Waldmeyer überfällt die Credit Suisse

Max Waldmeyer hatte kürzlich wieder einer dieser Albträume. Er betraf die Credit Suisse. Er hatte die Agonie der Grossbank schon lange beobachtet. Diese hatte es geschafft, dank Missmanagement ihren Aktienkurs von einst stolzen 90 Franken auf lächerliche 3 Franken runterzuwirtschaften. Und nun verfolgte Waldmeyer diese Misere auch noch in der Nacht.

Der Vorteil des Albträumens besteht darin, dass man dabei gleichzeitig reflektieren kann. Man kann auch mathematisch anspruchsvolle Aufgaben lösen, innovative Ideen entwickeln – oder ganz einfach in die Zukunft blicken. Zum Beispiel in die Zukunft der Credit Suisse.

Waldmeyer befand sich schon tief in seinem REM-Schlaf, als vor seinem virtuellen Auge die Bilanz der Credit Suisse auftauchte. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter – ja, im Schlaf: Die goldenen Bilanzregeln, die Waldmeyer vor gut 40 Jahren während seinen ersten Buchhaltungslektionen gelernt hatte, wurden massiv verletzt. Diese Regeln definieren unter anderem, dass das kurzfristige Umlaufvermögen die kurzfristigen Fremdkapitalien nicht unterschreiten darf. Bei einer Bank bedeutet das, etwas rudimentär, dass die Casheinlagen der Kunden die kurzfristigen Kredite, die die Bank vergibt, immer decken müssen. Wenn also ein Grossteil der Kunden plötzlich ihr Guthaben abzieht (z.B. mit eleganten online Überweisungen binnen Tagen), könnte die Bank nicht imstande sein, kurzfristig für genügend Liquiditätsnachschub so sorgen.

Und genau so geschah es bei der CS, an jenem trüben Novembermorgen 2023: Die Kunden hatten zwar durchgehalten, auch als im Frühling 2023 die Saudis ihre Beteiligung an der CS nochmals aufstockten und die Mehrheit übernahmen. Aber als Cornelia Bösch, die Tagesschausprecherin, verkündete, die Nationalbank müsse die Credit Suisse vorübergehend mit Liquidität versorgen (mit 3.5 Milliarden, gesichert durch einen raffinierten Subprimevertrag auf dem Schweizer Hypothekengeschäft), kippte die Stimmung. Bekanntlich schützt die Eidgenossenschaft nur Einlagen bis 100‘000 Franken, alles darüber kann flöten gehen. Das weiss jeder Schweizer Bankkunde. Deshalb trat nun genau dieser Gau ein, dass über Nacht gewaltige Summen abgehoben, bzw. überwiesen wurden. 

Waldmeyer erinnerte sich – ja, im Traum – an die Situation während der Griechenlandkrise. Die Bezüge an den Bankomaten wurden damals auf 60 Euro beschränkt. Er erinnerte sich ebenso an die Berichte aus dem Libanon; schon 2022 war das Land de facto bankrott, das Finanzsystem erodierte, und die Bankkunden konnten monatlich nur noch 400 USD von ihrem Konto abheben. Zahlreiche Kunden überfielen in der Folge ihre Bank, um ihr eigenes Konto zu plündern. Dieser Bassam Hassein beispielsweise erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil er unter Waffengewalt die Herausgabe seiner 210‘000 USD verlangte. Nach langen Verhandlungen mit dem Bankdirektor konnte er dann immerhin 35‘000 USD nach Hause tragen, den Rest erhielt er gestaffelt über die nächsten Tage und Monate. Er ging straffrei aus, denn das etwas nachdrückliche Abheben des eigenen Geldes entbehrt ja nicht einem legitimen Grundrecht.

Waldmeyer sass, immer noch im tiefsten Albtraum, nun bereits vor seinem PC. Sein Konto war blockiert. Der Online-Zugang funktionierte zwar tadellos, aber es erschien ein blinkender Hinweis, in Rot: „Leider ist es aus technischen Gründen zurzeit nicht möglich, Überweisungen zu tätigen. Bitte setzen Sie sich mit ihrem Bankberater in Verbindung.“ Waldmeyer versuchte sofort, Pierin Caduff zu erreichen. Erfolglos. Der wusste wohl schon warum. Also probierte er es bei Svetlana Petrović, diese war seit einiger Zeit eh für ihn zuständig. „Ja, weisch, im Moment ist das schwierig, das mit den grossen Beträgen. Ich kann Dir aber Bitcoins auszahlen“, meldete Svetlana.

Waldmeyer stürzte zu seinem Kleiderschrank und schnappte sich seine alte Dienstwaffe. Beim Raushetzen warf er Charlotte noch seine Bankomatkarte zu und schrie: “Geh du zu den Bankomaten und versuch überall so viel wie möglich abzuheben!“

In der Schalterhalle der CS stellte Waldmeyer unvermittelt fest, dass sich vor jedem Schalter bereits eine lange Schlange gebildet hatte, zum Teil bis zum Paradeplatz hinaus. Das war’s: Der sogenannte „Bank Run“ war in vollem Gange! Er schoss zweimal in die Luft und verschaffte sich so Zugang zu Schalter 4, zu Albana Jovanović. „Ich möchte bissoguet alles abheben, 210‘000 Franken!“, flüsterte Waldmeyer der eingeschüchterten Mitarbeiterin zu.

Charlotte meldete inzwischen, dass sie in der Region schon einige Bankomaten abgegrast hätte, sie sei nun von Meisterschwanden bereits bis nach Aarau vorgedrungen, es gäbe aber nur immer 60 Franken. Und auch mit der zweiten Bankomatkarte sei bald das Tageslimit erreicht. „Mach weiter, Charlotte“, raunte Waldmeyer ins Handy und beobachtete Albana, wie sie im Zeitlupentempo Geld rauszählte. Aber bei 35‘000 stoppte sie jäh. „Mehr darf ich nicht, sonst muss ich in Riad bei den Saudis nachfragen.“ Nun verlor Waldmeyer seine Contenance, schoss nochmals in die Luft und schrie: „Mein Name ist Hassein, Bassam Hassein, und ich möchte meine 210‘000!“

Waldmeyer wachte schweissgebadet auf. Er stürzte zu seinem PC und überwies sogleich einen grösseren Betrag auf die Kantonalbank. Es funktionierte. Beim Frühstück fragte Charlotte: „Wieso sollte ich gestern Nacht eigentlich zu diesen blöden Bankomaten rennen?“ Waldmeyer, erschöpft und mit roten Augen, murmelte nur: „Vielleicht muss ich nach Riad.“

Waldmeyer: „Hilfe, ich bin binär!“

Waldmeyer wird von Andrea Sommer interviewt

Waldmeyer fühlt sich zunehmend isoliert: Gendermässig bezeichnet er sich als „normal“, also binär. Zudem ist er nicht schwarz, kein Vegetarier, auch nicht jüdisch. Das ist heute alles andere als trendy. Andrea Sommer interviewt Max Waldmeyer und entdeckt, welche Strategie er sich zurechtgelegt hat. 

Andrea Sommer (AS): Max Waldmeyer, Sie beklagen sich, dass sie nur binär sind. Sie provozieren wieder einmal. Es ist doch heute ganz normal, dass man sich genderkonform verhält.

Max Waldmeyer (WM): Einverstanden – diesbezüglich braucht es Toleranz. Soll doch jeder so sein, wie er will. Und sich auch so verhalten können. Aber die westliche europäische Welt macht jetzt eine Religion aus dem Genderdasein. 

Wissen Sie, wie viele Geschlechter es gibt? Da gibt es nicht nur LGBTQ+, also die üblichen Abweichungen mit lesbian, gay, bi, trans, queer, etc. Laut Facebook gibt es noch ganz feine Varianten dazwischen. Insgesamt sind es rund 60. 

AS: Stört Sie das?

WM: Überhaupt nicht. Soll sich doch jeder was aussuchen. Die Frage ist nur: Wieso braucht es denn überhaupt noch Geschlechterzuweisungen? Ich würde die Geschlechter kurzum aufheben. Es braucht nur noch „Mensch“.

Es soll ja LehrerInnen (Lehrer*innen?) geben, die möchten, weil „divers“, nicht als Herr oder Frau Sonderegger angesprochen werden, sondern als „Mensch Sonderegger“. Man könnte das Herr oder Frau einfach weglassen: Sonderegger. Ausserdem sind doch die Schüler heute mit den Lehrern eh per du. Blöd natürlich, wenn der Vorname eindeutig geschlechtsspezifisch konnotiert ist, also beispielsweise „Ludmilla“ oder „Amir“. Für eine diverse Person eventuell schwierig. Mit „Andrea“ beispielsweise würde man auf der sicheren Seite liegen. Aber dazu kommen wir vielleicht später noch.

AS: Was sagen sie zu der erhöhten Nachfrage nach VR-Frauen? Das ist doch eine gute Entwicklung!

WM: Sicher. Aber auch eine neue Diskriminierung. Denn nur ein neuer Geschlechtereintrag könnte in meinem Fall zu einer erhöhten Chance führen, in den VR einer börsenkotierten Firma gewählt zu werden. Und bei der SP ist es künftig deplatziert, männlich zu sein.

AS: Es wird so oder so die Zeit kommen, da müssen quotenmässig alle Gendervarianten fair berücksichtigt werden. In der Wirtschaft, der Politik, überall.

WM: Der Zürcher Stadtrat macht es doch vor: Von den zehn Mitgliedern fallen immerhin deren vier aus der Norm. Allerdings sind sie, meines Wissens, nur homosexuell. Die feinen Varianten dazwischen werden m.E. ungenügend berücksichtigt. Der Bundesrat ist noch viel schlimmer aufgestellt: Die sind, zumindest gegen aussen, alle „normal“. Immerhin sind zurzeit noch ganz verschiedene Berufe vertreten: Klavierspielerinnen, Winzer, Buchhalter, Onkologen, etc. Andererseits bleiben viele Berufe unberücksichtigt. Wo sind beispielsweise Metzger oder Synchronschwimmerinnen? Wo sind die Baumeister? Mal schauen, ob der Bundesrat künftig ein bisschen diverser wird.

AS: Sie provozieren wieder, Herr Waldmeyer. Es geht doch darum, dass wir in unseren Gremien einfach diese multiplen Eigenschaften der Bevölkerung besser abbilden. Da gehören auch mal Minderheiten dazu.

WM: Stimmt. Auch die Religionen sollten wir besser abdecken. Immerhin scheint es im Bundesrat noch eine jüdische Person zu geben. Aber wo sind echte andere Ethnien? Zumindest müssten wir die verschiedenen Geschlechter besser mit Berufen, Religionen und Hautfarben kombinieren. Ich wünschte mir im Bundesrat also, nur beispielsweise, eine muslemische, schwarze Baumeisterin. Und sie müsste queer sein. Dann noch einen homosexuellen, buddhistischen, asiatischen Harfenspieler – aber mit dem Parteibuch der SVP, zum Beispiel.

AS: Aber Sie sind einverstanden, dass es doch einige Zwischenformen zwischen Mann und Frau gibt und dass deren Rechte besser geschützt werden sollten?

WM: Was ist der Unterschied zwischen Mann und Frau, wenn es so viele Zwischenformen gibt? Der einzige Unterschied zum Mainstream, der bleibt, sind Frauen, die Kinder kriegen. Eine Spezies „Mensch“ könnte künftig die einzige sein, die sich von dem kleineren Rest der Menschen unterscheidet, die Kinder kriegt. Wohl verstanden, nicht von den Frauen, die Kinder haben möchten, sondern Menschen, die auch tatsächlich Kinder kriegen. Hier könnte der Staat eine Ausnahme machen und sich ein bisschen mehr um diese wertvolle Sorte Mensch kümmern. Es gäbe dann nur noch „Menschen“ und Menschen mit selbst geborenen Kindern, „Menschen plus“ quasi. Für letztere gäbe es einen Deal mit dem Staat. Es ginge dann um Kinderbetreuung, Erziehungsgutschriften, etc. Der Staat müsste die Familie eh noch ganz ersetzen, denn es wird dann nicht mehr ein Setup mit Männern und Frau geben, sondern nur noch Konstrukte, die alle irgendwo dazwischen – mit 60 Ausprägungen – floaten.

AS: Ein neues Konzept. Und was wäre mit der Wehrpflicht?

WM: Eigentlich sollten – da es keine Geschlechtertrennungen mehr gibt – alle „Menschen“ Armeedienst leisten. Ausser, sie sind schwanger und haben Kleinkinder. Dann erfolgt eine Dispensation, unabhängig vom Geschlecht. Die Regel würde dann so lauten: „Für Menschen, die Kinder kriegen oder eigen-geborene Kinder bis acht Jahre betreuen, wird die Armeepflicht ausgesetzt.“ Das wäre gendergerecht.

Bleibt immer noch das Problem mit den Toiletten. Auch mit den Gefängnissen. Darf man dorthin gehen, wo man gefühlsmässig hingehört?

AS: Toiletten müssen künftig gendermässig für alle vorhanden sein, klar. Also braucht es für Männer, Frauen und Diverse getrennte Einrichtungen. Zürich macht das nun vorbildlich vor. Bei den Gefängnissen sollte das eben auch so gehandhabt werden.

WM: Also müssen die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen mehr Toiletten bauen. Und der Staat muss einen Transen-Knast zur Verfügung stellen?

Das Problem scheint mir tatsächlich nicht gelöst zu sein. Wenn ich mich als Mann fühle, aber eine Frau bin, werde ich Probleme mit den Pissoirs in der Männertoilette haben. Oder als fraugefühlter Mann werde ich mich unbeliebt machen auf der Damentoilette. Andererseits: Sollte ich nun – als non-binärer Mann (weil ich mich eher weiblich fühle) – ins Gefängnis müssen, könnte ich Hindelbank wählen, das Frauengefängnis. Das wäre vielleicht eh attraktiver, da kann man allerlei Kochkurse belegen und etwas im Garten arbeiten.

AS: Ja, noch ist nicht alles gelöst. Die Gesellschaft muss indessen schon auf eine generelle Gleichstellung für alle hinarbeiten.

WM: Andrea, würden Sie sich auch als non-binär bezeichnen?

AS: Also bitte, das ist Privatsache. 

WM: Tut mir leid, ich wollte nur keine Fehler begehen mit meinem Verhalten. Ihr Vorname ist ja non-binär. Ihre Eltern handelten also schon sehr umsichtig, denn Andrea kann sowohl männlich als auch weiblich sein.

AS: Schauen Sie, es gibt eben Menschen, die irgendwo dazwischenstehen. Es geht letztlich um Selbstfindung. Aber eigentlich wollte ich Sie interviewen.

WM: Ja, einverstanden. Aber was machen wir jetzt bei der AHV? Die kennt nur Männer oder Frauen. Und die Männer sind diskriminiert, Frauen kriegen die AHV zurzeit mit 64. Wo ist hier die Gleichstellung? Und: Was ist mit den Menschen, die divers sind – oder sich divers fühlen? Wann kriegen sie die AHV?

AS: Ich weiss es offen gestanden nicht. Sagen Sie es mir!

WM: Ich weiss es auch nicht. Aber Sie bringen mich auf eine Idee: Vielleicht überdenke ich die Sache doch noch mit meiner eigenen Geschlechterwahl. Ich fühle mich nämlich seit einiger Zeit ein bisschen als Frau. Wenn ich jetzt kurz zum Zivilstandsamt gehe und für 45 Franken mein Geschlecht ändere: Erhalte ich dann die AHV früher …?

AS: Mensch Waldmeyer, danke für das Interview.

Waldmeyer möchte in die G20

Die wichtigsten Industrieländer der Welt bilden diesen Club der G20. Nur die Schweiz ist nicht dabei. Auch nicht demnächst auf Bali, nicht mal als Gaststaat (Kambodscha schon, auch Ruanda). Das ist ungerecht, findet Waldmeyer. Aber er findet einen Ausweg.

Zum Club der G20 gehören die wichtigsten Industrieländer der Welt. Ihre Bedeutung misst sich an ihrem gewichtigen BIP. Die USA liegen hier ziemlich weit vorne, gefolgt von China. Aber auch Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Italien gehören zu dieser exquisiten Gruppe.

Die Schweiz, obwohl einer der wichtigsten Finanzplätze der Welt, ist leider nicht vertreten. Entweder wurden wir nie angefragt, oder wir haben uns nie um eine Mitgliedschaft bemüht. Waldmeyer vermutet letzteres. Manchmal dürfen wir als Gast zu einer Sitzung kommen; Voraussetzung ist jeweils eine Einladung durch einen befreundeten Staat. Saudi-Arabien hatte sich kürzlich Helvetiens erbarmt und nahm das vergessene kleine Land zum Gipfel nach Riad mit. Das war sehr grosszügig. Nach Bali darf die Schweiz nun aber nicht.

Es ist nun einmal das Schicksal des kleinen Landes, dass wir uns eher als vorsichtiger blinder Passagier in der Geopolitik sehen als gestalterisch mitzuwirken. Also fühlte sich Simonetta Sommaruga anlässlich des Gipfels, damals in Riad, als einfacher Gast – und nicht als Mitglied – vermutlich ganz wohl.  

„Immerhin dürfen wir jetzt im UN-Sicherheitsrat ein bisschen mitmachen“, vermerkte Charlotte. „Stimmt, aber G20 wäre wichtiger“, entgegnete Waldmeyer.

Was Waldmeyer wundert: Warum sind andere Länder Clubmitglieder, welche ein tieferes BIP aufweisen? Tatsächlich haben vier Länder der G20 ein kleineres Bruttoinlandprodukt, immer in USD gemessen, als die Schweiz. Argentinien, Saudi-Arabien, Südafrika und neu auch die Türkei weisen ein bescheideneres BIP als die Schweiz auf und sind trotzdem vollwertige Mitglieder der G20. Eigentlich wären wir auf Rang 16 der G20 – und damit dabei.

Noch etwas hat Waldmeyer entdeckt: Auch Malta ist mit von der Partie (als EU-Staat nämlich), dabei produziert dieser Zwergstaat nur einen Wirtschafts-Output in der Grösse des Kantons Graubünden. Ob die Bündner Regierung sich dessen bewusst ist?

Malta hat also immerhin eine indirekte Mitgliedschaft. Die EU belegt nämlich einen eigenen Sitz in der G20. Waldmeyer zählte nach: Tatsächlich hat die G20 nur 19 Mitglieder (plus die EU eben), womit Deutschland, Frankreich und Italien eigentlich doppelt vertreten sind. Auch das ist ungerecht, stellt Waldmeyer fest. Und weil Malta, Luxemburg, Zypern, die baltischen und andere Kleinstaaten in der EU sind, konnten sich diese auch in die G20 reinschleichen. Ausser die Schweiz natürlich. Malta weist übrigens ein BIP auf, welches 50-mal kleiner ist als jenes der Schweiz. 

Dass die EU einen eigenen Platz belegt, ist völlig unnötig, findet Waldmeyer. Auch der IMF, die Weltbank und ähnliche Gremien haben so etwas wie eine ständige Clubmitgliedschaft, ohne mitgezählt zu werden. Die EU bräuchte keinen eigenen Sitz, und damit wäre der 20. Platz wieder frei!

Aber vielleicht will unser Bundesrat das gar nicht. Sitze in solchen Gremien führen immer zu einer gewissen Exponierung, und eine Exponierung ist immer uneidgenössisch. In solchen Clubs muss abgestimmt werden, Positionen werden bezogen. Solche Handlungen könnten delikat sein; vermutlich würden sich unsere Vertreter bei Abstimmungen am liebsten enthalten. Das mag wohl der Grund sein, warum wir diese Clubmitgliedschaft lieber gar nicht erst beantragen.

Waldmeyer sieht jedoch einen Ausweg: Wir könnten die Region Zürich schicken! Allein der Kanton Zürich weist ein stolzes BIP von rund 170 Mia USD auf, die Grossregion über 300 Mia. Das würde für den 20. Platz locker reichen. Vielleicht sogar für den 19. Platz, da wir eventuell Südafrika verdrängen könnten (301 Mia USD). Wir könnten so das 20-fache BIP Maltas in die Waagschale werfen. Waldmeyer überlegt sich, wie er seine brillante Idee einbringen könnte.

Aber er wurde jäh gestoppt in seinem Vorhaben: Charlotte erinnerte ihn daran, dass Iran noch vorher drankäme. Iran hat nämlich ein BIP, das fast doppelt so hoch ist wie jenes der Schweiz. Iran wurde offenbar glatt vergessen bei der Formierung der G-20 – oder bewusst aussen vorgelassen. „Diese irren Gotteskrieger?“, meinte der verblüffte Waldmeyer, „das geht ja gar nicht!“. Seine Argumentation in Sachen Schweizer Mitgliedschaft scheint sich somit, leider, in Luft aufgelöst zu haben.

Waldmeyer und wie man die Wirtschaft runterfährt

Waldmeyer beobachtet die deutsche Wirtschaftspolitik seit Jahren. Nur schon, weil diese eben direkten Einfluss auf die Schweiz hat. Sehenden Auges scheint unser nördlicher Nachbar mit zahlreichen Fehlanreizen und Fehlentscheiden auf einen teutonischen Crash hinzulaufen.

Schuld an diesem ökonomischen Niedergang auf Raten ist nicht nur die pitoyable Bilanz des Nichtstuns in der Ära Angela Merkel, die fatale Abhängigkeitsstrategie von Russlands Energielieferungen oder die hektische und zum Teil unbedarfte Wirtschaftspolitik der neuen Ampelregierung. Schuld ist nämlich auch die ehemalige Kinderärztin Ursula von der Leyen, welche heute als Präsidentin der EU-Kommission ziemlich weltfremde und unrealistische Klimaziele – und damit zum Beispiel die Entwicklungsstrategie der deutschen Autoindustrie – vorgibt.

Waldmeyer versuchte Gegensteuer zu geben, indem er bisher keinen Vollelektrischen kaufte. Er wollte ja nicht mit einem Auto durch Meisterschwanden schleichen, welches die Energie zum Teil aus dreckigem Kohlestrom aus Deutschland bezog.

Erst kürzlich entdeckte Waldmeyer in einer Tiefgarage, welche er, auf der verzweifelten Suche nach seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), systematisch durchkämmen musste, etwas, was ihn tatsächlich perplex machte: ein unbekanntes Modell, auch schwarz, auch SUV, sehr schön geformt. Er tigerte mehrmals um das rätselhafte Fahrzeug rum. Und da stand es dann, bescheiden am Heck: „Lynk & Co.“ 

„Ich habe heute den Porsche nicht mehr gefunden. Aber die Chinesen kommen“, stellte Waldmeyer beim Abendessen gegenüber Charlotte vielsagend fest. Charlotte suchte vergeblich nach dem Kausalzusammenhang, antwortete aber trotzdem: „Aber die Chinesen sind doch schon überall. Auch in deinem Porsche, nur schon mit den Seltenen Erden.“ Stimmt, China kontrolliert diese edlen Rohstoffe global zu 80% und wird uns so einmal erpressen damit, wie Putin uns jetzt mit seinem Gas drangsaliert.

Lynk & Co ist eine Automarke, die jetzt auch auf den europäischen Markt drängt. Sie gehört zum chinesischen Geely Konzern (welcher sich auch Volvo geschnappt hatte). Die Chinesen sind clever genug, nicht nur auf elektrische Antriebe zu setzen. Sie wissen genau, dass es dafür auf dem Weltmarkt gar nicht genügend Strom gibt – und schon gar nicht sauberen Strom, welcher nicht aus fossiler Energie produziert wird. Sie sind also „technologieoffen“, wie auch die USA oder Japan.

Für die Europäer, aber insbesondere die Deutschen, welche blind auf eine Elektrifizierung des Privatverkehrs setzen, brechen damit strube Zeiten an. Die Vorgabe, dass ab 2035 produzierte Fahrzeuge keine Abgase mehr ausstossen dürfen (gemessen wird dabei groteskerweise nur am Auspuff, nicht bei der Produktion des Fahrzeuges oder bei der Stromgewinnung) führt zu einer fatalen einseitigen Ausrichtung der Autoindustrie. In die Entwicklung sauberer Verbrennerfahrzeuge wird so nämlich nicht mehr investiert, und Deutschland wird sich damit den Weltmarkt verbauen.

Das Problem ist, dass die deutsche Autoindustrie nun mal das Herz der gesamten Wirtschaft des Landes darstellt. Und wenn man am Herzen operiert, wird’s brenzlig. Andere Länder mussten das auch schon bitter erfahren.

Waldmeyer dachte kurz an die venezolanische Wirtschaft: Das Land mit den weltgrössten Erdölreserven schaffte es, dank einer völlig verqueren Wirtschaftspolitik, in nur zehn Jahren 90% seines Bruttoinlandproduktes zu vernichten und eine Inflation von mehreren tausend Prozent hinzulegen. Oder an Simbabwe. Oder Libanon. Oder an Russland, welches seinen ökonomischen Niedergang vielleicht genau am 24. Februar 2022 einläutete.

Aber bleiben wir in Europa und blenden wir zurück: Die Industrienation England brachte es fertig, eine einst blühende Fahrzeugindustrie dank Schlendrian, Arroganz und Dauerstreiks niederzumachen. Das war in den 70er Jahren. Seither wird nicht mehr viel produziert im Königreich, und die erfolgreichen Marken Jaguar oder Land Rover gehören den Indern. Waldmeyer findet es ganz amüsant, dass es früher gerade die Inder in den heruntergekommenen britischen Produktionsstätten waren, welche die Fahrzeuge zusammenschraubten. Die Kontraktion der Autoindustrie hat zu einem langanhaltenden Rückgang der industriellen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes geführt. Dass nun ein indischstämmiger Premierminister das Land aus dem Sumpf holen muss, findet Waldmeyer übrigens ebenso amüsant.

Auch Frankreich wurde von diesem Phänomen nicht verschont: In den 50er und 60er Jahren lieferte la Grande Nation einst Spitzentechnologie und liess die französische Autoindustrie auf Erfolgswellen reiten. Scheibenbremsen für die Serienproduktion, hydropneumatische Federungen, etc. waren wegweisende und brillante Innovationen. Der 2CV (Döschwo) war ein Vorreiter des Leichtbaus, mit nur 500 kg Fahrzeuggewicht konnten die französischen Bauern damit auch mal mit einem Korb Eier unbeschadet über einen Acker segeln. Die Fahrzeuge verkauften sich in alle Welt. Bis auch hier der Schlendrian einsetzte, die Franzosen wollten plötzlich nur noch 35 Stunden arbeiten, die Produktionskosten stiegen. Zuweilen setzte sich gar der Staat ans Steuer, indem er sich bei der Autoindustrie zwangsbeteiligte. Das Resultat entsprach demjenigen Grossbritanniens: Nicht nur die Fahrzeugindustrie selbst, sondern der ganze riesige Zulieferbereich kränkelte sehr rasch, und Zug um Zug de-industrialisierte sich Frankreich. Ein Jammer. Und heute? „Einen Renault würde ich nie und nimmer kaufen. Kennst du jemanden, der einen Renault hat?“, fragte Waldmeyer. Charlotte war froh, nicht mehr über die Chinesen debattieren zu müssen, und ein Lächeln fuhr ihr über das Antlitz: “Mein erster Freund hatte einen R4, wir fuhren bis nach Italien runter, ans Meer!“

„Aber die Italiener haben es auch nicht besser gemacht“, meinte Waldmeyer und war froh um den Hinweis betreffend das Bel Paese. „Ein Alfasud beispielsweise rostete schon auf dem Prospekt.“ 

In der Tat liess auch Italien seine Autoindustrie verrotten. Sanierungen scheiterten, die Produktionsqualität wurde immer schlechter, und die italienische Autoindustrie vernichtete sich sozusagen von selbst. Auch hier: Die ganze italienische Industrie, zu einem grossen Teil abhängig von dem einst blühenden Automobilzweig (mit den schönen Lancias, Alfa Romeos, usw.), musste mitleiden und einen selbstverschuldeten Niedergang verzeichnen. Heute erfreut uns einzig noch dieser knuffige Cinquecento von Fiat. Die ganze Autoindustrie ist ein Schatten ihrer selbst und gehört jetzt dem nicht sehr erfolgreichen Weltkonzern Stellantis. „Sollten wir einen Stellantis kaufen, Charlotte?“ Charlotte liess sich nicht provozieren und antwortete nicht.

Aber zurück zu Deutschland: Die von der EU vorgegebene Ausrichtung für die Autoindustrie wird sich wohl als folgenschwerer Fehler erweisen. In Europa am schwersten davon betroffen wird die deutsche Autoindustrie sein, die einzige verbliebene, erfolgreiche des Kontinentes. Weltweit wird die Innovationsreise jedoch weitergehen, nur in Europa meint man, den globalen Klimawandel aufhalten zu können, indem jetzt elektrisch zwangsgefahren und elektrisch zwangsproduziert wird. Woher der Strom kommt und wie fossil und dreckig er ist, bleibt sekundär. Das Herz der deutschen Industrie wird damit langsamer schlagen, und das der weitverzweigten, koronar zusammenhängenden Betriebe ebenso. 

Waldmeyer stellte sich plastisch vor, wie wir dann irgendwann einmal, vielleicht in der Schweiz, in einem chinesischen, modernen Fahrzeug hocken, und unsere armen deutschen Nachbarn auf ein bisschen Sonnenlicht am wolkenverhangenen Himmel warten, um die Batterie ihres Fahrzeuges – für einmal ganz sauber – aufladen zu können. Ja, und dann müsste Charlotte allenfalls diese Nahrungspakete nach Deutschland schicken, wo ein Heer von Arbeitslosen, welche keine Anstellung mehr in der Industrie findet, darben. Allerdings wird er selbstverschuldet sein, dieser Niedergang. Vielleicht würde Waldmeyer dann sogar etwas Mitleid aufbringen.

Waldmeyer und die Neutralität

Die Politik und der Bundesrat hecheln hinter dem Verlauf der Gegenwart hinterher. Erstarrt in der Geschichte, wird die Neutralität nicht nur überzeichnet, sondern auch falsch interpretiert. Waldmeyer wird dem Bundesrat nun unter die Arme greifen.

Die aktuelle militärische Krisenlage in Europa hat überhaupt nichts mit jener der früheren zu tun: Im Zweiten Weltkrieg war das mit der Neutralität noch ganz praktisch. Zwischen direkten grossen Nachbarländern eingeklemmt, wollten wir keine Fehler begehen und entschlossen uns deshalb – richtigerweise – „neutral“ zu bleiben. Allerdings verhielten wir uns überhaupt nicht neutral. Das war nämlich unser Geheimnis: Wir taten nur so. Noch bis 1944 liessen wir ungehindert deutsche Transporte mit Waffen und Munition durch die Schweiz passieren. Erst 1945, als das Scheitern der deutschen Wehrmacht voraussehbar war, wurde die Schweiz etwas restriktiver – nicht zuletzt aufgrund des erhöhten Drucks der Alliierten auf die Schweiz. Unsere „Neutralität“ im Zweiten Weltkrieg war letztlich somit keine echte, es handelte sich eher um ein opportunistisches und wechselhaftes Abseitsstehen. Das war durchaus erfolgreich – aber nicht ehrlich, und unsere damalige Positionierung darf schon gar nicht mit hehrer und friedensstiftender Neutralität beweihräuchert werden.

Dass sich Christoph Blocher heute der armen jungen Russensoldaten erbarmt, die in der ukrainischen „Sonderoperation“ sterben, zeugt nicht von Empathie, sondern von einer perversen einseitigen Wahrnehmung. Die schrecklichen Gegebenheiten rund um den russischen Angriffskrieg sollten nämlich auch dem alten und rückwärtsgewandten Populisten bekannt sein, wird in den westlichen freien Medien doch täglich darüber berichtet. Die Gruselliste der Vergehen ist nur schwer verdaulich, der Leser darf sie auch überspringen: 

Es handelt sich um vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausbombung ganzer Städte, detaillierte Zerstörung von Siedlungen, gezielte Angriffe auf Schulen, Spitäler und andere zivile Infrastrukturen, Folter und Erschiessen von ukrainischen Soldaten, aber auch von Zivilpersonen, geplante sexuelle Missbräuche von Männern, Frauen und Kindern, Verschleppung von Zivilpersonen und insbesondere Kindern nach Russland, Geiselnahmen und Vertreibung von Millionen von Bürgern, Einsatz von geächteten Waffen (wie Streubomben), Verminung und Vernichtung von Getreidefeldern, Diebstahl von Millionen Tonnen von Getreide, Plünderungen, etc.

Kurzum: Verstösse gegen alle Regeln der Menschenrechte und Menschlichkeit. Es sind tausende von einzelnen Kriegsverbrechen. Den Haag müsste die Juristische Infrastruktur bedeutend ausweiten, um allen diesen Verbrechen nachzugehen und sie zu ahnden. Waldmeyer ist der Meinung, dass nun unverzüglich man mit dem Bau eines neuen grossen Traktes mit Gefängniszellen begonnen werden sollte.

Fazit: Das Neutralitätsverständnis von vielen Bürgern und Politikern ist nicht nur überzeichnet, sondern wird ganz einfach fehlinterpretiert. Irgendwo hört es nämlich auf, „neutral“ zu bleiben. Darf man, wenn solche Vergehen mitten in Europa stattfinden, wirklich „neutral“ bleiben? Nein, man darf nicht. Eine falsch verstandene „Neutralität“ würde uns sogar schuldig machen.

Neutralität darf es nur im Rahmen zivilisatorischer Grenzen geben. Russland hat diese überschritten und ist jetzt ein Pariastaat.

Die Wahrheit betreffend der Neutralitätsdiskussion ist eine andere, so Waldmeyers Zwischenbilanz, die er sofort mit Charlotte teilte: „Tatsächlich geht es um die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz, und die Neutralität war und ist immer nur ein Werkzeug dafür.“ 

Stellen sich denn Magdalena und Christoph – und auch Roger Köppel – in der Tat vor, dass, wenn wir die Sanktionen gegen Putins autokratisch regiertes Unregime nicht mittragen würden, Gas und Strom wieder ungehindert und günstiger nach Helvetien fliessen würden?

Letztlich sollten wir uns der Spieltheorie bedienen, wie es Waldmeyer schon früher tat, als es um die Erklärung des Phänomens des Toilettenpapier-Mangels ging. Wie beim Schachspiel müssen die nächsten Züge immer antizipiert werden. Was wäre also, Zug um Zug, passiert, wenn wir die Sanktionen nicht unterstützt hätten? Als erstes wäre der Druck der EU und der USA auf uns gestiegen. Bei Mangellagen hätten wir, so der nächste Zug, mit Bestimmtheit keine grosse Unterstützung aus Europa erhalten. Wir sind nämlich, dies im Gegensatz zu vielen Ansichten im Volk (befeuert von unseren bekannten populistischen Einpeitschern) ein kleines Mosaiksteinchen nur in einem grossen Ganzen. Das betrifft Güter, Dienstleistungen, Energie, Sicherheit, etc. Unser Land ist heute, im 21. Jahrhundert, ein Land der kompletten Vernetzung und Abhängigkeit – und nicht mehr ein Land der Autarkie. 

Doch zurück zur Spieltheorie: Die USA hätten unser Finanzwesen mit Strafbestimmungen überziehen können. Und Gas wäre immer noch keines geflossen. 

Doch wie stehen denn Länder da, die keine klare Position gegen Russlands krassen Bruch mit dem Völkerrecht bezogen haben? So die Türkei, Serbien, Indien oder Südafrika? Die Antwort ist klar: Sie stehen nicht gut da und geraten unter westlichen Druck. Diese Staaten tragen die Sanktionen allerdings nicht mit, weil sie schon immer mit Russland sympathisierten – und nicht, weil sie sich „neutral“ verhalten wollen. Hätte die Schweiz nicht Position bezogen, würde sie sich jetzt in die Phalanx dieses zweifelhaften Clubs einreihen.

Wieso öffnen gewisse Politiker denn nicht die Augen? Waldmeyer meinte erst: Seelig die Dummen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er reflektierte aber nochmals und erkannte, dass dem nicht so ist, zumindest nicht, was die führenden Rechtsaussen-Politiker betrifft. Dort herrscht nicht verzeihbare Dummheit, sondern raffinierter Populismus. Neutralität, stammtischabgestimmt, verkauft sich gut. Und bei grösseren Problemen hätte man, gegenüber dem Ausland, immer noch einen grossen Trumpf auszuspielen: Man könnte doch einfach den Gotthard sperren!

Waldmeyer stellte fest: Unsere Neutralitätspolitik ist offenbar Innenpolitik – und nicht Aussenpolitik. Die Aussenpolitik wird nur vorgeschoben: Glauben denn unsere Rechtsaussen-Protagonisten tatsächlich, nicht Position beziehen zu müssen, um Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien führen zu können? Waldmeyer nimmt diesen Putinverstehern schlichtweg nicht ab, dass sie an solchen hehren Friedensmissionen tatsächlich interessiert wären.

Wenn es schon darum ginge, Sicherheitspolitik für das Land zu betreiben, so müsste man sich klugerweise eh auf die Seite der Stärkeren schlagen. Und die Stärkeren sind nun mal die westlichen Staaten, mit denen wir moralisch, kulturell und wirtschaftlich verbunden sind. Gerade auch das Letztere müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen: Dieser drastisch überschätzte russische Staat erzielt doch tatsächlich nur ein Bruttoinlandprodukt (in USD), welches kaum mehr als doppelt so gross ist wie das der Schweiz! Waldmeyer weiss, dass dieser verbliebene riesige Staat der Sowjetunion eigentlich nur Gas, Öl und Hackerdienstleistungen exportiert, wir hingegen feinen Käse, leckere Schokolade und edle Uhren. Ja, natürlich auch Maschinen und vor allem chemische und pharmazeutische Produkte, aber die sind für unser Image weniger von Belang. Die Konsequenz also: Russland ist ein lächerlich kleiner Absatzmarkt, nur noch ein zur Tankstelle Chinas verkommener Staat, und wenn wir die Energieabhängigkeit von Putins Reich einmal ganz abgeschüttelt haben, müssen wir gar nicht mehr so tun, als ob wir neutral sind!

Der Bundesrat ist einmal mehr überfordert. Er möchte es allen recht machen – insbesondere allen politischen Parteien, und er möchte in so delikaten Dingen wie „Neutralität“ am liebsten gar nicht Position beziehen. Leider kann der Bundesrat dieses ärgerliche Thema nicht an die Kantone delegieren. Er versuchte es bei der Pandemiebekämpfung, zurzeit wieder im Management von möglichen Strommangellagen. In Sachen Ukraineüberfall funktioniert das leider nicht. Also wurstelt er sich durch, getrieben von allerlei Druck von der Innenpolitik und von der EU und den USA. Kein Wunder, sind da vor allem die zuständigen Bundesratsdepartemente, vertreten durch den Winzer aus der Westschweiz und den Onkologen aus dem Tessin, heillos überfordert.

„Also wenn die Chinesen Taiwan überfallen, wäre ich klar für Taiwan“, so Waldmeyers Statement gegenüber Charlotte, welche er nun wiederholt bei der Lektüre irgendeines dicken Buches störte. „Das geht aber nicht, Max, wir müssten neutral bleiben!“, entgegnete Charlotte – meinte es allerdings eher sarkastisch.

„Stimmt“, entgegnete Waldmeyer, „der Blocher wäre dann auch wieder gegen Sanktionen, weil Magdalena sonst vielleicht irgendwelche Produkte nicht mehr von China erhielte.“

Ja, so läuft das eben mit dem Vehikel „Neutralität“: Es geht nicht um politische und moralische Positionsbezüge – sondern nur um ziemlich kurzfristig gedachte Handelspolitik, verpackt in volksnahe Stammtischsprache.

Wie sollte denn unsere Neutralität künftig definiert werden? Waldmeyer macht dem Bundesrat hier und jetzt einen Vorschlag: Die Schweiz sollte hinter einer strengen „westlichen Neutralität“ stehen. So einfach und zielführend ist das! Das Adjektiv „westlich“ ist der Schlüssel. So kann die Schweiz unverfänglich Position beziehen gegenüber allem, was „nicht-westlich“ ist. 

„Ja, schreib das dem Cassis, Max!“, meinte Charlotte und hoffte, das Thema so nun abschliessen zu können.

Waldmeyer und die kulturelle Selbstfindung

Eigentlich hatte Waldmeyer das Thema um die „kulturelle Aneignung“ schon abgehakt. Aber plötzlich entdeckte er, dass es dabei tatsächlich nur um kulturelle Selbstfindung geht. Waldmeyer schreckt nicht davor zurück, sich selbst diesbezüglich zu analysieren.

Waldmeyer hatte den ganzen Hype um die kulturelle Aneignung eben doch noch nicht ganz verdaut. Bei mehreren Gläsern Cognac und im Austausch mit Charlotte hatte er kürzlich immerhin festgestellt, dass wir in der Schweiz, da historisch nicht sehr kulturreich, einfach etwas Kulturbeimischung brauchen. Deshalb sind solche kulturellen Aneignungen fast ein Gebot der Stunde. Zweitens hatte er erkannt, dass man in einem Indianerkostüm durchaus die Bahnhofstrasse rauf- und runterschlendern dürfte, sofern man nicht wie Winnetou aussieht. Denn Winnetou wurde nun nicht nur in deutschen Bibliotheken aussortiert und von ZDF und ARD geächtet, sondern wurde auch von SRF in die ewigen Jagdgründe verbannt und wird nicht mehr ausgestrahlt. Winnetou ist offenbar für das heranwachsende Volk ähnlich schädlich wie der Struwwelpeter – welchen Waldmeyer jedoch bis heute als durchaus edukativ beurteilt.

Waldmeyer amüsierte sich auch über die Debatte, ob man für Textilien mit Leopardenmuster, da kulturell geklaut, eine Lizenzgebühr an die Leoparden (oder irgendwelche Tierschutzverbände) abliefern sollte.

Bei einem weiteren längeren Abend der Reflexion und wiederum bei einem Glas Cognac entwickelte Waldmeyer nun ein weiteres Theorem: Eigene Kulturarmut könnte zu einer überzeichneten Suche nach eigener kultureller Selbstfindung führen.

Also, vereinfacht: Aufgrund unserer allgegenwärtigen Wohlstandsverwahrlosung, genährt von dieser historisch bedingten bescheidenen Kulturbasis, entsteht die verzweifelte Fahndung nach der eigenen Identität. Daraus erklärt sich die Suche vieler Individuen nach kultureller Selbstfindung. Ja, mangelndes kulturelles Selbstverständnis ist es nur, weshalb wir nach Neuem suchen, dabei aber von panischer Angst umtrieben sind, uns etwas anzueignen, das uns nicht gehören darf. Stundenlange Yogaübungen etwa könnten auf solche individuellen Defizite hinweisen. Oder regelmässige Reisen nach Indien. Aufgrund des unausgelasteten Lebens im Homeoffice könnte sich der Wunsch entwickeln, das Fussmalen zu perfektionieren oder endlich Makramee zu lernen. Die mangelnde berufliche Auslastung – viele möchten ja nicht mehr fulltime arbeiten und suchen verzweifelt nach der optimalen Work-Life-Balance – könnte in der Belegung eines Kurses für Ausdruckstanz kulminieren. Bei all diesen Übersprunghandlungen geht es nicht zuletzt um die Aussenwirkung des persönlichen kulturellen Habitus, welcher sich dann auch in so profanen, aber starken Signalen manifestiert wie veganer Ernährung oder in der Anschaffung eines Lastenrads (ein Thema übrigens, dem sich Waldmeyer bereits kürzlich fundiert gewidmet hatte).

Waldmeyer schenkte sich nochmals Cognac ein und machte sich ernsthaft Gedanken über seine soziale – und damit kulturelle – Aussenwirkung. Es ist nämlich überhaupt nicht mehr cool heute, ein ganz normaler Bürger oder, schlimmer noch, wie im Falle Waldmeyers, Ex-Unternehmer zu sein. So wäre es sicher angesehener, sich als Influencer oder Blogger an einem angesagten Ort, am besten in der Form eines Digitalen Nomaden, zu betätigen, Philanthrop oder Schauspieler zu werden oder sich als Gründer einer Kryptowährung zu profilieren. Das kommt viel besser an. Oder, ein brandaktueller Ansatz, einfach auszusteigen und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu beziehen. Oder einfach doch hier zu bleiben, sich wenigstens den Körper tätowieren zu lassen und sich dergestalt eine coolere Identität zuzulegen. Die Suche nach dem kulturellen Gegenteil also?

Alle diese Aspekte finden sich dann zusammen in einer neuen kulturellen Selbstfindung. Genau: Die ganze Dreadlock-Thematik ist gar keine der kulturellen Aneignungen – sondern wohl eher Ausdruck des mangelnden eigenen Kulturverständnisses, und das „Unwohlsein“, welches verunsicherte Bürger aus der links-alternativen Ecke beim Betrachten eines weissen Reggae-Musikers befällt, ist nur ein Prozess der kulturellen Selbstfindung.

Waldmeyer traf einen Entscheid: Er füllte sein Cognac-Glas nun nicht noch ein viertes Mal. Aber er beschloss für den Moment, zumindest was ihn und seine Aussenwirkung anbelangt, gar nichts zu ändern. Er entschied auch, sich demnächst kulturell nichts anzueignen. Er nahm sich vor, einfach Waldmeyer zu bleiben.

Fährt Waldmeyer 2035 elektrisch?

2035 ist bald. In der EU sollen dann nur noch CO2-freie Fahrzeuge verkauft werden. In der Schweiz wohl auch, denn wir tun immer das, was die EU tut, nur freiwillig, ohne dabei zu sein. Waldmeyer bleiben nur wenige Optionen.

Das mit dem Verbot von Verbrennerfahrzeugen ist beschlossene Sache: Ab 2035 dürfen in der EU nur noch CO2-freie Fahrzeuge verkauft werden. Gemessen wird am Auspuff. Es spielt also keine Rolle wie die (elektrische) Energie produziert wird. Mehr als fraglich ist zudem, ob überhaupt in genügender Menge Strom zur Verfügung stehen wird und wie dieser ins Auto reinkommt. So rettet Brüssel die Welt. Und die Schweiz wird mitmachen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Damit wird ein technologisch umweltfreundliches Gesamtkonzept verhindert.

Und was macht der Rest der Welt? In der Tat steht Europa alleine da. Der Rest der Welt entwickelt die Verbrennungsmotoren nämlich immer weiter – mit dem Ziel, deren Effizienz zu verbessern und die Umweltbelastung zu reduzieren. 

Europa wird 2040 also die Umweltbelastung immer noch am Auspuff messen (welchen es dann gar nicht mehr gibt), die Fahrzeuge aber vermutlich immer noch mit teilweise dreckiger Energie tanken. Immerhin entsteht so, zumindest gefühlt, eine saubere Luftsäule, genau bis an die Aussengrenzen Europas.

Allerdings stellt der Automobilmarkt Europas nur gut 20% des weltweiten Marktes dar. Der Rest der Welt wird auch nach 2035 „technologieoffen“ bleiben. China wird demnächst für mehr als einen Drittel des weltweiten Absatzmarktes verantwortlich sein, und das grosse Reich der Mitte entwickelt laufend immer effizientere und sauberere Verbrennerfahrzeuge. Intelligenterweise erfolgen diese Technologieanstrengungen parallel zur Elektro-Offensive. In Europa wird die Automobilindustrie angesichts der Vorschriften kaum mehr in die Forschung und Entwicklung von Verbrennern investieren. Die Chinesen werden uns also links überholen.

Waldmeyer stellte sich vor, wie es in unseren Städten ab 2035 aussehen könnte. Die Energiekrise wird dannzumal mit voller Wucht unser Leben erfasst haben. Gas gibt´s nur beschränkt, Atomkraft ist verboten, Diesel und Benzin sauteuer. Blackouts sind an der Tagesordnung. Nachdem die Politik den ganzen Energiebedarf der Haushalte, der Industrie und des Verkehrs auf Elektrisch umgestellt hatte, gleichzeitig es aber an der Versorgung mit dieser Elektrizität mangelt, wird es schlicht und einfach an Strom fehlen. Der Ausbau der Stauseen und die Erstellung von Pumpspeicherkraftwerken wird die Schweiz verpasst haben, und eine anderweitige Speicherung des Stroms, welcher z.B. der Sonne abgetrotzt wird, wird noch kaum flächendeckend möglich sein. In der Nacht und im Winter wird´s also düster – und kalt. Waldmeyer stellte sich vor, wie abends in den Strassen der Städte Abfälle in alten Öltonnen brennen, und nicht nur die Randständigen, sondern auch der Mittelstand wärmt sich um die spärlichen Feuer. Die Leute stehlen einander Brennstoff, um heimlich irgendeinen Generator laufen zu lassen, nur schon, um vielleicht ihr Handy aufladen zu können. Brandschatzende Horden ziehen durch die Strassen und klauen alles, was mit Energie zusammenhängt. Nur die Gutsituierten können sich etwas besser organisieren: In den Gyms treten sie fleissig in die Pedale, um mit dem so erzeugten Strom Energie-Zertifikate zu erwerben. Damit kann anschliessend z.B. ein elektrifiziertes Lastenrad aufgeladen werden. Waldmeyer stellte sich weiter vor, dass er ein solches Ungetüm dann wohl oder übel auch ohne Elektrounterstützung betreiben müsste – zumal er nicht gerne ins Gym geht.

„Du übertreibst wieder einmal masslos mit deinen Visionen, Max“, unterbrach Charlotte Waldmeyers laut artikulierte Reflexionen.

Aber Waldmeyer reflektierte weiter. Ein Lastenrad ist nämlich eine Strafe: für den Betreiber, die anderen Verkehrsteilnehmer, aber auch für den Beobachter. Denn optisch ist ein Lastenrad wirklich sehr hässlich. Zudem ist es gefährlich, das Ding lässt sich kaum richtig abbremsen, und um die Kurve geht´s auch nur mühsam. Ein Lastenrad versprüht zudem diese invasive Aura von zwanghaftem Grün-Sein, es ist ein politisch starkes Signal. Das mag bisweilen gewollt sein, ist auf jeden Fall aber ein Etikett. Waldmeyer fürchtete sich ganz einfach davor, längerfristig nicht darum herumzukommen.

Waldmeyer prüfte also die Angebote an Lastenrädern: Die peinlichen Gefährte, in Versionen ohne Elektrounterstützung, gibt es bereits ab gut CHF 2´000. Gegen oben ist die Skala offen. Ein „Load 75“ beispielsweise, ein wahres Flaggschiff unter den Lastenrädern, kostet gut und gerne mal CHF 10´000. Waldmeyer war indessen nicht schockiert, denn er wusste, dass in den Schweizer Städten allerlei Bestrebungen von linken und grünen Parteien im Gange sind, diese „Cargo-Bikes“ mit mehreren Tausend Franken (oder bis zu einem Drittel des Anschaffungspreises) zu subventionieren.

Bis vor kurzem war man beim Anblick dieser fahrenden Gestelle noch amused. Im Laufe der Zeit kippte die Aussenwirkung dieser unpraktischen Fahrzeuge indessen und sie wurde zur Provokation. Denn die LastenräderfahrerInnen strahlen immer so eine elitäre Überlegenheit aus, sie versprühen diese Arroganz der WeltenretterInnen. 2035, so befürchtet Waldmeyer, hätte man sich an diese lächerlichen Verkehrsmittel, die sich insbesondere bei Schnee und Regen und an Steigungen nicht als Verkehrshilfen, sondern als Verkehrshandicap profilieren, leider gewöhnt. 

Waldmeyer hoffte indessen, dass dannzumal, nebst Lastenrädern, auch technologisch hoch entwickelte und ökologisch optimierte Verbrenner-Autos, wenn auch aus China, wieder verkauft werden dürften. Vielleicht werden einsichtige Politiker bei uns erkennen, dass die Gesamtbelastung dieser modernen Fahrzeuge immer noch besser ist als elektrische Dreckschleudern mit Energie aus schmutzigen deutschen oder polnischen fossilen Kraftwerken.

Wie dem auch sei: 2035 wird es definitiv an Strom fehlen.  

Doch es gibt einen Lichtblick: Der mit Diesel betriebene Schwerverkehr wird auch nach 2035 noch kaum elektrisch fahren können. Das hängt mit den mangelnden Reichweiten der Batterien für die schweren Brummer zusammen, auch weil der Fernverkehr eben international stattfindet und die Elektroversorgung und ein rasches Aufladen für hohe Kapazitäten bis dann noch nicht möglich sein dürfte. Auch die viel diskutierten Wasserstoff-Lösungen werden 2035 noch nicht in Marktreife verfügbar sein. Also könnte es noch Diesel geben auf dem Markt!

Ein Teil des alten privaten Fahrzeugbestandes wird ohnehin auch nach 2035 noch weiter rollen; Benzin wird es nach ein paar Jahren allerdings vielleicht nur noch in der Apotheke geben. Bertha Benz musste sich wohl mit einer ähnlichen Versorgungslage auseinandersetzen, als sie 1888 das welterste Automobil über die staubigen Strassen Deutschlands prügelte.

Waldmeyer müsste infolgedessen entscheiden: Was sollte er sich anschaffen, das auch nach 2035 noch nachhaltig betrieben werden könnte? Waldmeyer hätte eigentlich nur drei Optionen:

Einerseits ein Lastenrad, andererseits eine moderne Dieselkarre (noch vor dem 31.12.2034 gekauft). Oder, aber eben erst später und nur vielleicht, ein modernes chinesisches Verbrenner-Auto. Am sichersten wäre indessen wohl das Lastenrad. Also doch. Und um Waldmeyers eingangs gestellte Frage zu beantworten, ob er 2035 elektrisch fahren würde: Waldmeyer hofft, zumindest teilweise, oder wenigstens ab und zu, ja, etwas elektrisch fahren zu dürfen – wenn sein Lastenrad ein bisschen aufgeladen werden dürfte. Ansonsten würde die Antwort lauten: Nein, er wird 2035 zwar ein Lastenrad fahren, aber dieses nicht elektrisch, sondern nur mit Muskelkraft bewegen. Das sind ziemlich trübe Aussichten – vor allem, nachdem Waldmeyer kurz nachgerechnet hatte, wie alt er sein würde im Jahr 2035.

Waldmeyer und die kulturelle Aneignung

Eigentlich hatte sich Waldmeyer vorgenommen, sich nicht auch noch in die Dreadlock-Affäre einzumischen und Fragen der kulturellen Aneignung zu stellen. Aber das ganze Thema ist einfach zu absurd, zu schön und zu verlockend, um es links liegen zu lassen.

Die Vorgeschichte ist uns sattsam bekannt: Lokale in Bern und Zürich veranstalten Konzerte mit weissen Reggae-Musikern, welche – wie entsetzlich – Dreadlocks tragen. Gäste fühlen sich ob dieser infamen kulturellen Aneignung „unwohl“, und die Musiker werden ausgeladen. Internationale Medien liessen es sich nicht nehmen, das absurde Thema aufzugreifen. Fortsetzung folgt.

Seltsam auch, dass gerade solche Lokale sich aus dem Kulturtopf staatlicher Subventionen bedienen, grosszügig alimentiert durch grüne und linke Exekutivpolitiker. Und ob all der tatsächlichen Probleme, wie Energiesicherung, Klimaveränderung oder Krieg in Europa kommen nun nicht nur staatstragende Fragen wie die umsichtige und 15 Jahre dauernde Auswahl eines neuen Kampfjets hinzu. Nein, jetzt geht es ans Eingemachte, nämlich generell um die wichtige soziokulturelle Frage, was wir künftig dürfen und was nicht.

Waldmeyer fragte sich, in einem lichten Moment, abends bei einem Glass Cognac, was denn reine Kultur ist. In Anlehnung an Nietzsche fast überlegte er, was wir denn kulturell durchgehen lassen sollten und was nicht. Natürlich gilt es, unsere eigene Kultur nicht zu fest zu durchmischen. Doch wenn die Kultur manchmal etwas arm ist, wie rein sollte sie denn wirklich bleiben? Heute ist es offenbar ein Gebot der Stunde, die Beimengung von additiver Kultur in homöapathisch richtigen Quantitäten – und ebenso rein – zu vollziehen. 

Vielleicht geht es ja nur um die kulturelle Selbstfindung von ein paar irrlichternden Aussenseitern? Waldmeyer nahm sich vor, bei einem weiteren Glass Cognac, das mal richtig durchzudenken.

Zum Beispiel: Würde es das Schweizer Kulturverständnis erlauben, mit Indianer-Schmuck die Zürcher Bahnhostrasse rauf- und runterzugehen? Waldmeyer meint: Ja, das sollte durchgehen. 

Dürfen wir Schweizer, mangels eigener bescheidener historischer Gastronomiekultur, eine Pizza essen? Champagner schlürfen? Oder an diesem Cognac nippen? Ja, das dürfen wir. Wo kämen wir denn sonst hin. Waldmeyer schenkte sich gleich noch etwas nach.

Aber darf man einen Bronzebuddha aus dem Thailandurlaub mitbringen? Und zuhause ins Buffet stellen? Nun, das geht durchaus. Aber wenn man es öffentlich tut, den Buddha auf die Bahnhofstrasse stellt und sich im Lotussitz davorsetzt und „Ohm“ brummelt? Grenzwertig. Es hängt wohl davon ab, ob bei Passanten dieses „Unwohlsein“ eintritt.

Darf man Yoga machen? Zuhause oder in geschlossenen Gebäuden: Ja, das geht.

Darf eine Simbabwerin beim Klavierspiel auf Mozart zurückgreifen? Aus europäischer Sicht ja. Aus lokaler afrikanischer Sicht eventuell nicht.

Durfte Hermann Hesse sich anmassen, „Siddharta“ zu schreiben? Oder erübrigt sich die delikate Frage, weil das Buch eh niemand verstand und somit keinen Schaden anrichtete?

Ist es vielleicht so, dass wir zurzeit kulturelle Vermischung mit kultureller Aneignung verwechseln? Aber wer verwechselt dies? Die linksalternativen Veranstalter der Reggae-Partys? Die Gäste? Oder nur die Medien?

Berechtigte Fragen häufen sich. Amerikanisches Junkfood zu konsumieren: Darf man? Ja, weil dieser Verzehr keinen kulturellen Vorgang darstellt, sondern Unkultur ist. Dann darf man. Man sollte vielleicht nicht – aber, weil es kein originärer “kultureller” Diebstahl ist, ist es (leider) erlaubt.

Damit kristallisierte sich für Waldmeyer bereits eine Lösung heraus: Vielleicht geht es um die Definition von „Kultur“? Wenn es „echte“ und wertvolle Kultur ist, darf man nicht, bei mangelnder Kultur darf man – zumindest aus einer soziokulturellen Perspektive. Nur: Sind Dreadlocks „wertvoll“, kulturell gesehen? Waldmeyer begriff indessen den Umstand, dass diese verfilzten Locken an sich nicht von kulturellem Belang sind, sondern nur eine Ausprägung der wertvollen jamaikanischen und erst noch schwarzen Reggaekultur. Und dann darf man offenbar nicht. Es scheint also darum zu gehen, diesen schmalen Grat zu erkennen, der die Kultur von der Nicht-Kultur trennt.

Waldmeyer fiel kürzlich auf, dass in Spanien Raclette-Käse verkauft wird. Raclette ist selbstredend ein Schweizer Kulturgut. Aber die Verkäufe sind ökonomisch wichtig, also wird dieser Export toleriert. Dass ein Spanier dann, am Ende der Lieferkette, ein Raclette verdrückt, muss hingenommen werden – ansonsten müsste man legal differenzieren zwischen Handel und Konsum, wie bei den Drogen. Oder beim Alkohol (da darf man unter 18 nicht kaufen, sich besaufen ist jedoch ok).

Deshalb das vernichtende Raclette-Fazit: Das mit dem schmalen Grat der Kulturdefinition führt leider auch nicht weiter. Der Beweis dafür, so fiel Waldmeyer jetzt erst auf, ist das Indianerkostüm: Ein Indianeroutfit kann sehr wohl eine wertvolle kulturelle Ausprägung sein, man denke nur an den schönen Federschmuck und an den kunstvoll geschnitzten Griff des Tomahawks. Also wäre das mit der Bahnhofstrasse trotz allem fragwürdig – weil kulturell. Jemand könnte sich „unwohl“ fühlen, z.B. gerade ein versprengter Juso, der sich im Quartier verirrt hat. 

Waldmeyer versuchte deshalb, ein weiteres Theorem zu formulieren: Wenn es keine Aneignung, sondern nur eine kulturelle Performance ist, könnte man vielleicht dürfen? Also wenn der Indianer auf der Bahnhofstrasse nur ein verkleideter Aargauer ist (mangels echtem Indianer) und er gleichzeitig noch eine Botschaft oder sonst etwas Kunstvolles produziert, so einen Regentanz, dann könnte man es doch durchgehen lassen! In der Filmindustrie sind ja auch allerlei lustige Verkleidungen erlaubt. Und genau hier unterscheidet sich eine solche Performance von Aneignung: Der weisse, Reggae spielende Dreadlockträger spielt nämlich keine Rolle. Er ist so und möchte so sein – eine durchaus ernste Angelegenheit. Dann wird, aus dieser reduzierten alternativen Perspektive eben, eine störende Aneignung vollzogen. 

Indessen muss der Grat, welcher das So-Tun und das So-Sein messerscharf trennt, genau erkannt werden: Das Blackening etwa, also das Schwärzen des Kopfes, müsste, als Performance, wohlüberlegt vorgenommen werden, um nicht missverstanden zu werden. Gerade in der Mohrenfrage verträgt es bekanntlich keinen Spass.

Vielleicht ist es so, reflektierte Waldmeyer weiter, dass man mangels eigener Kultur einfach etwas fremde beimischen muss, um überhaupt auf einen vernünftigen Kulturlevel zu kommen. Gerade wir Schweizer waren tatsächlich immer schon auf den Import von Kultur angewiesen. Einst ein einfaches Volk von Bauern und Söldnern, waren wir richtiggehend angewiesen auf kulturelle Aneignungen. Damit hatte Waldmeyer ein weiteres mögliches Theorem entdeckt: Bei eigenem Kulturmangel darf man durchaus!

„Charlotte, dürfte Serena Williams ihre langen schwarzen Haare blond färben?“, fragte Waldmeyer zu Charlotte rüber. „Das wäre natürlich auch eine kulturelle Aneignung“, überlegte Charlotte laut und messerscharf, „zumal sie eine öffentliche Person ist. Wenn man es ihr indessen verbieten würde, wäre es rassistisch.“ Jetzt fiel es Waldmeyer wie Schuppen von den Augen: Rassismus-Vergehen gelten offenbar nur für Weisse.

Waldmeyer und das Nichtstun

Beim Wein ist es vielleicht so wie in der Politik: Durch Nichtstun wird das Ganze nur besser. Waldmeyer überlegte deshalb, ob er nun den Terre Brune in seinem Keller etwas länger lagern sollte. Oder doch besser trinken, und dann neuen bestellen? Vielleicht gar keinen jungen Jahrgang kaufen, sondern gleich einen älteren?

Politiker zerschlagen oft weniger Geschirr, wenn sie nichts tun. Das entspricht in der Regel auch dem Krisenmodus im Bundesrat: Wenn’s brenzlig wird und Entscheidungen und Tempo angesagt sind, tut er oft erst mal nichts. Angela Merkel hatte diese Taktik besonders ausgefeilt: Sie strahlte immer Ruhe aus, formierte erst einmal ihre unsägliche Raute mit den Händen und sagte und tat dann … nichts.

Das muss nicht immer falsch sein, denn Nichtstun verhindert oft grössere Fehler als ein Tun auslösen könnte – weil das Tun dann eben unüberlegt und falsch ist. Fatal ist, wenn beides zusammenkommt: Einerseits grossflächiges Nichtstun, andererseits, bei den raren Entscheiden dann, ein falsches Tun.

Mutti Merkel war eigentlich die Inkarnation der unglücklichen Paarung von Nichtstun und falschem Tun, resümierte Waldmeyer. Jetzt sitzt sie stumm zu Hause, kocht allenfalls ihre berühmte Kartoffelsuppe und macht wieder … nichts. Ihre Nicht-Entscheide oder die falschen Entscheide ziehen sich, einer politischen Blutspur gleich, durch 16 fatale Regierungsjahre.

Eine pazifistisch verbrämte Haltung – vielleicht bedingt durch ihre DDR-Vergangenheit – führte erst einmal zu einer Verkümmerung der Bundeswehr. „Da gibt es heute nur noch Warmduscher mit kaputten Waffen“, dachte Waldmeyer laut. „Wenigstens haben die keine Homeoffice-RS“, warf Charlotte ein. Stimmt.

Aber zurück zu Merkel: Gleichzeitig mit ihrem Regierungsbeginn wurde mit dem Bau der Nordstream 1 begonnen, welche aus russischer Sicht die Umgehung der Ukraine zum Ziel hatte und die Abhängigkeit des europäischen Westens von den Ressourcen des verblassten Sowjetreiches beschleunigte. Und Putin frische Finanzmittel in seinen korrupten Staatshaushalt spülte.

2008, im gleichen Jahr, als Georgien von Russland überfallen wurde, stand auch die Aufnahme der Ukraine in die Nato zur Diskussion. Merkel hatte sie verhindert, sie hatte sich am stärksten dagegen gewehrt. Hier dürfen wir ihr allerdings keine Bösartigkeit unterstellen – es war schlichtweg Naivität und die panische Angst vor dem Groll Putins.

2014 war das Jahr der Annexion der Krim. Spätestens jetzt hätte man die Glocken läuten hören sollen. Und wieder war es unter anderem Merkel, welche die Weichen falsch stellte: Sanktionen gegen Russland waren nur Feigenblätter. Im gleichen Jahr wurde gar mit der Detailplanung von Nordstream 2 begonnen. Der Ukraine wurde nach dem Überfall auf die Krim nur mit Lippenbekenntnissen und Nichtstun geholfen – obwohl es, angesichts der Geschichte, gerade an der Bundesrepublik gewesen wäre, hier Farbe zu bekennen. 

2015 folgte dann „Wir schaffen das“. Angela trat mit ihrer vollkommen falschen Beurteilung der Flüchtlingssituation in eine fatale politische Falle. Die Diskussion um die Personenfreizügigkeit und die Flüchtlingspolitik waren es letztlich, welche den Brexit befeuerte und den Austritt der Briten verursachte – und damit Europa als Ganzes schwächte. Leider erneut Merkels Schuld. Oder zumindest ihre Mitschuld.

Inzwischen wurde in Deutschland ziemlich unbedacht die Energiewende mit einer radikalen Abkehr von der Atomenergie eingeleitet, worauf die Abhängigkeit von Russland als Energielieferant noch weiter stieg. Diese gipfelte am Schluss sogar in der Erfindung der „Brückentechnologie“, wonach Gas plötzlich, „vorübergehend“, als grüne Energie deklariert wurde. So wollte sich Deutschland schneller von Kohle- und Atomstrom entledigen. Doch auch hier nur, schon wieder, mittels einer Steigerung der Energieabhängigkeit von Russland. Auch unsere Konzertpianistin (Simonetta Sommaruga) sprang auf diesen Zug auf. Nun ist es merkwürdig still geworden um die geplanten grossen Gaskraftwerke.

Das mit dem Nichtstun, welches Schlimmeres verhindert, stimmt wohl eben doch nicht, reflektierte Waldmeyer. Er sass vor dem Kaminfeuer und schenkte sich nochmals ein Glas Terre Brune ein. Das Holz im Kamin knisterte angenehm; es handelte sich um die Überreste des alten Apfelbaums, den Waldmeyer im März 2014, kurz nach der Krim-Annexion, eigenhändig gefällt hatte. So ein Feuer ist eben „sustainable“, überlegte er. Wie der Terre Brune.

„Hätte die Merkel anders gehandelt, hätte dieser irre Putin die Ukraine vielleicht nicht angegriffen“, meldete Waldmeyer zu seiner Frau rüber. 

„Wir haben auch dem Nichtstun gefrönt, Max. Hätten wir in der Schweiz nicht 200 Milliarden von kleptokratischen russischen Oligarchen entgegengenommen und würden wir nicht einen Grossteil des korrupten russischen Rohstoffhandels unbehelligt über die Schweiz abwickeln, hätte Putin vielleicht gar nicht die Mittel erhalten, die Ukraine zu überfallen“, meinte Charlotte lakonisch. Sie nippte nun, entgegen ihren Gepflogenheiten, ebenso an einem Glas Terre Brune.

Wenn das so weitergeht, wird der Terre Brune eventuell knapp, vielleicht sollte er etwas mehr bestellen, schoss es Waldmeyer durch den Kopf. Verknappung der Ressourcen, Lieferkettenprobleme, nun auch in Meisterschwanden …? Andererseits: Vielleicht sollte man nicht auf zu hohem Niveau lamentieren. Und vielleicht hatte Charlotte ganz einfach recht: Die Schweiz hat mit Nichtstun ebenso beigetragen zu diesem geopolitischen Desaster.

Waldmeyer fasste wieder einmal einen klassischen Management-Entscheid. Ohne zu zögern, eben nicht wie ein Politiker: Er nahm sich dringend vor, morgen als erstes gleich Terre Brune nachzubestellen.           

Waldmeyer und die Modewörter

2018 waren es noch Genderbegriffe. Max Waldmeyer hatte sich schon damals in die Nesseln gesetzt, als er anlässlich eines Schulbesuches diesen Peter Holenstein (Laras Lehrer) als „Lehrerin“ ansprach. Es kam nicht gut an. 

Waldmeyer hatte schon immer Probleme mit den plötzlich aufkommenden neuen Begriffen. Doch alle Rechtfertigungen nützten nichts, damals, in der Causa Holenstein. Dabei hatte Waldmeyer es nur gut und genderfreundlich gemeint. Seine Tochter Lara hat ihm das bis heute nicht verziehen und rächt sich seither mit ihren Schreibweisen – mit Sternen, Unterstrichen oder diesen dämlichen Wortkombinationen mit „Innen“. Immerhin schaffte es Waldmeyer seither, solche unästhetischen Schreibweisen nie selbst zu verwenden und Zeitungsartikel, welche durchwegs nur die feminine Form verwenden (es gibt dann tatsächlich nur „Lehrerinnen“, vielleicht auch nur „Mörderinnen“) sofort wegzulegen.

„Ich kümmere mich jetzt mal um den Garten“, meldete Waldmeyer zu Charlotte rüber. Es war ein trüber Samstagmorgen. Gartenarbeit hat den Vorteil, dass man dabei gleichzeitig Gescheites reflektieren kann, freute sich Waldmeyer.

Also stapfte er in seinen Garten in Meisterschwanden und spann seine Gedanken weiter. In Sachen Modewörter eben. Vorletztes Jahr ärgerte er sich über das Wort „Gentrifizierung“. Keine Ausgabe der Tageszeitung, kein gescheiter Aufsatz ohne dieses Wort. Zu Beginn googelte Waldmeyer noch: Mit Gentrifizierung war der sozioökonomische Strukturwandel einer Stadt oder eines Stadtviertels aufgrund allerlei Einflüsse von aussen gemeint. Soho in London beispielsweise produzierte eine ganz angenehme Ausprägung von Gentrifizierung, zumindest für Aussenstehende. Barcelona ist ebenso ein Beispiel für diesen Wandel, die Stadt besteht heute allerdings nur noch aus Touristen, welche Airbnb-Wohnungen suchen; die Einheimischen finden das gar nicht lustig. Zürich-West ist eine weitere – geplante – Gentrifizierungs-Geschichte: Hier versucht die Stadtverwaltung mit allen Mitteln, das bünzlige Aussenquartier in einen hippen Stadtteil zu verwandeln. Was bis heute allerdings nur im Ansatz gelang.

Wenn dann selbst Schweizer Lokalblätter von Gentrifizierung, so beispielsweise einer Agglomeration im Aargau, sprechen, ist der Begriff endgültig durch. Es ist so wie mit der Börse: Wenn die Putzfrau mit Spekulieren beginnt und das Gespräch diesbezüglich mit dir sucht, ist die Sache vorbei – gleichentags noch solltest du in diesem Fall sofort alles verkaufen. Das Gleichnis diente Waldmeyer zur Illustration von Modewörtern: Wenn ein Begriff inflationär gebraucht wird, ist er eben verbraucht. Dessen Verwendung grenzt dann schon fast an Peinlichkeit. 

Das Unwort des Jahres 2021 war „Pushback“, 2020 war es „Corona-Diktatur“. Interessanter 2017: „Alternative Fakten“. Das war immerhin etwas wirklich Einnehmendes, ein richtig starkes Wort: alternative facts. Trump sei Dank. Es läutete ein Zeitalter ein, in dem Fakten sich neu verwischen dürfen: Ab diesem Moment durfte man die Wahrheit umkrempeln und deren neue Darstellung als das Richtige präsentieren. PR-mässig eine Sonderleistung, moralisch etwas vom Verwerflichsten, was die „Zivilisation“ in den letzten Jahrzenten hervorgebracht hat. Der russische Aussenminister Lawrow verdient diesbezüglich auch einen Kaktus.

Und jetzt geht es täglich um das „Narrativ“. Alles ist ein Narrativ. In jeder Talksendung, in jedem Artikel wird jetzt ein Narrativ besprochen. Früher gab es offenbar keine Narrative, jetzt laufend. Eigentlich ist der Begriff nichts anderes als eine Abwandlung von Trumps alternative facts: Narrative sind erzählende und sich festhaftende Darstellungen. Clichés, die sich durchgesetzt haben und auf denen aufgebaut wird. „Syrier integrieren sich nicht“, „Franzosen denken nur ans Essen“, „Spanier handeln im Sinne des mañana“. „Der Westen ist selbst schuld, dass die Russen die Ukraine attackiert haben – wegen der Osterweiterung der Nato nämlich“. Das ist zurzeit das beliebteste Narrativ. Es wird von Russland verbreitet und hat sich an vielen Orten festgesetzt. Oder zumindest unterschwellig als Erklärungsteil etabliert. Der rechte Flügel der SVP und andere Putinversteher haben dieses Narrativ übernommen.

Die Fakten sind indessen anders, betreffend der Osterweiterung. Deshalb ärgert sich Waldmeyer besonders über dieses blöde „Narrativ“. Hatte es kürzlich tatsächlich eine Osterweiterung gegeben? Nein! Dass Montenegro etwa, das Exjugoslawienland mit einer Armee von 1‘600 Mann (wohl etwa so viel wie die Feuerwehr in Zürich), vor ein paar Jahren der Nato beigetreten ist, kann beim besten Willen nicht als Osterweiterung taxiert werden – zumal Montenegro südlich liegt. Vor 18 Jahren sind u.a. die baltischen Staaten der Nato beigetreten, aus nackter Angst vor dem post-sowjetischen Imperialismus. Freiwillig. Was wäre wohl geschehen, wenn diese Staaten heute nicht in der Nato wären? Hätte sie sich Putin noch vor dem Frühstück einverleibt? Im Frühjahr 2008 wurden die Nato-Beitrittsgesuche der Ukraine und Georgiens abgelehnt (Deutschland und Frankreich legten ihr Veto ein). Ein paar Monate später wurde Georgien von Russland attackiert und die Gebiete Südossetien und Abchasien erobert – die bis heute unter russischer Kontrolle sind. 2014 war dann die Ukraine an der Reihe, die Krim und der Donbass wurden überfallen und ebenso dem Putin-Reich angehängt. Und 2022 ist nun die ganze Ukraine an der Reihe. So sieht eine Westerweiterung aus. Eine Osterweiterung der Nato fand, seit 2004, nie statt. Aber eben: das Narrativ … Das Narrativ definiert, dass der Westen eine aggressive Osterweiterung der Nato vornimmt – oder plant –, Russland deshalb verärgert ist und es somit Verständnis für seine imperiale Reaktion braucht. Der selbstverliebte Weltwoche-Verleger und SVP-Rechtsaussen Roger Köppel z.B. ist ein Russland-Versteher in diesem Sinne. Aber auch andere irrlichternde Protagonisten bedienen unablässig dieses Narrativ – in kompletter Ausblendung der Geschichte, bis zurück ins Zarenreich. Medwedew, einer der wichtigsten Adlaten Putins, formulierte es kürzlich kristallklar: Er wünschte sich ein „freies Eurasien von Wladiwostok bis Lissabon“. Russland war immer, ist es und wird es leider auf absehbare Zeit bleiben: imperial. „Osterweiterungen“, sofern es diese denn überhaupt gab, hatten überhaupt keinen Einfluss. Narrative halten sich eben, wenn sie geschickt lanciert werden.

2022 wäre „Zeitenwende“ als Unwort angebracht. Nur schon, weil es insbesondere deutsche Politiker dauernd verwenden, ohne auch die Massnahmen konsequent einzuleiten, die eine Zeitenwende verdient hätte. Immerhin wurde ein Tankbonus verteilt (Kosten: drei Milliarden Euro, mittels Giesskannenprinzip verteilt), um die Wende kurzfristig abzuwenden. 

Wie dem auch sei: Waldmeyer versuchte, sich wieder seinem Garten zuzuwenden. Das Stück Land, das er nun zusätzlich vom Nachbarn abkaufen konnte, wird sein Grundstück in Meisterschwanden schön abrunden. Er arbeitete persönlich an der nötigen Humus-Aufschüttung auf der Morgenseite seines Grundstückes, im Osten also. Eine schöne Aufgabe, so sah man auf jeden Fall nach ein paar Stunden einen Effekt – in der Firma war das eher selten. Und gleichzeitig konnte man Narrative analysieren.

„Bist du jetzt fertig mit der Aufschüttung?“, fragte Charlotte gegen Abend.

„Du meinst die „Osterweiterung …?“, fragte Waldmeyer zurück und erschrak. Hatte er jetzt soeben ein Narrativ bedient?

Keine Waldmeyer-Glosse verpassen!

Ich melde mich für den Newsletter an und erhalte alle zwei Wochen per Email eine kurze Info.

Sie haben sich erfolgreich angemeldet

There was an error while trying to send your request. Please try again.

TRUE ECONOMICS will use the information you provide on this form to be in touch with you and to provide updates and marketing.