Waldmeyer und die Umkleidekabine

Waldmeyer las mit einiger Faszination von der „virtuellen Umkleidekabine“ der Onlineshops. Mit genauen Angaben von Body-Massen und Fotos wird eine persönliche Database erstellt, welche zur besseren Treffsicherheit der Grössenbestellungen führtAber die Sache hat einen Haken.

Eigentlich eine ganz patente Sache, so eine virtuelle Anprobe. Bisher bestellte Charlotte einfach immer drei verschiedene Grössen für Schuhe oder Kleider; die unpassenden wurden dann kurzerhand retourniert. Kein Wunder, verzeichnen Onlineshops zum Teil Retourenquoten von weit über 50%. Das geht insbesondere bei den Schweizer Kunden und Firmen tüchtig ins Geld, weil wir hierzulande, in dem Ministaat Helvetien, aus unerklärlichen Gründen die welthöchsten Versandkosten haben.

Mit dem soll nun Schluss sein: Die virtuelle Umkleidekabine kann dem Käufer zuhause auf dem Bildschirm aufzeigen, ob die (meist unnützen) Sachen auch passen – und gefallen.

Waldmeyer gönnte sich früher, mit der gleichen virtuellen Anprobe-Methodik, auch schon mal eine coole Brille von Mr. Spex. Allerdings musste er sich vorher bei einem von Mr. Spex benannten Optiker den Kopf vermessen lassen. Die beiden später bestellten Brillen hatte er gar nie aufgesetzt – Charlotte fand sie unpassend, ja gar „affig“. Vielleicht eben zu cool für den Mittfünfziger.

Merke also: Der Partner muss mit in die Umkleidekabine. Und hier stockte der Atem Waldmeyers. Es könnte glatt ein ganzer Sonntag vergehen, bis Charlotte ihre Hosen, Blusen und Jacken (und Schuhe) am Bildschirm durchprobiert hätte. Waldmeyer beschloss in der Folge, Charlotte vorerst noch nicht in seinen Wissensvorsprung in Sachen digitaler Spiegel einzuweihen. Der Kelch könnte so an ihm vorübergehen – zumindest noch für die nächsten Monate. Bis nämlich Waldmeyers jüngere, digital gestählte Schwester Gabi (Zürich, Single, ÖV, Mobility, Co-working-Space) die Sache entdecken und Charlotte umgehend infizieren würde.

Aber Waldmeyer freute sich dennoch über den kleinen Technologiesprung im Onlinehandel. Er ortete nämlich eine Ersparnis: Wenn Charlotte nur genügend lang Klamotten virtuell anprobieren würde, würde sie diese vielleicht gar nicht bestellen, sondern eben nur virtuell konsumieren. Deshalb die vermutlich nicht unerhebliche Entlastung des Kleiderbudgets.

Diese Weiterentwicklung des Konsumverhaltens entsprach eigentlich nur der Logik, überlegte Waldmeyer weiter. Inzwischen handeln wir mit virtuellem Geld, das keinem Staat zuzuordnen ist, und wir können im Netz sogar virtuell Land und Liegenschaften kaufen. Wir tun so, als ob wir etwas besitzen, wir sollten es dann allerdings rechtzeitig weiterverkaufen. Denn die Letzten beissen die Hunde. Das ist nicht nur so bei dem virtuellen Land auf dem Mars oder den coolen Kryptowährungen, sondern auch bei so virtuellen Werten wie einer CS-Aktie, deren Preis sich quasi sublimierte, von einst über 90 Franken zu lächerlichen 3 Franken. Und nun also auch die virtuellen Kleider.

Waldmeyer reflektierte weiter: Vielleicht wäre das die Lösung für alle Umwelt- und Klimaprobleme? Nur so tun, als ob, belastet unseren Planeten weniger. Allerdings: Amazon, Zalando & Co. werden sich mit diesen Gadgets vielleicht ihr eigenes Grab graben. Wenn nur noch virtuell konsumiert wird, gibt es leider keinen Umsatz. Vielleicht sollte er nun alle Amazon-Aktien verkaufen? Aber auch nur virtuell, er besass ja gar keine. Er hätte aber virtuell welche besitzen können.

Max Waldmeyer und die schlechtesten Küchen der Welt

Daniel Füglister interviewt Waldmeyer 

Daniel Füglister, Chef von Hotelfactory AG, hatte Waldmeyer schon früher in Sachen weltbester Gastronomie interviewt. Waldmeyers Statements kamen indessen nicht überall gut an. Jetzt wird es aber noch brenzliger: Es geht um die schlechtesten Küchen der Welt. Eine eher unappetitliche Geschichte …

Daniel Füglister (DF)Max, das letzte Interview bescherte uns ein paar böse Kommentare. Du hattest behauptet, dass – historisch gesehen – die Briten eine gastronomische Blutspur hinter sich herzogen. Und du lobtest, zumindest aus gastronomischer Sicht, die französische Kolonialisierung. Ausserdem hattest du bedauert, dass die Italiener die Welt nicht konsequenter eroberten. Das war doch ziemlich provokativ, nicht?

Max Waldmeyer (WM): Nun, so ist es nun mal. The British may not be amused. Tatsächlich gibt es nicht viele gute Küchen auf der Welt. Und leider geht die Misere weiter. Ich denke da vor allem an Fast Food. Schön, dass wir heute darüber sprechen können. Die vergangenen Festtage konnten uns zumindest daran erinnern, dass in der Nahrungsaufnahme auch viel Würde stecken darf.

DF: Stimmt, der Zeitpunkt, über Nahrung zu sprechen, ist sicher nicht falsch, nach den vielen Fressereien. Also kommen wir zur Sache: Du hattest schon mal behauptet, dass die USA eine kollektive Schuld an der weltweiten Verbreitung des Fast Food tragen.

WM: Richtig. Es ist einerseits ein BMI-Problem. Schau dir die 300kg-Menschen in den USA oder Australien an. Andererseits ist es auch eine Stilfrage. Wer Fast Food isst, hat die Kontrolle über sein Leben verloren!

DF: Karl Lagerfeld sagte dies einmal über die Träger von Jogginghosen. 

WM: Richtig, aber stell dir vor, die beiden Sünden würden sich noch kombinieren. Gerade das geschieht jedoch in den USA. Ein Gräuel.

DF: Kontinental gesehen könnten wir die Qualität der Küchen eigentlich in mediterran und nicht mediterran unterteilen – einverstanden?

WM: Ein guter Ansatz. Die mediterrane Küche ist sicher unschlagbar. Aber leider gibt es da Ausreisser. In Nordafrika beispielsweise, im ganzen Maghreb-Gürtel, ist ausser Couscous nicht viel los – trotz viel «mediterran». Dann, noch viel schlimmer: Im Osten des Mittelmeers sieht es mehr als bescheiden aus. Die albanische Küche ist trotz fast 400 km Riviera an der Adria nur schwer geniessbar. In Syrien (Anm. der Red: 200 km Mittelmeerküste) essen die Syrer den Hummus sogar aus der Dose. Aber das ist vielleicht immer noch besser als die Ernährung in Osteuropa und in weiten Teilen Russlands.

DF: Also: Wo befinden sich nun die schlechtesten Küchen der Welt …?

WM: Ich denke, die USA – und ursprünglich eben die Briten – tragen, verbreitungsmässig, die grösste Schuld an der Diffusion von schlechtem Essen. Die zusehende Verfettung der Welt geht auf ihre Kappe. Also kriegen sie den ersten Platz in der Verbreitung von schlechter Gastronomie. Als einzelne Küche gesehen sticht Grossbritannien tatsächlich hervor: Das Land hat seinen gastronomischen Kompass komplett verloren.

Schlimmer mag es vielleicht noch in Polen sein – das Land verteidigt sicher einen der ersten negativen Plätze. Die Küche ist fettig, ungewürzt, und obendrein optisch nicht sehr ansprechend. Für einen Polenaufenthalt empfehle ich dir, ein paar gute Lunchpakete mitzunehmen!

DF: Du sagst immer, der Stellenwert der Küche in einer Gesellschaft basiere eben auf kulturhistorischen Werten. Wie meinst du das?

WM: Der Wiedehopf wurde soeben zum Vogel des Jahres 2022 ernannt. Und die kubanische Weichteilschnecke ist nun Weichteil-Tier des Jahres 2022 geworden.

DF: Bitte? Max, wir sind immer noch mitten im Interview.

WM: Ich will damit nur sagen, dass es eben Gesellschaften und Individuen gibt, die sich für ganz andere Dinge als Gastronomie interessieren. So in Polen beispielsweise. 

Generell sind die früheren Ostblockstaaten leider kulinarische Wüsten. Das F&B-Desaster beginnt gerade auf der Höhe von Polen und der Slowakei, zieht sich über alle weiteren nordöstlichen Länder und nach Russland, bis hart an die chinesische Grenze. Ein Rätsel, wie sich der Zar einst ernähren konnte. Der immense Absatz von Louis Roederer zu jener Zeit kam nicht von ungefähr – der Zar hielt sich wohl einfach lieber an Flüssiges.

DF: Wie sieht es denn im Rest der Welt aus?

WM: In Südamerika isst man ja ganz leidlich. In Uruguay z.B. sogar sehr gut – in Montevideo konnte ich kürzlich hervorragende Menus degustieren! Negativ ragt auf diesem Kontinent Surinam heraus (Anm. der Red.: liegt an der Nordküste Südamerikas, viermal so gross wie die Schweiz, gut eine halbe Million Einwohner). Ich denke, das Land buhlt zusammen mit Polen um den ersten Platz mit der weltweit schlechtesten Gastronomie. Berichten zufolge ist dort ziemlich alles nicht für den Verzehr durch einen westlichen Bürger vorgesehen. Es muss erschreckend sein. Aber das mag natürlich wieder historische Gründe haben.

DF: Ja welche denn??

WM: Surinam war eine holländische Kolonie. Keine sehr kompetente Küchenbasis. Die Holländer hatten wir vorhin nämlich vergessen bei der europäischen Wertung. Ihre Küche ist tatsächlich äusserst medioker. Ich hatte schon ein paar Mal das zweifelhafte Vergnügen, in einem holländischen Restaurant zu essen. Die frittieren fast alles. Heute möchte ich, wenn möglich, nie mehr holländisch essen. In Amsterdam gibt es übrigens ein paar gute Italiener.

DF: Die Spanier frittieren auch alles, obwohl sie mediterran sind!

WM: Richtig. Historisch gesehen verpassten sie eine riesige Chance: Sie hatten den Inkas damals das Silber geklaut, nicht aber die Rezepte.

DF: Wir sollten auch mal über die arabische Küche sprechen!

WM: Gewisse Küche sind nur Fiktionen – es gibt sie gar nicht. So die „arabische“ Küche. Vor gut 50 Jahren sassen die Wüstensöhne noch auf Kamelen und kauten Datteln. Im besten Fall knabberten sie an einem dünnen Fladenbrot. Erst die Franzosen führten anständiges Essen ein, so im Libanon. Von da aus ergab sich dann ein einigermassen akzeptabler Nahrungsmix in der Region.

Im Küchen-Ranking rücken die Araber so oder so runter, weil sie ein Ramadan-Problem haben. Und in vielen Ländern ist zudem Alkohol verboten, und sie muten einem zu, Tee oder Fruchtsaft zum Essen zu trinken. Das gibt Abzug.

DF: Und wie siehst du Asien? 

WM: Da kann ich Entwarnung geben. Fast nirgends wird richtig schlecht gegessen! Eigentlich isst man überall sehr gut. Hervorheben möchte ich die vietnamesische Küche, natürlich auch die thailändische oder die japanische – aber das kennst du ja alles auch. Sogar die chinesische Küche (insbesondere die Szechuan-Gastronomie) ist doch vielen Küchen in Europa überlegen. Die Chinesen essen zwar auch Hunde und anderes Getier – oder komische Teile davon. Aber da muss man ja nicht mitmachen.

DF: Und wie sieht es in Afrika aus?

WM: Ja, da gibt es eine grosse Bandbreite. Von Top-Küchen in Südafrika oder Mauritius bis zu No-Gos in Tschad oder Mauretanien. Aber dort gehen wir ja wohl kaum freiwillig hin. 

DF: Hier ein paar Stichworte: Was fällt dir ein dazu? Beispielsweise zu „Borschtsch“.

WM: Hmm. Also diplomatisch ausgedrückt: sehr speziell. In dieser Suppe schwimmt in relativ willkürlicher Auswahl so ziemlich alles: Gemüse, so z.B. Rote Beete, dann Fisch, auch Fleisch. In der Regel ungewürzt. Die oben aufschwimmenden Fettaugen stören die Liebhaber dieser Speise offenbar nicht. Diese «Spezialität» ist weit verbreitet in vielen Oststaaten, bis weit nach Russland hinein. Merkwürdigerweise streiten sich sogar verschiedene Länder um deren Ursprung. Als Weissrusse beispielsweise würde ich jedoch eisern abstreiten, dass dieses Gericht aus meinem Land kommt. Solltest du einmal mit einer Menuwahl in einem dieser Länder konfrontiert sein, so würde ich dezidiert davon abraten, Borschtsch auch nur zu probieren.

DF: Und Donuts?

WM: Die öligen Kekse? Also bitte, das geht gar nicht mehr unter Küche oder Gastronomie. Es mag aus amerikanischer Sicht eine kulturelle Errungenschaft sein. Aber aus meiner gefühlt objektiven Sicht ist es eben eine sehr ungesunde, geschmacklose und absolut zu meidende Sache. Meines Erachtens sollte es gar nicht als Nahrung klassifiziert werden.

DF: Und Curry Wurst?

WM: Eine Institution! Vielleicht sogar ein kleines Kulturgut. Aber nur aus lokaler Sicht. Ein mediterraner Mensch würde sagen: In der Not frisst der Teufel Fliegen. Allerdings, wenn ich in Deutschland bin, gönne ich mir so ein Ding auch manchmal. Es gibt eben oft gar keine Alternative. Etwas erschwerend kommt hinzu, dass man in dem Land keinen anständigen Wein findet.

DF: Du gibst mir das Stichwort, Max: Im nächsten Interview werden wir die Weinländer besprechen.

WM: Prima, das wird lustig. Da gibt es ein paar untrinkbare Pfützen, über die wir uns dringend unterhalten müssen!

DF: Danke für das Interview, Max. Ist es ok, wenn wir heute jetzt nicht zum Essen gehen …?

Waldmeyer wird Bundespräsident

Die Verteilung der Jobs für die Bundesräte entzieht sich jeglicher Logik. Sieben unterschiedliche Departemente gilt es zu führen. Das Mysterium beginnt bereits bei der Nominierung. Dabei ist nur eines klar: Ausbildung und Fachkompetenz sind irrelevant. Waldmeyer möchte alles ändern.

Ein Vorbild für Ämterverteilungen mag Merkels Regentschaft sein: Sie schaffte es, jede und jeden ihrer Ministerinnen und Minister an einem Ort zu platzieren, an dem diese bestenfalls versagten, wenn nicht zumindest mundtot gemacht werden konnten. Die Zuteilung erfolgte streng nach dem Prinzip, wonach alle Politiker sachfremde Gebiete erhielten. Sie mussten sich alle also erst einmal mühsam einarbeiten, um dann allerdings nie zu Hochform auflaufen zu können. Die fremde Materie musste ihnen aufgrund ihrer Ausbildung oder bisherigen Laufbahn immer spanisch vorkommen. Die Entourage von Mutti blieb so nachhaltig schwach, und niemand gefährdete ihre Macht.

Der neue Bundeskanzler Scholz, selbst hoch-gemerkelt, übernahm dieses Prinzip. Als Verwaltungsjurist war und ist er z.B. bar jedes ökonomischen Verständnisses, und insbesondere Charisma und Führungsqualitäten gehen ihm komplett ab. Seine neue Truppe besteht nun, so Waldmeyers objektiver Eindruck, aus einer Gruppe von Handarbeitslehrerinnen. Die Verteidigungsministerin beispielsweise, Christine Lamprecht, hatte sich bislang noch nie mit Aussenpolitik oder Verteidigungsfragen abgegeben. Dass sie ein Sturmgewehr nicht in 90 Sekunden zerlegen und wieder zusammensetzen kann, könnte man ihr noch durchgehen lassen. Aber dass ihr Geopolitik, Militärstrategien oder Kenntnisse betreffend Bedrohungslagen oder Waffensystemen komplett fremd sind, ist doch eher peinlich. Auch ohne Putins 24. Februar war sie bereits hoffnungslos überfordert, heute erst recht.

Aber zurück in die Schweiz. Waldmeyer und Charlotte sassen vor dem Kaminfeuer, nippten an einem Glas, und jeder machte sein Ding. Charlotte verlor sich in einer spannenden Lektüre über vertikale Begrünungskonzepte von Hochhäusern in Bangkok, Waldmeyer indessen analysierte weiter das Führungskonzept unserer Nation.

Max Waldmeyer stellte fest: Parteien geben also vor, wer als Bundesrat in Frage kommt. Dass wir nun die nette Mama aus dem Jura als neue Bundesrätin haben, ist einzig das Produkt von verquerer Parteipolitik mit strategischem Postenschacher. Madame Elisabeth Baume-Schneider machte das Rennen letztlich dank ihren Schwarznasen-Schafen. Waldmeyer erinnerte sich an das Gleichnis mit dem Flügelschlag des Schmetterlings: Ein winziger Schlag, eine kleine Entscheidung oder nur eine zufällige Wirkung kann die Richtung in die Zukunft entscheidend beeinflussen. Die strategisch brillante Entscheidung Elisabeths, vor Jahren schon, sich ein paar herzige Schwarznasenschafe zuzulegen, führte sie nun in die Position der Chefin des Justizdepartementes. Nicht ihre Entscheidung, im Nachbarkanton Geschichte zu studieren oder nachher als Sozialarbeiterin zu arbeiten, beförderten sie in die finale Ausgangsposition zur Bundesrätin, sondern einzig diese Tierli-Anschaffung. Teile der SVP sahen bei ihrer Stimmabgabe zugunsten der einstigen Marxistin (mit relativ unbedarften Wirtschaftskenntnissen, allerdings durchaus sympathisch) wohl weniger Gefahr aufziehen als mit der konkurrierenden und profilierteren Kollegin aus Basel (welche allerdings den Charme einer ungeheizten Kathedrale versprüht). Es waren ein paar wenige Bauernvertreter – sie lassen sich an einer Hand abzählen -, welche, dank den Schwarznasen, plötzlich Sympathie für die Bauerntochter aus dem vergessenen Les Breuleux entwickelten und ihr die ausschlaggebenden Stimmen gaben. Ja, so funktioniert der Flügelschlag des Schmetterlings: Les Breuleux – Schwarznasen – Bundesrätin – Chefin eines Departement-Komplexes mit ein paar Tausend Köpfen und einem Milliarden-Budget.

In der Schweiz wird nicht vor, sondern erst nach den Bundesratswahlen überlegt, was die gewählten Leute anschliessend tun sollen. Dieser alte Zopf stammt aus dem 19. Jahrhundert, als Spezialwissen und Fachkompetenz noch weniger gefragt waren, es ging damals eher um Führungsqualität und Vertretung von Bevölkerung und Ständen.

Waldmeyer vergleicht dieses wenig kluge Ämterroulette mit der absurden Idee, in seiner Firma erst einmal nette Leute einzustellen, welche auch den bisherigen Mitarbeitern gefallen, und anschliessend dann erst Überlegungen anzustellen, was diese im Betrieb nun tun könnten. Dies im Sinne von: „Elisabeth, du übernimmst ab dem 1. Januar übrigens die Rechtsabteilung – leider blieb nichts anderes frei, die anderen Mitarbeiter sind schon länger hier und haben bereits ausgewählt, weisst du.“

Die Verteilung der Departemente des Bundesrates gemahnt tatsächlich an eine Festlegung der Tischordnung unter Freunden: Irgendwie gibt es stets eine Lösung, wenn sie auch immer suboptimal bleibt. Die Qualifikation spielt bei der Zuordnung der Büez keine Rolle. Es geht nicht um Sachkompetenz, sondern um Präferenzen. Die Amtsältesten haben Vorrang bei der Auswahl. Wie bei einer Tischordnung eben, wo man den Senioren konzilianterweise den Vortritt lässt. 

Als Ergebnis sieht es in Helvetien nun wie folgt aus:

Alain Berset, mit etwas schmaler Ausbildung in Politik in Neuenburg, darf sich nun weiter um Gesundheitsfragen kümmern. Sein Talent als Zögerer, Lavierer und Kommunikator darf er immerhin weiter einsetzen.

Karin Keller-Suter, ausgebildete Dolmetscherin, wird sich jetzt im Finanzdepartement um komplexe Budgets, Finanzierungen und Inflationsbekämpfung kümmern, auch um ziemlich anspruchsvolle Vorgänge in Sachen Geldmenge und Kryptowährungen.

Ignazio, der nette Onkologe aus dem Tessin, darf sich nicht, der Logik gehorchend, als ausgebildeter Mediziner um Gesundheitsfragen im Departement des Innern kümmern. Nein, er wird weiter Aussenpolitik auf dem internationalen Parkett betreiben und hunderte von Diplomaten koordinieren. Ignazio stellt auch Pässe aus.

Guy Parmelin, ausgebildeter Landwirt und Winzer, macht weiter, relativ ungestört, in seinem Wirtschaftsdepartement. Er koordiniert auch, eher unbemerkt, intellektuelle Sachen, so die Bildungspolitik.

Frau Amherd, einzige Juristin im Bundesrat, sollte folgerichtig das Justizdepartement führen. Sie wird sich indessen weiter im Verteidigungsdepartement profilieren und kümmert sich dort um Fliegerbeschaffungen oder Cybersicherheit. Sie macht auch Truppenbesuche. Aber auch sie hat, leider, wie ihre Kollegin in der Bundesrepublik, nie in der Armee gedient. Sie arbeitet sich nun auch im vierten Jahr in diese fremde Materie ein.

Albert Rösti, der Mann mit dem Sonntagsgesicht aus dem Bernbiet, immerhin ausgebildeter Agronom, Autolobbyist und einst (wenn auch gescheiterter) Chef des Milchverbandes, installiert demnächst Solarpanels in den Alpen und stellt so sicher, dass wir immer genügend Strom haben.

Für die rührige Sozialarbeiterin aus dem Jura blieb bei der Verteilung nur das Justizdepartement. In ein paar Jahren, wenn sie Lust auf etwas anderes hat, darf sie vielleicht auch einmal auswählen.

Charlotte meinte, das spiele doch eh alles keine Rolle. Ronald Reagan sei auch nur Schauspieler gewesen. Politische Führer seien nur Chefs und würden sich dann schon mit gescheiten Beratern und Untergebenen umgeben. Es zähle der Mensch. „Sei doch ein bisschen nachsichtig, Max, das sind alles korrekte Leute. Und: Es passiert eh nichts.“ 

Stimmt. Aber das System ist so nicht effizient, meint Waldmeyer. Sein Fazit: Jeder im Bundesrat ist nun dort angekommen, wo er bestenfalls mittelmässige Resultate abliefern kann. Allen Mitgliedern fehlt die Sachkompetenz. In der Wirtschaft wären solche Branchenwechsel, wie sie Bundesräte vornehmen, undenkbar. Da werden keine Winzer als CEO einer grossen Firmengruppe angestellt, keine Sozialarbeiterinnen als Chefin einer grossen Rechtsanwaltskanzlei. Kein Onkologe würde es zum Chef einer weltumspannenden PR-Firma bringen, und keine Dolmetscherin könnte sich je in die Position eines Konzern-CFO hieven. Aber es war schon immer so. Wir hatten auch schon eine Konzertpianistin (Simonetta Sommaruga) oder einen Heizungsmonteur (Willi Ritschard).  

Waldmeyer staunt umso mehr, wenn er entdeckt, wie das in anderen Staaten so abläuft – z.B. in Singapur. Als Finanzminister sucht man dort den besten CFO aus der Wirtschaft, und der Premierminister ist eigentlich der CEO des Staates. Er ist der Chef. Bei uns gibt es ja keinen richtigen Chef im Bundesrat. Nur einen primus inter pares – und dies im Jahresturnus. „Charlotte, stell dir eine Firma vor, in der jedes Jahr ein anderer der Chef ist. Es würden alle Abteilungsleiter turnusmässig zum Handkuss kommen, ungeachtet ihrer Herkunft, des Leistungsausweises, der Kenntnisse oder der Führungsqualitäten. Dieser verblendete Selbstverwaltungsmist hat doch keine Zukunft. Einer muss einfach der Chef sein!“

Charlotte blickte kurz von ihrer Lektüre auf: „Und wer soll denn der Chef sein bei uns, unser längerfristiger Bundespräsident, dein CEO der Schweiz?“

Waldmeyer nippte kurz an seinem Cognac und stellte lakonisch fest: „Das müsste dann wohl ich machen.“

Waldmeyer überfällt die Credit Suisse

Max Waldmeyer hatte kürzlich wieder einer dieser Albträume. Er betraf die Credit Suisse. Er hatte die Agonie der Grossbank schon lange beobachtet. Diese hatte es geschafft, dank Missmanagement ihren Aktienkurs von einst stolzen 90 Franken auf lächerliche 3 Franken runterzuwirtschaften. Und nun verfolgte Waldmeyer diese Misere auch noch in der Nacht.

Der Vorteil des Albträumens besteht darin, dass man dabei gleichzeitig reflektieren kann. Man kann auch mathematisch anspruchsvolle Aufgaben lösen, innovative Ideen entwickeln – oder ganz einfach in die Zukunft blicken. Zum Beispiel in die Zukunft der Credit Suisse.

Waldmeyer befand sich schon tief in seinem REM-Schlaf, als vor seinem virtuellen Auge die Bilanz der Credit Suisse auftauchte. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter – ja, im Schlaf: Die goldenen Bilanzregeln, die Waldmeyer vor gut 40 Jahren während seinen ersten Buchhaltungslektionen gelernt hatte, wurden massiv verletzt. Diese Regeln definieren unter anderem, dass das kurzfristige Umlaufvermögen die kurzfristigen Fremdkapitalien nicht unterschreiten darf. Bei einer Bank bedeutet das, etwas rudimentär, dass die Casheinlagen der Kunden die kurzfristigen Kredite, die die Bank vergibt, immer decken müssen. Wenn also ein Grossteil der Kunden plötzlich ihr Guthaben abzieht (z.B. mit eleganten online Überweisungen binnen Tagen), könnte die Bank nicht imstande sein, kurzfristig für genügend Liquiditätsnachschub so sorgen.

Und genau so geschah es bei der CS, an jenem trüben Novembermorgen 2023: Die Kunden hatten zwar durchgehalten, auch als im Frühling 2023 die Saudis ihre Beteiligung an der CS nochmals aufstockten und die Mehrheit übernahmen. Aber als Cornelia Bösch, die Tagesschausprecherin, verkündete, die Nationalbank müsse die Credit Suisse vorübergehend mit Liquidität versorgen (mit 3.5 Milliarden, gesichert durch einen raffinierten Subprimevertrag auf dem Schweizer Hypothekengeschäft), kippte die Stimmung. Bekanntlich schützt die Eidgenossenschaft nur Einlagen bis 100‘000 Franken, alles darüber kann flöten gehen. Das weiss jeder Schweizer Bankkunde. Deshalb trat nun genau dieser Gau ein, dass über Nacht gewaltige Summen abgehoben, bzw. überwiesen wurden. 

Waldmeyer erinnerte sich – ja, im Traum – an die Situation während der Griechenlandkrise. Die Bezüge an den Bankomaten wurden damals auf 60 Euro beschränkt. Er erinnerte sich ebenso an die Berichte aus dem Libanon; schon 2022 war das Land de facto bankrott, das Finanzsystem erodierte, und die Bankkunden konnten monatlich nur noch 400 USD von ihrem Konto abheben. Zahlreiche Kunden überfielen in der Folge ihre Bank, um ihr eigenes Konto zu plündern. Dieser Bassam Hassein beispielsweise erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil er unter Waffengewalt die Herausgabe seiner 210‘000 USD verlangte. Nach langen Verhandlungen mit dem Bankdirektor konnte er dann immerhin 35‘000 USD nach Hause tragen, den Rest erhielt er gestaffelt über die nächsten Tage und Monate. Er ging straffrei aus, denn das etwas nachdrückliche Abheben des eigenen Geldes entbehrt ja nicht einem legitimen Grundrecht.

Waldmeyer sass, immer noch im tiefsten Albtraum, nun bereits vor seinem PC. Sein Konto war blockiert. Der Online-Zugang funktionierte zwar tadellos, aber es erschien ein blinkender Hinweis, in Rot: „Leider ist es aus technischen Gründen zurzeit nicht möglich, Überweisungen zu tätigen. Bitte setzen Sie sich mit ihrem Bankberater in Verbindung.“ Waldmeyer versuchte sofort, Pierin Caduff zu erreichen. Erfolglos. Der wusste wohl schon warum. Also probierte er es bei Svetlana Petrović, diese war seit einiger Zeit eh für ihn zuständig. „Ja, weisch, im Moment ist das schwierig, das mit den grossen Beträgen. Ich kann Dir aber Bitcoins auszahlen“, meldete Svetlana.

Waldmeyer stürzte zu seinem Kleiderschrank und schnappte sich seine alte Dienstwaffe. Beim Raushetzen warf er Charlotte noch seine Bankomatkarte zu und schrie: “Geh du zu den Bankomaten und versuch überall so viel wie möglich abzuheben!“

In der Schalterhalle der CS stellte Waldmeyer unvermittelt fest, dass sich vor jedem Schalter bereits eine lange Schlange gebildet hatte, zum Teil bis zum Paradeplatz hinaus. Das war’s: Der sogenannte „Bank Run“ war in vollem Gange! Er schoss zweimal in die Luft und verschaffte sich so Zugang zu Schalter 4, zu Albana Jovanović. „Ich möchte bissoguet alles abheben, 210‘000 Franken!“, flüsterte Waldmeyer der eingeschüchterten Mitarbeiterin zu.

Charlotte meldete inzwischen, dass sie in der Region schon einige Bankomaten abgegrast hätte, sie sei nun von Meisterschwanden bereits bis nach Aarau vorgedrungen, es gäbe aber nur immer 60 Franken. Und auch mit der zweiten Bankomatkarte sei bald das Tageslimit erreicht. „Mach weiter, Charlotte“, raunte Waldmeyer ins Handy und beobachtete Albana, wie sie im Zeitlupentempo Geld rauszählte. Aber bei 35‘000 stoppte sie jäh. „Mehr darf ich nicht, sonst muss ich in Riad bei den Saudis nachfragen.“ Nun verlor Waldmeyer seine Contenance, schoss nochmals in die Luft und schrie: „Mein Name ist Hassein, Bassam Hassein, und ich möchte meine 210‘000!“

Waldmeyer wachte schweissgebadet auf. Er stürzte zu seinem PC und überwies sogleich einen grösseren Betrag auf die Kantonalbank. Es funktionierte. Beim Frühstück fragte Charlotte: „Wieso sollte ich gestern Nacht eigentlich zu diesen blöden Bankomaten rennen?“ Waldmeyer, erschöpft und mit roten Augen, murmelte nur: „Vielleicht muss ich nach Riad.“

Waldmeyer: „Hilfe, ich bin binär!“

Waldmeyer wird von Andrea Sommer interviewt

Waldmeyer fühlt sich zunehmend isoliert: Gendermässig bezeichnet er sich als „normal“, also binär. Zudem ist er nicht schwarz, kein Vegetarier, auch nicht jüdisch. Das ist heute alles andere als trendy. Andrea Sommer interviewt Max Waldmeyer und entdeckt, welche Strategie er sich zurechtgelegt hat. 

Andrea Sommer (AS): Max Waldmeyer, Sie beklagen sich, dass sie nur binär sind. Sie provozieren wieder einmal. Es ist doch heute ganz normal, dass man sich genderkonform verhält.

Max Waldmeyer (WM): Einverstanden – diesbezüglich braucht es Toleranz. Soll doch jeder so sein, wie er will. Und sich auch so verhalten können. Aber die westliche europäische Welt macht jetzt eine Religion aus dem Genderdasein. 

Wissen Sie, wie viele Geschlechter es gibt? Da gibt es nicht nur LGBTQ+, also die üblichen Abweichungen mit lesbian, gay, bi, trans, queer, etc. Laut Facebook gibt es noch ganz feine Varianten dazwischen. Insgesamt sind es rund 60. 

AS: Stört Sie das?

WM: Überhaupt nicht. Soll sich doch jeder was aussuchen. Die Frage ist nur: Wieso braucht es denn überhaupt noch Geschlechterzuweisungen? Ich würde die Geschlechter kurzum aufheben. Es braucht nur noch „Mensch“.

Es soll ja LehrerInnen (Lehrer*innen?) geben, die möchten, weil „divers“, nicht als Herr oder Frau Sonderegger angesprochen werden, sondern als „Mensch Sonderegger“. Man könnte das Herr oder Frau einfach weglassen: Sonderegger. Ausserdem sind doch die Schüler heute mit den Lehrern eh per du. Blöd natürlich, wenn der Vorname eindeutig geschlechtsspezifisch konnotiert ist, also beispielsweise „Ludmilla“ oder „Amir“. Für eine diverse Person eventuell schwierig. Mit „Andrea“ beispielsweise würde man auf der sicheren Seite liegen. Aber dazu kommen wir vielleicht später noch.

AS: Was sagen sie zu der erhöhten Nachfrage nach VR-Frauen? Das ist doch eine gute Entwicklung!

WM: Sicher. Aber auch eine neue Diskriminierung. Denn nur ein neuer Geschlechtereintrag könnte in meinem Fall zu einer erhöhten Chance führen, in den VR einer börsenkotierten Firma gewählt zu werden. Und bei der SP ist es künftig deplatziert, männlich zu sein.

AS: Es wird so oder so die Zeit kommen, da müssen quotenmässig alle Gendervarianten fair berücksichtigt werden. In der Wirtschaft, der Politik, überall.

WM: Der Zürcher Stadtrat macht es doch vor: Von den zehn Mitgliedern fallen immerhin deren vier aus der Norm. Allerdings sind sie, meines Wissens, nur homosexuell. Die feinen Varianten dazwischen werden m.E. ungenügend berücksichtigt. Der Bundesrat ist noch viel schlimmer aufgestellt: Die sind, zumindest gegen aussen, alle „normal“. Immerhin sind zurzeit noch ganz verschiedene Berufe vertreten: Klavierspielerinnen, Winzer, Buchhalter, Onkologen, etc. Andererseits bleiben viele Berufe unberücksichtigt. Wo sind beispielsweise Metzger oder Synchronschwimmerinnen? Wo sind die Baumeister? Mal schauen, ob der Bundesrat künftig ein bisschen diverser wird.

AS: Sie provozieren wieder, Herr Waldmeyer. Es geht doch darum, dass wir in unseren Gremien einfach diese multiplen Eigenschaften der Bevölkerung besser abbilden. Da gehören auch mal Minderheiten dazu.

WM: Stimmt. Auch die Religionen sollten wir besser abdecken. Immerhin scheint es im Bundesrat noch eine jüdische Person zu geben. Aber wo sind echte andere Ethnien? Zumindest müssten wir die verschiedenen Geschlechter besser mit Berufen, Religionen und Hautfarben kombinieren. Ich wünschte mir im Bundesrat also, nur beispielsweise, eine muslemische, schwarze Baumeisterin. Und sie müsste queer sein. Dann noch einen homosexuellen, buddhistischen, asiatischen Harfenspieler – aber mit dem Parteibuch der SVP, zum Beispiel.

AS: Aber Sie sind einverstanden, dass es doch einige Zwischenformen zwischen Mann und Frau gibt und dass deren Rechte besser geschützt werden sollten?

WM: Was ist der Unterschied zwischen Mann und Frau, wenn es so viele Zwischenformen gibt? Der einzige Unterschied zum Mainstream, der bleibt, sind Frauen, die Kinder kriegen. Eine Spezies „Mensch“ könnte künftig die einzige sein, die sich von dem kleineren Rest der Menschen unterscheidet, die Kinder kriegt. Wohl verstanden, nicht von den Frauen, die Kinder haben möchten, sondern Menschen, die auch tatsächlich Kinder kriegen. Hier könnte der Staat eine Ausnahme machen und sich ein bisschen mehr um diese wertvolle Sorte Mensch kümmern. Es gäbe dann nur noch „Menschen“ und Menschen mit selbst geborenen Kindern, „Menschen plus“ quasi. Für letztere gäbe es einen Deal mit dem Staat. Es ginge dann um Kinderbetreuung, Erziehungsgutschriften, etc. Der Staat müsste die Familie eh noch ganz ersetzen, denn es wird dann nicht mehr ein Setup mit Männern und Frau geben, sondern nur noch Konstrukte, die alle irgendwo dazwischen – mit 60 Ausprägungen – floaten.

AS: Ein neues Konzept. Und was wäre mit der Wehrpflicht?

WM: Eigentlich sollten – da es keine Geschlechtertrennungen mehr gibt – alle „Menschen“ Armeedienst leisten. Ausser, sie sind schwanger und haben Kleinkinder. Dann erfolgt eine Dispensation, unabhängig vom Geschlecht. Die Regel würde dann so lauten: „Für Menschen, die Kinder kriegen oder eigen-geborene Kinder bis acht Jahre betreuen, wird die Armeepflicht ausgesetzt.“ Das wäre gendergerecht.

Bleibt immer noch das Problem mit den Toiletten. Auch mit den Gefängnissen. Darf man dorthin gehen, wo man gefühlsmässig hingehört?

AS: Toiletten müssen künftig gendermässig für alle vorhanden sein, klar. Also braucht es für Männer, Frauen und Diverse getrennte Einrichtungen. Zürich macht das nun vorbildlich vor. Bei den Gefängnissen sollte das eben auch so gehandhabt werden.

WM: Also müssen die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen mehr Toiletten bauen. Und der Staat muss einen Transen-Knast zur Verfügung stellen?

Das Problem scheint mir tatsächlich nicht gelöst zu sein. Wenn ich mich als Mann fühle, aber eine Frau bin, werde ich Probleme mit den Pissoirs in der Männertoilette haben. Oder als fraugefühlter Mann werde ich mich unbeliebt machen auf der Damentoilette. Andererseits: Sollte ich nun – als non-binärer Mann (weil ich mich eher weiblich fühle) – ins Gefängnis müssen, könnte ich Hindelbank wählen, das Frauengefängnis. Das wäre vielleicht eh attraktiver, da kann man allerlei Kochkurse belegen und etwas im Garten arbeiten.

AS: Ja, noch ist nicht alles gelöst. Die Gesellschaft muss indessen schon auf eine generelle Gleichstellung für alle hinarbeiten.

WM: Andrea, würden Sie sich auch als non-binär bezeichnen?

AS: Also bitte, das ist Privatsache. 

WM: Tut mir leid, ich wollte nur keine Fehler begehen mit meinem Verhalten. Ihr Vorname ist ja non-binär. Ihre Eltern handelten also schon sehr umsichtig, denn Andrea kann sowohl männlich als auch weiblich sein.

AS: Schauen Sie, es gibt eben Menschen, die irgendwo dazwischenstehen. Es geht letztlich um Selbstfindung. Aber eigentlich wollte ich Sie interviewen.

WM: Ja, einverstanden. Aber was machen wir jetzt bei der AHV? Die kennt nur Männer oder Frauen. Und die Männer sind diskriminiert, Frauen kriegen die AHV zurzeit mit 64. Wo ist hier die Gleichstellung? Und: Was ist mit den Menschen, die divers sind – oder sich divers fühlen? Wann kriegen sie die AHV?

AS: Ich weiss es offen gestanden nicht. Sagen Sie es mir!

WM: Ich weiss es auch nicht. Aber Sie bringen mich auf eine Idee: Vielleicht überdenke ich die Sache doch noch mit meiner eigenen Geschlechterwahl. Ich fühle mich nämlich seit einiger Zeit ein bisschen als Frau. Wenn ich jetzt kurz zum Zivilstandsamt gehe und für 45 Franken mein Geschlecht ändere: Erhalte ich dann die AHV früher …?

AS: Mensch Waldmeyer, danke für das Interview.

Waldmeyer möchte in die G20

Die wichtigsten Industrieländer der Welt bilden diesen Club der G20. Nur die Schweiz ist nicht dabei. Auch nicht demnächst auf Bali, nicht mal als Gaststaat (Kambodscha schon, auch Ruanda). Das ist ungerecht, findet Waldmeyer. Aber er findet einen Ausweg.

Zum Club der G20 gehören die wichtigsten Industrieländer der Welt. Ihre Bedeutung misst sich an ihrem gewichtigen BIP. Die USA liegen hier ziemlich weit vorne, gefolgt von China. Aber auch Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Italien gehören zu dieser exquisiten Gruppe.

Die Schweiz, obwohl einer der wichtigsten Finanzplätze der Welt, ist leider nicht vertreten. Entweder wurden wir nie angefragt, oder wir haben uns nie um eine Mitgliedschaft bemüht. Waldmeyer vermutet letzteres. Manchmal dürfen wir als Gast zu einer Sitzung kommen; Voraussetzung ist jeweils eine Einladung durch einen befreundeten Staat. Saudi-Arabien hatte sich kürzlich Helvetiens erbarmt und nahm das vergessene kleine Land zum Gipfel nach Riad mit. Das war sehr grosszügig. Nach Bali darf die Schweiz nun aber nicht.

Es ist nun einmal das Schicksal des kleinen Landes, dass wir uns eher als vorsichtiger blinder Passagier in der Geopolitik sehen als gestalterisch mitzuwirken. Also fühlte sich Simonetta Sommaruga anlässlich des Gipfels, damals in Riad, als einfacher Gast – und nicht als Mitglied – vermutlich ganz wohl.  

„Immerhin dürfen wir jetzt im UN-Sicherheitsrat ein bisschen mitmachen“, vermerkte Charlotte. „Stimmt, aber G20 wäre wichtiger“, entgegnete Waldmeyer.

Was Waldmeyer wundert: Warum sind andere Länder Clubmitglieder, welche ein tieferes BIP aufweisen? Tatsächlich haben vier Länder der G20 ein kleineres Bruttoinlandprodukt, immer in USD gemessen, als die Schweiz. Argentinien, Saudi-Arabien, Südafrika und neu auch die Türkei weisen ein bescheideneres BIP als die Schweiz auf und sind trotzdem vollwertige Mitglieder der G20. Eigentlich wären wir auf Rang 16 der G20 – und damit dabei.

Noch etwas hat Waldmeyer entdeckt: Auch Malta ist mit von der Partie (als EU-Staat nämlich), dabei produziert dieser Zwergstaat nur einen Wirtschafts-Output in der Grösse des Kantons Graubünden. Ob die Bündner Regierung sich dessen bewusst ist?

Malta hat also immerhin eine indirekte Mitgliedschaft. Die EU belegt nämlich einen eigenen Sitz in der G20. Waldmeyer zählte nach: Tatsächlich hat die G20 nur 19 Mitglieder (plus die EU eben), womit Deutschland, Frankreich und Italien eigentlich doppelt vertreten sind. Auch das ist ungerecht, stellt Waldmeyer fest. Und weil Malta, Luxemburg, Zypern, die baltischen und andere Kleinstaaten in der EU sind, konnten sich diese auch in die G20 reinschleichen. Ausser die Schweiz natürlich. Malta weist übrigens ein BIP auf, welches 50-mal kleiner ist als jenes der Schweiz. 

Dass die EU einen eigenen Platz belegt, ist völlig unnötig, findet Waldmeyer. Auch der IMF, die Weltbank und ähnliche Gremien haben so etwas wie eine ständige Clubmitgliedschaft, ohne mitgezählt zu werden. Die EU bräuchte keinen eigenen Sitz, und damit wäre der 20. Platz wieder frei!

Aber vielleicht will unser Bundesrat das gar nicht. Sitze in solchen Gremien führen immer zu einer gewissen Exponierung, und eine Exponierung ist immer uneidgenössisch. In solchen Clubs muss abgestimmt werden, Positionen werden bezogen. Solche Handlungen könnten delikat sein; vermutlich würden sich unsere Vertreter bei Abstimmungen am liebsten enthalten. Das mag wohl der Grund sein, warum wir diese Clubmitgliedschaft lieber gar nicht erst beantragen.

Waldmeyer sieht jedoch einen Ausweg: Wir könnten die Region Zürich schicken! Allein der Kanton Zürich weist ein stolzes BIP von rund 170 Mia USD auf, die Grossregion über 300 Mia. Das würde für den 20. Platz locker reichen. Vielleicht sogar für den 19. Platz, da wir eventuell Südafrika verdrängen könnten (301 Mia USD). Wir könnten so das 20-fache BIP Maltas in die Waagschale werfen. Waldmeyer überlegt sich, wie er seine brillante Idee einbringen könnte.

Aber er wurde jäh gestoppt in seinem Vorhaben: Charlotte erinnerte ihn daran, dass Iran noch vorher drankäme. Iran hat nämlich ein BIP, das fast doppelt so hoch ist wie jenes der Schweiz. Iran wurde offenbar glatt vergessen bei der Formierung der G-20 – oder bewusst aussen vorgelassen. „Diese irren Gotteskrieger?“, meinte der verblüffte Waldmeyer, „das geht ja gar nicht!“. Seine Argumentation in Sachen Schweizer Mitgliedschaft scheint sich somit, leider, in Luft aufgelöst zu haben.

Waldmeyer und wie man die Wirtschaft runterfährt

Waldmeyer beobachtet die deutsche Wirtschaftspolitik seit Jahren. Nur schon, weil diese eben direkten Einfluss auf die Schweiz hat. Sehenden Auges scheint unser nördlicher Nachbar mit zahlreichen Fehlanreizen und Fehlentscheiden auf einen teutonischen Crash hinzulaufen.

Schuld an diesem ökonomischen Niedergang auf Raten ist nicht nur die pitoyable Bilanz des Nichtstuns in der Ära Angela Merkel, die fatale Abhängigkeitsstrategie von Russlands Energielieferungen oder die hektische und zum Teil unbedarfte Wirtschaftspolitik der neuen Ampelregierung. Schuld ist nämlich auch die ehemalige Kinderärztin Ursula von der Leyen, welche heute als Präsidentin der EU-Kommission ziemlich weltfremde und unrealistische Klimaziele – und damit zum Beispiel die Entwicklungsstrategie der deutschen Autoindustrie – vorgibt.

Waldmeyer versuchte Gegensteuer zu geben, indem er bisher keinen Vollelektrischen kaufte. Er wollte ja nicht mit einem Auto durch Meisterschwanden schleichen, welches die Energie zum Teil aus dreckigem Kohlestrom aus Deutschland bezog.

Erst kürzlich entdeckte Waldmeyer in einer Tiefgarage, welche er, auf der verzweifelten Suche nach seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), systematisch durchkämmen musste, etwas, was ihn tatsächlich perplex machte: ein unbekanntes Modell, auch schwarz, auch SUV, sehr schön geformt. Er tigerte mehrmals um das rätselhafte Fahrzeug rum. Und da stand es dann, bescheiden am Heck: „Lynk & Co.“ 

„Ich habe heute den Porsche nicht mehr gefunden. Aber die Chinesen kommen“, stellte Waldmeyer beim Abendessen gegenüber Charlotte vielsagend fest. Charlotte suchte vergeblich nach dem Kausalzusammenhang, antwortete aber trotzdem: „Aber die Chinesen sind doch schon überall. Auch in deinem Porsche, nur schon mit den Seltenen Erden.“ Stimmt, China kontrolliert diese edlen Rohstoffe global zu 80% und wird uns so einmal erpressen damit, wie Putin uns jetzt mit seinem Gas drangsaliert.

Lynk & Co ist eine Automarke, die jetzt auch auf den europäischen Markt drängt. Sie gehört zum chinesischen Geely Konzern (welcher sich auch Volvo geschnappt hatte). Die Chinesen sind clever genug, nicht nur auf elektrische Antriebe zu setzen. Sie wissen genau, dass es dafür auf dem Weltmarkt gar nicht genügend Strom gibt – und schon gar nicht sauberen Strom, welcher nicht aus fossiler Energie produziert wird. Sie sind also „technologieoffen“, wie auch die USA oder Japan.

Für die Europäer, aber insbesondere die Deutschen, welche blind auf eine Elektrifizierung des Privatverkehrs setzen, brechen damit strube Zeiten an. Die Vorgabe, dass ab 2035 produzierte Fahrzeuge keine Abgase mehr ausstossen dürfen (gemessen wird dabei groteskerweise nur am Auspuff, nicht bei der Produktion des Fahrzeuges oder bei der Stromgewinnung) führt zu einer fatalen einseitigen Ausrichtung der Autoindustrie. In die Entwicklung sauberer Verbrennerfahrzeuge wird so nämlich nicht mehr investiert, und Deutschland wird sich damit den Weltmarkt verbauen.

Das Problem ist, dass die deutsche Autoindustrie nun mal das Herz der gesamten Wirtschaft des Landes darstellt. Und wenn man am Herzen operiert, wird’s brenzlig. Andere Länder mussten das auch schon bitter erfahren.

Waldmeyer dachte kurz an die venezolanische Wirtschaft: Das Land mit den weltgrössten Erdölreserven schaffte es, dank einer völlig verqueren Wirtschaftspolitik, in nur zehn Jahren 90% seines Bruttoinlandproduktes zu vernichten und eine Inflation von mehreren tausend Prozent hinzulegen. Oder an Simbabwe. Oder Libanon. Oder an Russland, welches seinen ökonomischen Niedergang vielleicht genau am 24. Februar 2022 einläutete.

Aber bleiben wir in Europa und blenden wir zurück: Die Industrienation England brachte es fertig, eine einst blühende Fahrzeugindustrie dank Schlendrian, Arroganz und Dauerstreiks niederzumachen. Das war in den 70er Jahren. Seither wird nicht mehr viel produziert im Königreich, und die erfolgreichen Marken Jaguar oder Land Rover gehören den Indern. Waldmeyer findet es ganz amüsant, dass es früher gerade die Inder in den heruntergekommenen britischen Produktionsstätten waren, welche die Fahrzeuge zusammenschraubten. Die Kontraktion der Autoindustrie hat zu einem langanhaltenden Rückgang der industriellen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes geführt. Dass nun ein indischstämmiger Premierminister das Land aus dem Sumpf holen muss, findet Waldmeyer übrigens ebenso amüsant.

Auch Frankreich wurde von diesem Phänomen nicht verschont: In den 50er und 60er Jahren lieferte la Grande Nation einst Spitzentechnologie und liess die französische Autoindustrie auf Erfolgswellen reiten. Scheibenbremsen für die Serienproduktion, hydropneumatische Federungen, etc. waren wegweisende und brillante Innovationen. Der 2CV (Döschwo) war ein Vorreiter des Leichtbaus, mit nur 500 kg Fahrzeuggewicht konnten die französischen Bauern damit auch mal mit einem Korb Eier unbeschadet über einen Acker segeln. Die Fahrzeuge verkauften sich in alle Welt. Bis auch hier der Schlendrian einsetzte, die Franzosen wollten plötzlich nur noch 35 Stunden arbeiten, die Produktionskosten stiegen. Zuweilen setzte sich gar der Staat ans Steuer, indem er sich bei der Autoindustrie zwangsbeteiligte. Das Resultat entsprach demjenigen Grossbritanniens: Nicht nur die Fahrzeugindustrie selbst, sondern der ganze riesige Zulieferbereich kränkelte sehr rasch, und Zug um Zug de-industrialisierte sich Frankreich. Ein Jammer. Und heute? „Einen Renault würde ich nie und nimmer kaufen. Kennst du jemanden, der einen Renault hat?“, fragte Waldmeyer. Charlotte war froh, nicht mehr über die Chinesen debattieren zu müssen, und ein Lächeln fuhr ihr über das Antlitz: “Mein erster Freund hatte einen R4, wir fuhren bis nach Italien runter, ans Meer!“

„Aber die Italiener haben es auch nicht besser gemacht“, meinte Waldmeyer und war froh um den Hinweis betreffend das Bel Paese. „Ein Alfasud beispielsweise rostete schon auf dem Prospekt.“ 

In der Tat liess auch Italien seine Autoindustrie verrotten. Sanierungen scheiterten, die Produktionsqualität wurde immer schlechter, und die italienische Autoindustrie vernichtete sich sozusagen von selbst. Auch hier: Die ganze italienische Industrie, zu einem grossen Teil abhängig von dem einst blühenden Automobilzweig (mit den schönen Lancias, Alfa Romeos, usw.), musste mitleiden und einen selbstverschuldeten Niedergang verzeichnen. Heute erfreut uns einzig noch dieser knuffige Cinquecento von Fiat. Die ganze Autoindustrie ist ein Schatten ihrer selbst und gehört jetzt dem nicht sehr erfolgreichen Weltkonzern Stellantis. „Sollten wir einen Stellantis kaufen, Charlotte?“ Charlotte liess sich nicht provozieren und antwortete nicht.

Aber zurück zu Deutschland: Die von der EU vorgegebene Ausrichtung für die Autoindustrie wird sich wohl als folgenschwerer Fehler erweisen. In Europa am schwersten davon betroffen wird die deutsche Autoindustrie sein, die einzige verbliebene, erfolgreiche des Kontinentes. Weltweit wird die Innovationsreise jedoch weitergehen, nur in Europa meint man, den globalen Klimawandel aufhalten zu können, indem jetzt elektrisch zwangsgefahren und elektrisch zwangsproduziert wird. Woher der Strom kommt und wie fossil und dreckig er ist, bleibt sekundär. Das Herz der deutschen Industrie wird damit langsamer schlagen, und das der weitverzweigten, koronar zusammenhängenden Betriebe ebenso. 

Waldmeyer stellte sich plastisch vor, wie wir dann irgendwann einmal, vielleicht in der Schweiz, in einem chinesischen, modernen Fahrzeug hocken, und unsere armen deutschen Nachbarn auf ein bisschen Sonnenlicht am wolkenverhangenen Himmel warten, um die Batterie ihres Fahrzeuges – für einmal ganz sauber – aufladen zu können. Ja, und dann müsste Charlotte allenfalls diese Nahrungspakete nach Deutschland schicken, wo ein Heer von Arbeitslosen, welche keine Anstellung mehr in der Industrie findet, darben. Allerdings wird er selbstverschuldet sein, dieser Niedergang. Vielleicht würde Waldmeyer dann sogar etwas Mitleid aufbringen.

Waldmeyer und die Neutralität

Die Politik und der Bundesrat hecheln hinter dem Verlauf der Gegenwart hinterher. Erstarrt in der Geschichte, wird die Neutralität nicht nur überzeichnet, sondern auch falsch interpretiert. Waldmeyer wird dem Bundesrat nun unter die Arme greifen.

Die aktuelle militärische Krisenlage in Europa hat überhaupt nichts mit jener der früheren zu tun: Im Zweiten Weltkrieg war das mit der Neutralität noch ganz praktisch. Zwischen direkten grossen Nachbarländern eingeklemmt, wollten wir keine Fehler begehen und entschlossen uns deshalb – richtigerweise – „neutral“ zu bleiben. Allerdings verhielten wir uns überhaupt nicht neutral. Das war nämlich unser Geheimnis: Wir taten nur so. Noch bis 1944 liessen wir ungehindert deutsche Transporte mit Waffen und Munition durch die Schweiz passieren. Erst 1945, als das Scheitern der deutschen Wehrmacht voraussehbar war, wurde die Schweiz etwas restriktiver – nicht zuletzt aufgrund des erhöhten Drucks der Alliierten auf die Schweiz. Unsere „Neutralität“ im Zweiten Weltkrieg war letztlich somit keine echte, es handelte sich eher um ein opportunistisches und wechselhaftes Abseitsstehen. Das war durchaus erfolgreich – aber nicht ehrlich, und unsere damalige Positionierung darf schon gar nicht mit hehrer und friedensstiftender Neutralität beweihräuchert werden.

Dass sich Christoph Blocher heute der armen jungen Russensoldaten erbarmt, die in der ukrainischen „Sonderoperation“ sterben, zeugt nicht von Empathie, sondern von einer perversen einseitigen Wahrnehmung. Die schrecklichen Gegebenheiten rund um den russischen Angriffskrieg sollten nämlich auch dem alten und rückwärtsgewandten Populisten bekannt sein, wird in den westlichen freien Medien doch täglich darüber berichtet. Die Gruselliste der Vergehen ist nur schwer verdaulich, der Leser darf sie auch überspringen: 

Es handelt sich um vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausbombung ganzer Städte, detaillierte Zerstörung von Siedlungen, gezielte Angriffe auf Schulen, Spitäler und andere zivile Infrastrukturen, Folter und Erschiessen von ukrainischen Soldaten, aber auch von Zivilpersonen, geplante sexuelle Missbräuche von Männern, Frauen und Kindern, Verschleppung von Zivilpersonen und insbesondere Kindern nach Russland, Geiselnahmen und Vertreibung von Millionen von Bürgern, Einsatz von geächteten Waffen (wie Streubomben), Verminung und Vernichtung von Getreidefeldern, Diebstahl von Millionen Tonnen von Getreide, Plünderungen, etc.

Kurzum: Verstösse gegen alle Regeln der Menschenrechte und Menschlichkeit. Es sind tausende von einzelnen Kriegsverbrechen. Den Haag müsste die Juristische Infrastruktur bedeutend ausweiten, um allen diesen Verbrechen nachzugehen und sie zu ahnden. Waldmeyer ist der Meinung, dass nun unverzüglich man mit dem Bau eines neuen grossen Traktes mit Gefängniszellen begonnen werden sollte.

Fazit: Das Neutralitätsverständnis von vielen Bürgern und Politikern ist nicht nur überzeichnet, sondern wird ganz einfach fehlinterpretiert. Irgendwo hört es nämlich auf, „neutral“ zu bleiben. Darf man, wenn solche Vergehen mitten in Europa stattfinden, wirklich „neutral“ bleiben? Nein, man darf nicht. Eine falsch verstandene „Neutralität“ würde uns sogar schuldig machen.

Neutralität darf es nur im Rahmen zivilisatorischer Grenzen geben. Russland hat diese überschritten und ist jetzt ein Pariastaat.

Die Wahrheit betreffend der Neutralitätsdiskussion ist eine andere, so Waldmeyers Zwischenbilanz, die er sofort mit Charlotte teilte: „Tatsächlich geht es um die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz, und die Neutralität war und ist immer nur ein Werkzeug dafür.“ 

Stellen sich denn Magdalena und Christoph – und auch Roger Köppel – in der Tat vor, dass, wenn wir die Sanktionen gegen Putins autokratisch regiertes Unregime nicht mittragen würden, Gas und Strom wieder ungehindert und günstiger nach Helvetien fliessen würden?

Letztlich sollten wir uns der Spieltheorie bedienen, wie es Waldmeyer schon früher tat, als es um die Erklärung des Phänomens des Toilettenpapier-Mangels ging. Wie beim Schachspiel müssen die nächsten Züge immer antizipiert werden. Was wäre also, Zug um Zug, passiert, wenn wir die Sanktionen nicht unterstützt hätten? Als erstes wäre der Druck der EU und der USA auf uns gestiegen. Bei Mangellagen hätten wir, so der nächste Zug, mit Bestimmtheit keine grosse Unterstützung aus Europa erhalten. Wir sind nämlich, dies im Gegensatz zu vielen Ansichten im Volk (befeuert von unseren bekannten populistischen Einpeitschern) ein kleines Mosaiksteinchen nur in einem grossen Ganzen. Das betrifft Güter, Dienstleistungen, Energie, Sicherheit, etc. Unser Land ist heute, im 21. Jahrhundert, ein Land der kompletten Vernetzung und Abhängigkeit – und nicht mehr ein Land der Autarkie. 

Doch zurück zur Spieltheorie: Die USA hätten unser Finanzwesen mit Strafbestimmungen überziehen können. Und Gas wäre immer noch keines geflossen. 

Doch wie stehen denn Länder da, die keine klare Position gegen Russlands krassen Bruch mit dem Völkerrecht bezogen haben? So die Türkei, Serbien, Indien oder Südafrika? Die Antwort ist klar: Sie stehen nicht gut da und geraten unter westlichen Druck. Diese Staaten tragen die Sanktionen allerdings nicht mit, weil sie schon immer mit Russland sympathisierten – und nicht, weil sie sich „neutral“ verhalten wollen. Hätte die Schweiz nicht Position bezogen, würde sie sich jetzt in die Phalanx dieses zweifelhaften Clubs einreihen.

Wieso öffnen gewisse Politiker denn nicht die Augen? Waldmeyer meinte erst: Seelig die Dummen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er reflektierte aber nochmals und erkannte, dass dem nicht so ist, zumindest nicht, was die führenden Rechtsaussen-Politiker betrifft. Dort herrscht nicht verzeihbare Dummheit, sondern raffinierter Populismus. Neutralität, stammtischabgestimmt, verkauft sich gut. Und bei grösseren Problemen hätte man, gegenüber dem Ausland, immer noch einen grossen Trumpf auszuspielen: Man könnte doch einfach den Gotthard sperren!

Waldmeyer stellte fest: Unsere Neutralitätspolitik ist offenbar Innenpolitik – und nicht Aussenpolitik. Die Aussenpolitik wird nur vorgeschoben: Glauben denn unsere Rechtsaussen-Protagonisten tatsächlich, nicht Position beziehen zu müssen, um Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien führen zu können? Waldmeyer nimmt diesen Putinverstehern schlichtweg nicht ab, dass sie an solchen hehren Friedensmissionen tatsächlich interessiert wären.

Wenn es schon darum ginge, Sicherheitspolitik für das Land zu betreiben, so müsste man sich klugerweise eh auf die Seite der Stärkeren schlagen. Und die Stärkeren sind nun mal die westlichen Staaten, mit denen wir moralisch, kulturell und wirtschaftlich verbunden sind. Gerade auch das Letztere müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen: Dieser drastisch überschätzte russische Staat erzielt doch tatsächlich nur ein Bruttoinlandprodukt (in USD), welches kaum mehr als doppelt so gross ist wie das der Schweiz! Waldmeyer weiss, dass dieser verbliebene riesige Staat der Sowjetunion eigentlich nur Gas, Öl und Hackerdienstleistungen exportiert, wir hingegen feinen Käse, leckere Schokolade und edle Uhren. Ja, natürlich auch Maschinen und vor allem chemische und pharmazeutische Produkte, aber die sind für unser Image weniger von Belang. Die Konsequenz also: Russland ist ein lächerlich kleiner Absatzmarkt, nur noch ein zur Tankstelle Chinas verkommener Staat, und wenn wir die Energieabhängigkeit von Putins Reich einmal ganz abgeschüttelt haben, müssen wir gar nicht mehr so tun, als ob wir neutral sind!

Der Bundesrat ist einmal mehr überfordert. Er möchte es allen recht machen – insbesondere allen politischen Parteien, und er möchte in so delikaten Dingen wie „Neutralität“ am liebsten gar nicht Position beziehen. Leider kann der Bundesrat dieses ärgerliche Thema nicht an die Kantone delegieren. Er versuchte es bei der Pandemiebekämpfung, zurzeit wieder im Management von möglichen Strommangellagen. In Sachen Ukraineüberfall funktioniert das leider nicht. Also wurstelt er sich durch, getrieben von allerlei Druck von der Innenpolitik und von der EU und den USA. Kein Wunder, sind da vor allem die zuständigen Bundesratsdepartemente, vertreten durch den Winzer aus der Westschweiz und den Onkologen aus dem Tessin, heillos überfordert.

„Also wenn die Chinesen Taiwan überfallen, wäre ich klar für Taiwan“, so Waldmeyers Statement gegenüber Charlotte, welche er nun wiederholt bei der Lektüre irgendeines dicken Buches störte. „Das geht aber nicht, Max, wir müssten neutral bleiben!“, entgegnete Charlotte – meinte es allerdings eher sarkastisch.

„Stimmt“, entgegnete Waldmeyer, „der Blocher wäre dann auch wieder gegen Sanktionen, weil Magdalena sonst vielleicht irgendwelche Produkte nicht mehr von China erhielte.“

Ja, so läuft das eben mit dem Vehikel „Neutralität“: Es geht nicht um politische und moralische Positionsbezüge – sondern nur um ziemlich kurzfristig gedachte Handelspolitik, verpackt in volksnahe Stammtischsprache.

Wie sollte denn unsere Neutralität künftig definiert werden? Waldmeyer macht dem Bundesrat hier und jetzt einen Vorschlag: Die Schweiz sollte hinter einer strengen „westlichen Neutralität“ stehen. So einfach und zielführend ist das! Das Adjektiv „westlich“ ist der Schlüssel. So kann die Schweiz unverfänglich Position beziehen gegenüber allem, was „nicht-westlich“ ist. 

„Ja, schreib das dem Cassis, Max!“, meinte Charlotte und hoffte, das Thema so nun abschliessen zu können.

Waldmeyer und die kulturelle Selbstfindung

Eigentlich hatte Waldmeyer das Thema um die „kulturelle Aneignung“ schon abgehakt. Aber plötzlich entdeckte er, dass es dabei tatsächlich nur um kulturelle Selbstfindung geht. Waldmeyer schreckt nicht davor zurück, sich selbst diesbezüglich zu analysieren.

Waldmeyer hatte den ganzen Hype um die kulturelle Aneignung eben doch noch nicht ganz verdaut. Bei mehreren Gläsern Cognac und im Austausch mit Charlotte hatte er kürzlich immerhin festgestellt, dass wir in der Schweiz, da historisch nicht sehr kulturreich, einfach etwas Kulturbeimischung brauchen. Deshalb sind solche kulturellen Aneignungen fast ein Gebot der Stunde. Zweitens hatte er erkannt, dass man in einem Indianerkostüm durchaus die Bahnhofstrasse rauf- und runterschlendern dürfte, sofern man nicht wie Winnetou aussieht. Denn Winnetou wurde nun nicht nur in deutschen Bibliotheken aussortiert und von ZDF und ARD geächtet, sondern wurde auch von SRF in die ewigen Jagdgründe verbannt und wird nicht mehr ausgestrahlt. Winnetou ist offenbar für das heranwachsende Volk ähnlich schädlich wie der Struwwelpeter – welchen Waldmeyer jedoch bis heute als durchaus edukativ beurteilt.

Waldmeyer amüsierte sich auch über die Debatte, ob man für Textilien mit Leopardenmuster, da kulturell geklaut, eine Lizenzgebühr an die Leoparden (oder irgendwelche Tierschutzverbände) abliefern sollte.

Bei einem weiteren längeren Abend der Reflexion und wiederum bei einem Glas Cognac entwickelte Waldmeyer nun ein weiteres Theorem: Eigene Kulturarmut könnte zu einer überzeichneten Suche nach eigener kultureller Selbstfindung führen.

Also, vereinfacht: Aufgrund unserer allgegenwärtigen Wohlstandsverwahrlosung, genährt von dieser historisch bedingten bescheidenen Kulturbasis, entsteht die verzweifelte Fahndung nach der eigenen Identität. Daraus erklärt sich die Suche vieler Individuen nach kultureller Selbstfindung. Ja, mangelndes kulturelles Selbstverständnis ist es nur, weshalb wir nach Neuem suchen, dabei aber von panischer Angst umtrieben sind, uns etwas anzueignen, das uns nicht gehören darf. Stundenlange Yogaübungen etwa könnten auf solche individuellen Defizite hinweisen. Oder regelmässige Reisen nach Indien. Aufgrund des unausgelasteten Lebens im Homeoffice könnte sich der Wunsch entwickeln, das Fussmalen zu perfektionieren oder endlich Makramee zu lernen. Die mangelnde berufliche Auslastung – viele möchten ja nicht mehr fulltime arbeiten und suchen verzweifelt nach der optimalen Work-Life-Balance – könnte in der Belegung eines Kurses für Ausdruckstanz kulminieren. Bei all diesen Übersprunghandlungen geht es nicht zuletzt um die Aussenwirkung des persönlichen kulturellen Habitus, welcher sich dann auch in so profanen, aber starken Signalen manifestiert wie veganer Ernährung oder in der Anschaffung eines Lastenrads (ein Thema übrigens, dem sich Waldmeyer bereits kürzlich fundiert gewidmet hatte).

Waldmeyer schenkte sich nochmals Cognac ein und machte sich ernsthaft Gedanken über seine soziale – und damit kulturelle – Aussenwirkung. Es ist nämlich überhaupt nicht mehr cool heute, ein ganz normaler Bürger oder, schlimmer noch, wie im Falle Waldmeyers, Ex-Unternehmer zu sein. So wäre es sicher angesehener, sich als Influencer oder Blogger an einem angesagten Ort, am besten in der Form eines Digitalen Nomaden, zu betätigen, Philanthrop oder Schauspieler zu werden oder sich als Gründer einer Kryptowährung zu profilieren. Das kommt viel besser an. Oder, ein brandaktueller Ansatz, einfach auszusteigen und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu beziehen. Oder einfach doch hier zu bleiben, sich wenigstens den Körper tätowieren zu lassen und sich dergestalt eine coolere Identität zuzulegen. Die Suche nach dem kulturellen Gegenteil also?

Alle diese Aspekte finden sich dann zusammen in einer neuen kulturellen Selbstfindung. Genau: Die ganze Dreadlock-Thematik ist gar keine der kulturellen Aneignungen – sondern wohl eher Ausdruck des mangelnden eigenen Kulturverständnisses, und das „Unwohlsein“, welches verunsicherte Bürger aus der links-alternativen Ecke beim Betrachten eines weissen Reggae-Musikers befällt, ist nur ein Prozess der kulturellen Selbstfindung.

Waldmeyer traf einen Entscheid: Er füllte sein Cognac-Glas nun nicht noch ein viertes Mal. Aber er beschloss für den Moment, zumindest was ihn und seine Aussenwirkung anbelangt, gar nichts zu ändern. Er entschied auch, sich demnächst kulturell nichts anzueignen. Er nahm sich vor, einfach Waldmeyer zu bleiben.

Fährt Waldmeyer 2035 elektrisch?

2035 ist bald. In der EU sollen dann nur noch CO2-freie Fahrzeuge verkauft werden. In der Schweiz wohl auch, denn wir tun immer das, was die EU tut, nur freiwillig, ohne dabei zu sein. Waldmeyer bleiben nur wenige Optionen.

Das mit dem Verbot von Verbrennerfahrzeugen ist beschlossene Sache: Ab 2035 dürfen in der EU nur noch CO2-freie Fahrzeuge verkauft werden. Gemessen wird am Auspuff. Es spielt also keine Rolle wie die (elektrische) Energie produziert wird. Mehr als fraglich ist zudem, ob überhaupt in genügender Menge Strom zur Verfügung stehen wird und wie dieser ins Auto reinkommt. So rettet Brüssel die Welt. Und die Schweiz wird mitmachen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Damit wird ein technologisch umweltfreundliches Gesamtkonzept verhindert.

Und was macht der Rest der Welt? In der Tat steht Europa alleine da. Der Rest der Welt entwickelt die Verbrennungsmotoren nämlich immer weiter – mit dem Ziel, deren Effizienz zu verbessern und die Umweltbelastung zu reduzieren. 

Europa wird 2040 also die Umweltbelastung immer noch am Auspuff messen (welchen es dann gar nicht mehr gibt), die Fahrzeuge aber vermutlich immer noch mit teilweise dreckiger Energie tanken. Immerhin entsteht so, zumindest gefühlt, eine saubere Luftsäule, genau bis an die Aussengrenzen Europas.

Allerdings stellt der Automobilmarkt Europas nur gut 20% des weltweiten Marktes dar. Der Rest der Welt wird auch nach 2035 „technologieoffen“ bleiben. China wird demnächst für mehr als einen Drittel des weltweiten Absatzmarktes verantwortlich sein, und das grosse Reich der Mitte entwickelt laufend immer effizientere und sauberere Verbrennerfahrzeuge. Intelligenterweise erfolgen diese Technologieanstrengungen parallel zur Elektro-Offensive. In Europa wird die Automobilindustrie angesichts der Vorschriften kaum mehr in die Forschung und Entwicklung von Verbrennern investieren. Die Chinesen werden uns also links überholen.

Waldmeyer stellte sich vor, wie es in unseren Städten ab 2035 aussehen könnte. Die Energiekrise wird dannzumal mit voller Wucht unser Leben erfasst haben. Gas gibt´s nur beschränkt, Atomkraft ist verboten, Diesel und Benzin sauteuer. Blackouts sind an der Tagesordnung. Nachdem die Politik den ganzen Energiebedarf der Haushalte, der Industrie und des Verkehrs auf Elektrisch umgestellt hatte, gleichzeitig es aber an der Versorgung mit dieser Elektrizität mangelt, wird es schlicht und einfach an Strom fehlen. Der Ausbau der Stauseen und die Erstellung von Pumpspeicherkraftwerken wird die Schweiz verpasst haben, und eine anderweitige Speicherung des Stroms, welcher z.B. der Sonne abgetrotzt wird, wird noch kaum flächendeckend möglich sein. In der Nacht und im Winter wird´s also düster – und kalt. Waldmeyer stellte sich vor, wie abends in den Strassen der Städte Abfälle in alten Öltonnen brennen, und nicht nur die Randständigen, sondern auch der Mittelstand wärmt sich um die spärlichen Feuer. Die Leute stehlen einander Brennstoff, um heimlich irgendeinen Generator laufen zu lassen, nur schon, um vielleicht ihr Handy aufladen zu können. Brandschatzende Horden ziehen durch die Strassen und klauen alles, was mit Energie zusammenhängt. Nur die Gutsituierten können sich etwas besser organisieren: In den Gyms treten sie fleissig in die Pedale, um mit dem so erzeugten Strom Energie-Zertifikate zu erwerben. Damit kann anschliessend z.B. ein elektrifiziertes Lastenrad aufgeladen werden. Waldmeyer stellte sich weiter vor, dass er ein solches Ungetüm dann wohl oder übel auch ohne Elektrounterstützung betreiben müsste – zumal er nicht gerne ins Gym geht.

„Du übertreibst wieder einmal masslos mit deinen Visionen, Max“, unterbrach Charlotte Waldmeyers laut artikulierte Reflexionen.

Aber Waldmeyer reflektierte weiter. Ein Lastenrad ist nämlich eine Strafe: für den Betreiber, die anderen Verkehrsteilnehmer, aber auch für den Beobachter. Denn optisch ist ein Lastenrad wirklich sehr hässlich. Zudem ist es gefährlich, das Ding lässt sich kaum richtig abbremsen, und um die Kurve geht´s auch nur mühsam. Ein Lastenrad versprüht zudem diese invasive Aura von zwanghaftem Grün-Sein, es ist ein politisch starkes Signal. Das mag bisweilen gewollt sein, ist auf jeden Fall aber ein Etikett. Waldmeyer fürchtete sich ganz einfach davor, längerfristig nicht darum herumzukommen.

Waldmeyer prüfte also die Angebote an Lastenrädern: Die peinlichen Gefährte, in Versionen ohne Elektrounterstützung, gibt es bereits ab gut CHF 2´000. Gegen oben ist die Skala offen. Ein „Load 75“ beispielsweise, ein wahres Flaggschiff unter den Lastenrädern, kostet gut und gerne mal CHF 10´000. Waldmeyer war indessen nicht schockiert, denn er wusste, dass in den Schweizer Städten allerlei Bestrebungen von linken und grünen Parteien im Gange sind, diese „Cargo-Bikes“ mit mehreren Tausend Franken (oder bis zu einem Drittel des Anschaffungspreises) zu subventionieren.

Bis vor kurzem war man beim Anblick dieser fahrenden Gestelle noch amused. Im Laufe der Zeit kippte die Aussenwirkung dieser unpraktischen Fahrzeuge indessen und sie wurde zur Provokation. Denn die LastenräderfahrerInnen strahlen immer so eine elitäre Überlegenheit aus, sie versprühen diese Arroganz der WeltenretterInnen. 2035, so befürchtet Waldmeyer, hätte man sich an diese lächerlichen Verkehrsmittel, die sich insbesondere bei Schnee und Regen und an Steigungen nicht als Verkehrshilfen, sondern als Verkehrshandicap profilieren, leider gewöhnt. 

Waldmeyer hoffte indessen, dass dannzumal, nebst Lastenrädern, auch technologisch hoch entwickelte und ökologisch optimierte Verbrenner-Autos, wenn auch aus China, wieder verkauft werden dürften. Vielleicht werden einsichtige Politiker bei uns erkennen, dass die Gesamtbelastung dieser modernen Fahrzeuge immer noch besser ist als elektrische Dreckschleudern mit Energie aus schmutzigen deutschen oder polnischen fossilen Kraftwerken.

Wie dem auch sei: 2035 wird es definitiv an Strom fehlen.  

Doch es gibt einen Lichtblick: Der mit Diesel betriebene Schwerverkehr wird auch nach 2035 noch kaum elektrisch fahren können. Das hängt mit den mangelnden Reichweiten der Batterien für die schweren Brummer zusammen, auch weil der Fernverkehr eben international stattfindet und die Elektroversorgung und ein rasches Aufladen für hohe Kapazitäten bis dann noch nicht möglich sein dürfte. Auch die viel diskutierten Wasserstoff-Lösungen werden 2035 noch nicht in Marktreife verfügbar sein. Also könnte es noch Diesel geben auf dem Markt!

Ein Teil des alten privaten Fahrzeugbestandes wird ohnehin auch nach 2035 noch weiter rollen; Benzin wird es nach ein paar Jahren allerdings vielleicht nur noch in der Apotheke geben. Bertha Benz musste sich wohl mit einer ähnlichen Versorgungslage auseinandersetzen, als sie 1888 das welterste Automobil über die staubigen Strassen Deutschlands prügelte.

Waldmeyer müsste infolgedessen entscheiden: Was sollte er sich anschaffen, das auch nach 2035 noch nachhaltig betrieben werden könnte? Waldmeyer hätte eigentlich nur drei Optionen:

Einerseits ein Lastenrad, andererseits eine moderne Dieselkarre (noch vor dem 31.12.2034 gekauft). Oder, aber eben erst später und nur vielleicht, ein modernes chinesisches Verbrenner-Auto. Am sichersten wäre indessen wohl das Lastenrad. Also doch. Und um Waldmeyers eingangs gestellte Frage zu beantworten, ob er 2035 elektrisch fahren würde: Waldmeyer hofft, zumindest teilweise, oder wenigstens ab und zu, ja, etwas elektrisch fahren zu dürfen – wenn sein Lastenrad ein bisschen aufgeladen werden dürfte. Ansonsten würde die Antwort lauten: Nein, er wird 2035 zwar ein Lastenrad fahren, aber dieses nicht elektrisch, sondern nur mit Muskelkraft bewegen. Das sind ziemlich trübe Aussichten – vor allem, nachdem Waldmeyer kurz nachgerechnet hatte, wie alt er sein würde im Jahr 2035.

Keine Waldmeyer-Glosse verpassen!

Ich melde mich für den Newsletter an und erhalte alle zwei Wochen per Email eine kurze Info.

Sie haben sich erfolgreich angemeldet

There was an error while trying to send your request. Please try again.

TRUE ECONOMICS will use the information you provide on this form to be in touch with you and to provide updates and marketing.