniger als dasjenige der Schweiz. Die Türkei weist allerdings eine zehnmal grössere Population auf. Dafür hat Präsident Erdogan in Ankara in seinem Palast mehr Zimmer (es sind 1‘000), Bundesrat Cassis verfügt nur über ein bescheidenes, einzelnes Büro.

Der Niedergang der BIP-Entwicklung in der Ukraine verläuft zurzeit so dramatisch, dass er gar nicht messbar ist. Das grosse, aber arme Land litt schon immer unter einer bescheidenen Wirtschaftsleistung, jetzt sublimiert sich diese quasi. Ein paar Kabelbäume für die Automobilindustrie wurden früher exportiert, aber vor allem Getreide. Das Land hat das Drama zumindest nicht selbst verschuldet. Man kann ja nicht Krieg gegen einen Aggressor führen oder sich auf der Flucht befinden und gleichzeitig BIP produzieren.

Russland indessen ist selbst schuld, dass seine Wirtschaft jetzt runtergefahren wird. Die vom Westen verhängten Sanktionen und der damit einhergehenden «Entglobalisierung» und die hohen Kriegskosten drücken die Leistung der ganzen Volkswirtschaft nach unten, der Rubel trudelt. Dafür entwickelt sich die Inflation prächtig. Und das alles erfolgte plötzlich, von einem Tag auf den andern fast, dank diesem megalomanen Kriegstreiber im Kreml. Nicht nur Oligarchen, sondern auch mittelständische Russen und die Intelligenzia verlassen das Land. Ein Money-Drain plus ein Brain-Drain – und dies gleichzeitig. So was entsteht normalerweise nur, wenn ein Land selbst im Krieg steht. Ja, Russland ist zurzeit spitze im Runterfahren einer Volkswirtschaft. Vielleicht nicht absolut – aber mit Bestimmtheit in Sachen vorsätzlicher Vernichtung von Volksvermögen, Wirtschaftsleistung und Wert der Landeswährung. «Ja, selber tschuld», dachte Waldmeyer laut.

„Bist du wieder bei den Zahlen, Max?“, fragte Charlotte.

Max antwortete nur: «Und was ist jetzt mit Lara? Sie kann doch nicht ewig studieren. Es ist blanke Geldvernichtung.»

«Falsch», entgegnete Charlotte, «es ist eine Investition in die Zukunft. Sie wird einmal eine berühmte Professorin für moderne Geschichte, erhält eine sichere Beamtenanstellung und sorgt dann für dich! Das wird nämlich nötig sein, wenn du weiter Geld abfackelst.»

Für einmal war es Waldmeyer, welcher nicht antwortete. Er kramte eine zweite Dollarnote aus seinen alten Jeans und versuchte trotzig, die Cohiba wieder zum Brennen zu bringen.

Waldmeyer und die neue deutsche Regierung

Oder: Warum Waldmeyer doch lieber in der Schweiz bleibt

Waldmeyer reibt sich die Augen: Zwar blieb mit den Wahlen letzten Dezember in Deutschland das befürchtete Chaos aus, nämlich das Risiko einer Rot-Rot-Grünen Regierung. Aber die neue Ampel-Truppe ist doch sehr seltsam zusammengestellt und droht den Kompass zu verlieren. Waldmeyer versucht, etwas dahinterzublicken. 

Nun, was in Deutschland läuft, betrifft auch uns. Deshalb Waldmeyers Reflexionen. Vordergründig sah die neue Regierung fast wie ein Club von Handarbeitslehrerinnen aus. Natürlich, der Scholz und der Habeck fielen etwas auf, auch ein paar andere, weniger bekannte Herren. Waldmeyer interessierte sich indessen weniger für die ihm geläufigen Figuren. Spannender waren die nicht auffälligen Leute, diese neuen, von Normalität strotzenden Gesichter. Es waren meist Frauen. 

Da gibt es zum Beispiel die neue Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Ihr Look versprüht diese bekannte Aura einer Handarbeitslehrerin, aber sie hat immerhin ein Jurastudium absolviert. Ansonsten besticht sie mit kompletter Ahnungslosigkeit in Sachen Verteidigung. Weder hat sie sich je mit Armeefragen, geopolitischen Überlegungen oder Überfall-Schachzügen, noch mit Cyberrisiken oder mit akuten Spannungen und Bedrohungen auseinandergesetzt. Ihre Hilflosigkeit und Unbedarftheit sind zurzeit, angesichts des Ukraine-Dramas, mit Händen zu greifen. Sie ist hoffnungslos überfordert. Wie man in 90 Sekunden ein Sturmgewehr zerlegt, fuhr es Waldmeyer durch den Kopf, weiss Christine leider auch nicht. Waldmeyer zumindest wusste es. Leider findet die neue Verteidigungsministerin nur eine Rumpfarmee in desolatem Zustand vor. Da sind Flieger, die nicht fliegen, Panzer, die nicht einsatzfähig sind und Gewehre aus Eigenproduktion, deren Läufe nach ein paar Schüssen erschlaffen und nach unten hängen. Ihr Chef, der Scholz, versucht krampfhaft, auch diese zum Teil eingemotteten Uraltgeräte lieber eingemottet zu lassen, als sie an die Ukraine abzutreten. Christine hat zudem das Problem, dass sie gar nicht über richtige Soldaten verfügt, sondern nur über einen Haufen Warmduscher. Sie hat eine Armee, die schlichtweg nicht einsatzbereit ist. Aber das war eben, seit Jahrzehnten, Deutschlands Beitrag zur Friedensstiftung. Zudem könnte Lambrecht, das hatte ihr der Scholz gesteckt, in einem echten Krisenfall einfach die Nato rufen. Und die müssen dann kommen, ohne Wenn und Aber – da gibt es nämlich einen Vertrag. Zwar wurden nun locker 100 Milliarden für die Aufrüstung gesprochen. Aber leider dauert so eine Aufrüstung fünf bis zehn Jahre. Ob die Christine wohl weiss, wie man so was durchzieht …?

Nun, der neuen Ampelregierung war die Frauenquote wichtiger als Kompetenzen. Auf Teufel komm raus mussten Damen an die Spitze gehievt werden. Das Resultat liesse sich mit der Idee vergleichen, sofort 50% der Aldi-Kassiererinnen in ganz Deutschland durch Herren zu ersetzen. Ja, Putin hatte sich bestimmt köstlich amüsiert ob der Ernennung von Frau Lambrecht, und ob ihrer schlagenden Unbedarftheit klopft er sich noch heute täglich auf die Schenkel.

Eine schwierige Ausgangslage hat auch die neue Wohnbauministerin, Klara Geywitz. 400‘000 Wohnungen sollen nun bundesweit erstellt werden, davon gleich 100‘000 durch den Staat. Aber: wieso nicht gleich eine Million Wohnungen, und die Hälfte davon durch den Staat? Die Willkür der Zahlen ist mit Händen zu greifen. Vielleicht wird indessen auch Klara Geywitz unterschätzt, denn auch sie tarnt sich mit dem Look einer Handarbeitslehrerin. Sie wird es jedoch, trotz der raffinierten Fassade, schwer haben. Denn:  Welches Unternehmen wird sich an künftigen Bau-Investitionen die Finger verbrennen wollen? Der Staat allein kann nicht bauen, da braucht es Partner aus der Wirtschaft. Nun, künftig wird deshalb noch weniger gebaut werden, und es werden leider noch mehr Wohnungen fehlen. Waldmeyer fragte sich, wo denn künftig die vielen Ukrainer wohnen sollten. Die „Vergesellschaftung“ wird auf jeden Fall nicht stattfinden – weil niemand mitmacht. Die ganze Wohnbau-Übung wird zu einem sozialistisch verklärten, ineffizienten und dem Misserfolg verschriebenen staatskapitalistischen Akt. 

Waldmeyer interessierte sich wie gesagt etwas weniger für die neuen Regierungsdossiers der Herren. Dieser Lindnerzum Beispiel, oppositionsgestählt, wird es vielleicht richten. Eventuell. Er hatte sich mit Erfolg für einen Tankbonus für alle Bürger eingesetzt. Ein staatspolitischer Befreiungsschlag gegen die Energiepreis-Erhöhungen – Chapeau!

Also zurück zu den Damen: beispielsweise zu dem Glatteis-Amt für die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock. Sie stellte sich noch vor wenigen Monaten bei verschiedenen Nachbarländern vor und präsentierte ihre neue, naiv-pazifistisch verbrämte Aussenpolitik, welche tatsächlich den Schwerpunkt auf Klimapolitik legte. Was wohl – auch hier – Putin davon gehalten hatte? Oder der grosse gelbe Mann in Peking, Meister Xi Jinping? Annalena befindet sich zurzeit, angesichts der Ukraine-Krise, in einer neuen Lernphase, einem sehr strengen real time Assessment quasi. Fazit: Deutschland bleibt auch weiter ein ewiger blinder Passagier in der Geopolitik.

Wenig spannend fand Waldmeyer das Amt der Familienministerin – obwohl er ja nicht per se gegen Familien ist. Diese Anne Spiegel ist zwar eine strenge Feministin, sieht indessen ganz passabel aus – gar nicht wie eine Handarbeitslehrerin! Waldmeyer war etwas verunsichert, denn nun geriet sein Handarbeitslehrerinnen-Ansatz ins Wanken. Doch jetzt ist sie schon wieder weg, die Anne. Auch sie war heillos überfordert. Waldmeyer vermutete erst, dass der grüne Anton Hofreiter das Rennen in dem Personalersatz machen könnte. Er ist zwar ein Mann, trägt aber sehr lange Haare. Es kam anders: Lisa Paus rückt nach! Und nun die Überraschung, die keine ist: wieder eine Frau, und – vor allem – wieder eine mit Handarbeitslehrerinnen-Tarnung. Das ist zumindest konsequent.

Fast hätten wir sie vergessen: Da ist nämlich noch Nancy Faeser, die neue Bundesministerin für Inneres und Heimat. Sie versprüht allerdings eher die Aura einer gelangweilten Werkstattleiterin. Sie wirkt bereits sehr erschöpft. Nicht nur gelangweilt, sondern sie verkörpert sozusagen die Inkarnation der Langeweile. 

Der Fall Karl Lauterbach – und damit doch zurück zu den Herren – ist dennoch spannend: Der sicher kompetente und Corona-geprüfte, selbstverliebte Professor, jetzt Gesundheitsminister, mit dem gefärbten Haupthaar, hat bedauerlicherweise seine Publicity-Hoheit verloren. Zudem muss er jetzt 700 Mitarbeiter führen und ein Budget von 15 Mia Euro verwalten. Das geht offenbar nicht immer gut. Bekannt sein heisst nicht, dass man auch ein Ministerium managen kann. Waldmeyer wird das nun genau beobachten. Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang auch, dass unser helvetisches BAG horrende 630 Mitarbeiter auf der Payroll führt, also etwa gleich viel wie das zehnmal grössere Deutschland. Was die bei uns in der Schweiz wohl alle tun? Faxmaschinen unterhalten? Exceltabellen von Hand kopieren? Hoffentlich erfährt der Lauterbach nie, wieviel Leute wir beim BAG beschäftigen, sonst würde er sofort aufstocken wollen.

Waldmeyer wandte sich nun dem neuen deutschen Regierungsprogramm zu. Nun, bei allen guten Vorsätzen: Letztlich findet hier unverblümt viel Geldausgeben, auch Umverteilen statt, und zum Teil wird einer weltfremden, fast fundamentalistischen Umweltpolitik gefrönt. Trotz der Ukraine, welche nun ein schockierender Game-Changer darstellt. Die Staatswirtschaft wird in eine grosse Verschuldung getrieben. Das schwächt den Euro – und stärkt damit leider unseren Schweizer Franken. Der plötzlichen Inflation wird gleichzeitig, ganz beharrlich, nicht mit einer Erhöhung der Zinsen entgegengetreten. Es findet einfach weiter eine Schuldenaufnahme zu Nullzinsen und eine kafkaeske weitere Einvernahme der Gesellschaft durch den Staat statt, ungeachtet der volkswirtschaftlichen Auswirkungen. Waldmeyer ahnt es schon: Anstatt die schweren bürokratischen Mühlsteine abzuwerfen, wie von der neuen Regierung versprochen, werden nun wohl vermehrt staatliche Hindernisse, Regelungen und Bevormundungen aufgebaut. Das ist ein ganz normaler Vorgang in einem Staat, welcher für alles sorgen möchte. Ein solcher Prozess findet wie das Amen in der Kirche statt. Die Ausweitung des Staates kann man nicht mit einer Verschlankung paaren – das widerspricht sich per se, und das hat deshalb auch noch nie jemand geschafft. Auch der «Scholzomat»genannte Kanzler und der (an sich sehr sympathische) Jugendbuchautor und Vizekanzler Habeck werden das nicht schaffen.

Waldmeyer seufzte. Da gibt es eine neue, zum Teil sehr unbedarfte und quotengetriebene Regierung, welche Unmengen von Geld ausgibt, das sie gar nicht hat. Zu allem kommt jetzt noch hinzu, dass sie endgültig nur reagieren und nicht agieren kann: Die Ukrainekrise prügelt die Ampel-Crew vor sich her. So oder so: Alles wird mehr kosten als geplant. Also muss die Kohle irgendwann wieder eingetrieben werden. Durch Steuern natürlich. Waldmeyer ging es früher schon durch den Kopf: Wäre er jetzt nicht Max, sondern Axel Waldmeyer, also quasi sein eigener Klon in Deutschland, so würde er vielleicht aus Deutschland fliehen. 

„Sei froh, lebst du in der Schweiz, Max!“, las Charlotte seine bruchstückhaften lauten Nuscheleien. 

Stimmt! Doch lieber in der Schweiz. Da gibt es eine Regierung, die einer von Langsamkeit getriebenen Strategie gehorcht. Oder einfach nicht entscheidet. Aber gerade darin liegt vielleicht die wahre Grösse unserer Regierung: jeweils nicht zu entscheiden. Denn damit entscheidet man nicht falsch. Das hat auch viel mit dem Hintergrund der einzelnen Bundesräte zu tun: Da gibt es eher Juristen mit ziemlich schmalbrüstiger Vorgeschichte (so der kommunikationsstarke, aber entscheidungsschwache Berset oder die, dialektbedingt, immer etwas schwer verständliche Amherd. Auch vor unserer Konzertpianistin Simonetta müssen wir keine Angst haben, auch nicht vor dem netten Arzt Ignazio aus dem Tessin. Parmelin, als ehemaliger Winzer, bringt eine unbedenkliche Bodenständigkeit in den Club. Und von Frau Keller-Suter, früher Dolmetscherin, hört man seit ihrer Wahl angenehmerweise sehr wenig. Auch Ueli der Maurer stört eigentlich nicht. Als ehemaliger Buchhalter beim Volg kann er vermutlich – im Unterschied zu Genosse Scholz – immerhin Soll von Haben unterscheiden. Ja, eigentlich ein ganz langweiliger, aber patenter Verein hier, verglichen mit dieser zum Teil naiven und verträumten Truppe in unserem Nachbarland!

“Ich glaube, wir bleiben doch hier”, entfuhr es Waldmeyer. Charlotte antwortete, wie immer, nicht.

Waldmeyer und die Russen

Oder: Die russische Durchmarsch-Achse in die Schweiz

Krieg in Europa? Die jüngsten Entwicklungen lassen ein bisher unvorstellbares Szenario plötzlich als Tatsache erscheinen. Waldmeyer überlegte, was er tun würde, wenn sich das ganze Drama noch ausweiten würde. Aber dazu später.

Vorab malte er sich aus, wie ein russisches Drehbuch für einen weiteren Einmarsch Richtung Westen aussehen könnte. Waldmeyer studierte Google Maps: Unter der Annahme, dass die Ukraine doch noch komplett eingenommen würde, stünde Putin bereits an der ungarischen Grenze. Viktor Orban, ein grosser Putin-Verehrer, würde die Russen vielleicht willkommen heissen; Ungarn würde also fallen. Weiter westlich dann liegt bereits Österreich – aber dieses Rumpfimperium einstiger Grösse und Grandezza verfügt heute nur noch über eine kümmerliche Armee. Die Österreicher sind zudem nicht in der Nato; diese würde also nicht eingreifen. Putin würde folglich auch hier gleich durchmarschieren – falls das überhaupt nötig wäre. Denn er könnte alternativ direkt von Lwiw aus in der Ukraine (dem schönen alten Lemberg Österreich-Ungarns) Hyperschall-Raketen über 1‘500 km abschiessen, also locker beispielsweise bis nach Meisterschwanden.

Die mit hoher Wahrscheinlichkeit einfachste und logischste Einmarschachse der Russen ist somit klar: Ukraine – Ungarn – Österreich – Schweiz. Damit stünde der wahnsinnig gewordene Kremlherr im Herzen Europas, an den Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Italien. Und Liechtenstein. Aber vor allem stünde er nun erst mal im Vorarlberg. Ein Szenario, das Waldmeyer bereits vor bald 40 Jahren in der Rekrutenschule als Übungsanlage vorgesetzt bekam: „Feind Rot überquert den Rhein“. Die Welt hat sich inzwischen also, kriegstechnologisch, doch nicht weiterentwickelt?

Bis zu diesem Zeitpunkt, dem abgeschlossenen Aufmarsch nach Vorarlberg, könnten wir in der Tat gar nichts tun. Das verbietet uns die Neutralität. Oder sollten wir schon vorher, vielleicht heute schon, den Ukrainern helfen, damit die Russen nicht näher an uns ranrücken? Die Deutschen z.B. hatten sich ja offiziell mit der Ukraine solidarisch erklärt und schon frühzeitig 5‘000 Helme geschickt. Sie versprechen auch heute noch täglich neue Waffen, vielleicht liefern sie tatsächlich noch welche.

Aber zurück zu Waldmeyers Szenario: Was ist, wenn Putin nun in der Tat im Vorarlberg lauert, wie die Katze vor dem Mauseloch und nur darauf wartet, dass die Schweiz etwas tut? „Ruki wwerch!“ hatte Waldmeyer einst bei der Armee gelernt (ja, so lautet „Hände hoch!“ auf Russisch). Eine allerdings wenig hilfreiche Kenntnis in einem solchen Fall.

Würde Frau Amherd in dieser doch etwas brenzligen Situation unsere alten Flieger volltanken lassen? Gäbe es eine Mobilmachung? Diese würde allerdings zu spät erfolgen, denn der Bundesrat würde zuerst eine 14-tägige Vernehmlassung bei den Kantonen durchführen. Während dieser Reflexionsphase hätten die Russen allerdings mittels Cyberangriffen schon längst unsere Stromversorgung lahmgelegt. Der Bundesrat müsste in der Folge eine Doppelkrise bewältigen: Frau Amherd müsste sich um die Flieger kümmern, und Frau Sommaruga, unsere ausgebildete Konzertpianistin, müsste den Blackout managen. Unsere Soldaten wären, bedauerlicherweise, zudem nur bedingt kampftauglich, denn einen Teil der Rekrutenschule hatten sie, wie wir wissen, im Homeoffice absolviert. Und die Nato dürfte uns auch nicht helfen, da die Schweiz a) nicht Clubmitglied ist und b) wir eh neutral bleiben wollen. Im zweiten Weltkrieg hatte der Trick mit der Neutralität doch wunderbar funktioniert – also vielleicht auch heute …?

Doch Waldmeyer wäre nicht Waldmeyer, wenn er für diesen Fall (Russe in Vorarlberg) nicht einen Plan B hätte. Es sollte ein ganz persönlicher Plan B werden. Angesichts einer gewissen Vorlaufzeit (die Anfahrtstrecke durch Ungarn und Österreich darf trotz allem nicht unterschätzt werden), könnte Waldmeyer in Ruhe seinen Fluchtplan aktivieren. Er würde nämlich mit seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), beladen mit ein paar Benzinkanistern und anderen nützlichen Dingen direkt nach Rotterdam fahren; dort würde dann die zeitnahe Verschiffung nach Kanada erfolgen. Ja, genau Kanada, weil Kanada erstens genügend weit weg liegt und zweitens, weil Kanada trotzdem etwas europäisch ist. Zumindest europäischer als die USA. Ausserdem würde in den USA die Tachoanzeige seines Fahrzeuges nicht stimmen, rechnen die Amis doch noch in Meilen, Kanada hingegen in Kilometer. Kommt hinzu, dass bereits 40‘000 Auslandschweizer in Kanada leben. Und pro memoria: Erst 1957 hatte der Schweizer Bundesrat konkrete Notfallpläne und Staatsverträge entwickelt, in einem Krisenfall den Sitz von Schweizer Firmen kurzerhand nach Kanada zu verlegen.

Charlotte meinte zu dem Vorarlberg-Szenario nur: „Wir sollten es gar nicht so weit kommen lassen. Wir sollten besser schon heute den Ukrainern richtig helfen. Nicht nur hier bei uns, mit den Flüchtlingen, sondern auch vor Ort!“

Also doch. Charlotte hatte recht, reflektierte Waldmeyer. Die Deutschen gingen wirklich schon früh mit einem guten Beispiel voran, vor allem mit diesen Helmen. Die Schweiz ist allerdings neutral, wir dürfen nichts tun. Wir könnten jedoch den Ukrainern zumindest etwas Neutrales schicken, nicht nur Decken und Medikamente, sondern echte Verteidigungshilfe. Allerdings liegen da nicht einmal „Dual-Use-Güter“ drin, z.B. Pilatus Porter oder Notstrom-Generatoren (zumal letztere Sommaruga selber brauchen würde). Dual-Use-Güter sind bekanntlich Geräte und Produkte, die einerseits zivil verwendet, andererseits auch militärisch „missbraucht“ werden könnten. So wurde kürzlich der Vorschlag, Schutzwesten zu schicken, bereits abgelehnt, denn diese könnten auch einen ukrainischen Soldaten schützen. Es bleiben somit nur wenige Hilfsmaterialien übrig, welche unseren Neutralitätsansprüchen gerecht würden. Selbst ein altes Zelt könnte missbraucht werden, weil hier nicht nur Flüchtlinge, sondern auch ukrainische Kampftruppen reinhocken könnten. Auch ein ebenso altes Funkgerät läge nicht drin, da damit die Übermittlung von Guerillaplänen erfolgen könnte.

„Charlotte, wir sollten vielleicht 100’000 Gamellen schicken. Die haben wir eh bis heute noch nie gebraucht!“

Charlotte antwortete nicht. Sie schaute gebannt auf ihren PC. Waldmeyer blickte ihr über die Schulter und war entsetzt: Kanada!

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