Waldmeyer staunte nicht schlecht: Das Zürcher Stadtparlament, fest in grün-roter Hand, plant doch tatsächlich, künftig private Grünflächen und Dachterrassen öffentlich zugänglich zu machen. Das war jetzt doch mal was: mehr teilen, mehr gemeinsam, gelebte Sharing Economy quasi. Durchaus etwas marxistisch. Das Gemeinsame soll im Vordergrund stehen. Wird Zürich nun zu einem riesigen Kibbuz?
Waldmeyer dachte an seine ältere Schwester Claudia (früh-pensionierte Lehrerin, Otelfingen, SP, Kurzhaarfrisur, lustige farbige Brille): Diese verbrachte in den Siebziger Jahren tatsächlich ein paar Wochen in einem israelischen Kibbuz – wohl eine Vorstufe des Zürcherischen Gesellschaftsmodells, wie es heute ein paar versprengte, aber nichtsdestoweniger einflussreiche alt-sozialistische Grüne andenken.
Waldmeyer dachte auch an seine jüngere Schwester Gabi (Zürich, ledig, Mobility, Co-Working-Space, Grün-Liberal, weisse Sneakers, viele Apps): Diese wohnt in einer coolen Altbauwohnung mit Zugang zu einem kleinen Dachgarten – welchen sich die Bewohner der Liegenschaft allerdings teilen müssen, ganz im Sinne dieser gelebten Sharing Economy, welcher seine Schwester generell huldigt. Waldmeyer freute sich darauf, Gabi danach zu fragen, ob sie es lustig fände, wenn sich künftig ein paar zusätzliche Zürcher (oder auch Sans-papiers) auf dem Dachgarten breit machen würden. Nicht nur im Sinne der Sharing Economy, sondern auf einer höheren Stufe, der Sharing Societyeben.
Waldmeyer lief es kalt den Rücken runter: Eigentum soll nun kollektiviert werden? Verkommt unser schönes Land zu einer sozialistisch verbrämten Bananenrepublik? Kommt es gar zu Kollektiven, wie sie in unserem nördlichen Nachbarland (der ehemaligen DDR) bis vor gut 30 Jahren praktiziert wurden? (Wobei derlei „Kollektiven“ natürlich streng geführt wurden und das Kollektive sich darin erschöpfte, dass kollektiv alle nichts an der Kollektive besassen.) Eine Vorahnung liefert uns im Moment Berlin: Dort werden Mieten per Dekret runtergesetzt, man denkt an Verstaatlichung eines grossen Teils der Immobilien – und die Immobilien-Investoren ziehen sich, konsequenterweise, in corpere aus dem Bundesland zurück.
Doch zurück zu Zürich: Bahnt sich hier vielleicht nur ein Zürcher Modell venezolanischer Prägung an, also ein Prozess ganz normaler Verstaatlichung?
Acht Quadratmeter Grünfläche pro Einwohner sind künftig in Zürich geplant, fünf Quadratmeter für jeden Arbeitnehmer. Das ist die definierte Norm, um Glück und Lebensqualität in einer Stadt zu garantieren. Und, so die Idee, diese Grünverteilung sollte innerhalb der Stadt erfolgen, denn es kann ja nicht jeder über Mittag gleich auf den Üetliberg – das wäre nicht zumutbar. Zudem zählen die Grünflächen rund um Zürich nicht zu den geplanten Erholungsflächen. Sie liegen zu weit weg von der Innenstadt, oft abgetrennt durch eine Strasse, und ihr Erholungswert, so meinen die visionären Politiker, sinke damit rechnerisch auf null.
Die planungsgetriebenen Zürcher Politiker machen nun einen Bedarf von einer Million Quadratmeter an zusätzlich benötigten Erholungsflächen aus. Waldmeyer überlegte: Müsste für pöbelnde und Redbull-trinkende Halbstarke nun künftig die öffentliche Zugänglichkeit zum privaten grünen Innenhof durch die ebenso private Küche gewährleistet werden? Dürfen Zürcher Junkies künftig durchs Wohnzimmer schlurfen, um zum Kiffen in die Dachgärten zu steigen?
Aber Waldmeyer dachte weiter, er begab sich quasi in einen Wartesaal des Konjunktivs: Was wäre z.B., wenn noch viel mehr verkollektiviert wird? Die Transportmittel etwa (inklusive die E-Bikes der grünen Politiker), seine IWC, das Bankkonto? Sein Schwimmbad an dem ansehnlichen Anwesen in Meisterschwanden? Oder schlimmer: seine Organe?
Aber das wäre vielleicht gar nicht so abwegig: Seine (Terre Brune gesättigte) Leber z.B. wäre nämlich nur bedingt transplantationsfähig. Also müsste man vielleicht gerade diese dem Kollektiv anbieten, als Pfand sozusagen, um nicht andere Dinge abgeben zu müssen!
Damit stand nun der politische Deal: ein Stillhalteabkommen. Eine Organspende – im Todesfall natürlich nur – gegen, beispielsweise, den persönlichen Dachgarten. Es handelte sich sozusagen um eine Situation wie mit den Klimazertifikaten, also um einen Ablass-Handel, ohne überhaupt handeln zu müssen.
Waldmeyer freute sich über diese Hypothese. In der künftigen kollektiven Gesellschaft könnte es vielleicht doch noch Verhandlungsspielraum und gesunder Geschäftssinn geben.
Waldmeyer war schon ein bisschen perplex: Da gibt es Zürcher Restaurants, welche elf CHF (ja, 11.00 Franken!) pro Gramm Trüffel verlangen. Die edle Knolle wird natürlich nur in homöopathischen Dosen über die Pasta gehobelt. Ein Kilo käme nämlich hochgerechnet auf CHF 11‘000.- zu stehen.
Etwas jedoch konnte nicht stimmen. Waldmeyer ergoogelte, dass ein Kilo Trüffel auf dem Markt im Piemont oder in der Provence rund 1‘000.- Euro kostet. Im Internet im Schnitt 2‘000.-, im Grosshandel jedoch nur 250.-. Der „Spread“ ist damit enorm, unglaubliche Multiplikator-Gewinne scheinen sich aufzutun. Also in Trüffel investieren? Mit Trüffel handeln? Trüffel als Anlage-Währung nutzen?
Die Sache ist anspruchsvoll. Gold zum Beispiel ist Gold, Trüffel aber ist nicht gleich Trüffel. Weisser Trüffel beispielsweise ist wesentlich teurer als schwarzer, da intensiver. Der tatsächliche Preis von durchschnittlich 2‘000 Euro oszilliert nämlich zwischen 500.- bis 3‘500.- Euro. Im Schnitt immerhin 25-mal günstiger als Gold. Aber in gewissen Zürcher Restaurants sublimiert sich dann das Preis-Verhältnis Trüffel/Gold offenbar auf den Faktor fünf. Also nur noch fünfmal günstiger als Gold.
Was Waldmeyer mit einiger Konsternation ebenso zur Kenntnis nehmen musste: Mit zunehmender Menge steigt der Preis! Tatsächlich, der Trüffel straft sämtliche makroökonomische Regeln Lügen, denn je schwerer und grösser ein einzelner Trüffel ist, desto höher liegt sein Preis – nicht tiefer. Eine inverse Preis-Mengenkurve also. Das hatten wir doch schon bei Louis Vuitton: Wäre der Preis für das Plastik-Täschchen tiefer, würde die Nachfrage zurückgehen. Das Trüffel-Phänomen scheint sich jedoch nicht aufgrund einer marketing-psychologischen Veräppelung zu ergeben, sondern aus dem Verhältnis Trüffelrinde zu Trüffelfleisch, welches sich mit zunehmender Trüffelgrösse verbessert. Die kleinen Trüffel bestehen offenbar vor allem aus Rinde.
Ein weiteres Handicap, so analysierte Waldmeyer weiter: die Haltbarkeit von nur 14 Tagen. Ausser man verbuddelt die Trüffel wieder mühsam in der Erde.
Das alles erschwert selbstredend den Entwurf eines attraktiven Businessplans, reflektierte Waldmeyer – folglich müssten Alternativen her.
Also doch lieber Gold? Oder besser die Vorstufe von Gold, Anteile an Goldminen? Oder noch raffinierter: Lizenzen für Goldminen? Diese könnten von sehr viel bis gar nichts wert sein, also müsste eine entsprechende Investition über einen unglaublichen Hebel verfügen – sofern man natürlich den richtigen Einstiegszeitpunkt erwischt.
Die Glühlampe, die Waldmeyers Garagist kürzlich an seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) auswechseln musste, verfügte über einen ebenso beachtlichen Hebel: 28 Franken auf der Rechnung, versus wohl ein paar bescheidene Cents für die Produktion. Ähnlich wie das Ladekabel für Waldmeyers iPhone. In solche Dinge müsste man also investieren! Besonders heute, wo wir über unglaublichen Informationszugang verfügen und der ganze Globus auf Vorgarten-Grösse geschrumpft ist.
Es geht also um den Hebel. Den erhält man in der Tat oft mit Investitionen in die Vorstufe. Man ist also nicht so blöd und kauft und verkauft Öl, sondern man handelt mit Öl-Kontrakten, oder mit Öl-Optionen. Man kauft besser etwas, das man gar noch nicht kriegt, und verkauft es, bevor man es hat. Banken machen es ja auch so: Sie versuchen Zinsen einzunehmen, bevor sie die eigenen Zinsen bezahlen müssen – allein schon mit diesem Time-Gap, nicht mit der Zinsdifferenz, lassen sich dann die Boni zwischendurch finanzieren. Clevere Onlinehändler machen das auch: den Umsatz einsacken, bevor die Ware bezahlt ist. Kein Wunder, hat dieser Jeff Bezos so viel Vermögen angehäuft.
Waldmeyer hatte inzwischen den Faden zu den Trüffeln verloren. Er überlegte noch einmal, wie man hier trotzdem Geld verdienen könnte, die Marge ist ja phänomenal. Allerdings: Die Lagerung bereitete ihm etwas Kopfzerbrechen. Charlotte hätte wohl keine Freude, wenn er den Keller in der schönen Villa in Meisterschwanden mit diesen olfaktorisch intensiven Knollen belegen würde. Ein paar Apfelhurden voller Trüffel könnten allerdings locker ein paar Hunderttausender wert sein. Intelligenterweise müsste man jedoch auch im Trüffelgeschäft besser in die Vorstufe investieren. In Trüffelschweine etwa? Oder angenehmer: in Trüffelhunde? Aber, wenn schon, dann gleich in eine Trüffelhundezucht? Oder noch besser: in Trüffelhundezucht-Lizenzen? Nein, gewitzter: in den Handel mit solchen Zucht-Lizenzen, falls denn tatsächlich eine solche Plattform bestünde!? Und dann den Trüffelhundzuchtlizenzhandel hedgen – das wäre quasi agronomische Fintech.
Nein – es war alles zu kompliziert. Vielleicht ist der profane Konsum doch besser als die Anlage? Das ist bei vielen Dingen so; Waldmeyer dachte dabei an seinen Weinkeller – die dort gelagerten Terre Brunes, zum Beispiel nur, waren nie als Anlage gedacht, sondern für den persönlichen Konsum, exklusiv nur für ihn. Und sie machen trotzdem Freude.
„Charlotte, gehen wir heute ins Tre Fratelli? Luigi soll inzwischen die neuen Trüffel aus dem Piemont erhalten haben!“
„Ja, das wäre eine gute Option“, erwiderte Charlotte.
Waldmeyer blickte Charlotte entgeistert an: „Option…? Handelst du etwa mit Trüffeloptionen?“
Die meisten Regierungen agieren immer noch im Blindflug auf die Pandemie. Das heisst, sie agieren kaum, denn sie können aufgrund der Datenarmut nur reagieren. Mittels Erhebungsmetoden aus der Marktforschung könnte hier rasch Abhilfe geschaffen werden.
Rebecka Carpenter lebt in Dubai und in der Schweiz. Sie engagiert sich für Fragen aus den Bereichen der Soziologie, der Makroökonomie und der Marktforschung. Ihr Beitrag in True Economics vom 9. April hat einige Wellen geworfen, unter anderem bis zu Entscheidungsträgern im Fernen Osten. Wir haben nun nachgefasst – ein spannendes Interview!
Corona – Informationspyramide
T-E: Rebecka, sind Sie nun auch Epidemiologin?
RC (lacht): Ja, klar! Es gibt nun ja gut 8 Millionen Epidemiologen – alleine in der Schweiz! Wir befinden uns zurzeit eben in einer Sondersituation: Die Regierungen und eigentlich auch die Epidemiologen verfügen über kaum mehr Informationen als ein aufmerksamer Bürger, der versucht, die Flut an Medieninformationen zu bewältigen. Da ist plötzlich jeder Epidemiologe. Nicht Virologe natürlich, das wäre zu technisch.
T-E: Sie verfolgen einen anderen Ansatz: die systematische Datenerhebung mittels Random-Methode. Wieso wird denn das bei der Krisenbewältigung nicht gemacht?
RC: Da und dort wird das nun gemacht – aber sehr zögerlich. In Südkorea seit Monaten schon, in Island, Österreich vereinzelt, punktuell jetzt in München. Oder in den USA beispielweise, allerdings auf falsche Weise: 3‘000 willkürlich getestete Personen vor einem Supermarkt sind nicht repräsentativ – ein Fake-Random, sozusagen.
Testen bringt viel. Aber wenn nicht genügend Testmaterial zur Verfügung steht, bleibt nur die Stichprobe. Wenn nur Leute mit Symptomen getestet werden, bringt das auch nur eine Teilinformation. Wir möchten hingegen wissen, wie es im ganzen Land und/oder einer Region aussieht, also müssen Daten random-mässig erhoben und hochgerechnet werden. Dafür braucht es gar nicht so viel Testmaterial.
Marktforschungsinstitute könnten binnen Tagen Abhilfe schaffen. Die wissen, wie man solche Stickproben repräsentativ auf die Beine stellt. Die ausgewählten Personen können anschliessend sofort zu einem Test aufgeboten werden, und hinterher könnten, zusammen mit den Epidemiologen, fundierte Entscheide vorbereitet werden – die volkswirtschaftlich vermutlich weit weniger schädlich wären.
T-E: Also wären jetzt die Politiker gefragt, solche Randomtests einzuleiten!
RC: Nein, bitte nicht die Politiker! Sondern die Krisenstäbe. Und hier liegt schon mal das erste Problem: Unsere Krisenstäbe bestehen vorab aus Politikern oder Verwaltungsleuten, welche ungeeignet sind für ein Krisenmanagement. Ein Krisenstab sollte ein professioneller Führungsstab mit Spezialisten sein. Bundesräte z.B. eignen sich hier nur bedingt.
Dieser Krisenstab sollte also Marktforscher, Epidemiologen und Virologen zusammenbringen. Wohlverstanden: zusammenbringen. Der Stab selber muss natürlich aus führungs- und kommunikationserfahrenen Krisenspezialisten bestehen. Marktforscher und Epidemiologen reden übrigens nicht freiwillig miteinander; man müsste sie also dazu verdonnern.
T-E: Das verwundert. Beide Seiten sind doch in statistischen Fragen beschlagen!?
RC: Es ist ein psychologisches und ein narzisstisches Problem: Die Naturwissenschaftler pflegen empirische Statistik und extrapolieren Kurven. Marktforscher sind ungenau, machen Stichproben, erhalten so jedoch ein Big Picture. Das passt eben nicht genau zusammen. Die Genauigkeit via Random-Methode würde indessen absolut ausreichen, um den Nebel zu lichten. Dann kann auch vernünftig entschieden werden.
T-E: Aber das Bild verändert sich doch laufend. Die Daten von gestern sind nicht die Daten von heute!
RC: Klar, deshalb müssen die Untersuchungen periodisch erfolgen, mit vergleichbaren Samples. Dann sehen wir auf der Zeitachse genau, was passiert.
T-E: Im Moment scheinen fast alle Staaten nichts zu wissen: wie viele sind infiziert, wie viele sind immun, usw.
RC: Genau. Es geht noch weiter, sie wissen in der Regel auch nicht, ob die aufgeführten Todesfälle wirklich alle auf Covid-19 zurückzuführen sind.
T-E: Wohl ein Problem der Pathologie, nicht der Marktforschung…
RC: Jein. Man muss ja nicht gleich alle aufschneiden. Auch hier könnten Stichproben reichen. Das wäre Random-Pathologie.
Wenn das alle Staaten einigermassen gleich machen würden, gäbe es wohl bessere Erklärungen für die grossen Unterschiede bei den heutigen Todesfallraten. In Deutschland z.B. wird viel mehr pathologisch untersucht als in der Schweiz. So entsteht vielleicht die hohe Todesfallrate bei uns – wenn nämlich gleich jeder infizierte Tote als Coronaopfer identifiziert wird, ohne dies auch genau zu untersuchen. Wir wissen einfach zu wenig, leiten dann aber auf Basis dieses Unwissens Lockdown-Entscheide ab, die vielleicht unnötig sind. Mit fatalen wirtschaftlichen Auswirkungen. Das ist unseriös.
T-E: Was wären also die konkreten Massnahmen für eine Informationsgewinnung, die nur die wirklich nötigen Einschränkungen auslösen würde?
RC: Wir brauchen ein Informationsmodell in Pyramidenform (Redaktion: siehe Chart oben). Erstens Random-Methoden zur Erhebung der Infektionsrate und deren Entwicklung. Wir vermuten, dass die Infektionsrate in der Schweiz beispielsweise bei ein paar wenigen Prozenten liegt. Wir wissen es aber nicht, wir testen ja nur Leute mit Symptomen. Und dann vergleichen wir zu allem noch die Länder miteinander, welche, in unterschiedlicher Weise und auch nur entsprechend der Verfügbarkeit von Testmaterial, ihre Tests durchführen. Es wird ja nur getestet, wer ein bisschen hustet – nun ziemlich übertrieben dargestellt. Wir vergleichen also Äpfel mit Birnen. Aber täglich werden in den Medien die Anzahl entdeckter Infektionen heruntergebetet. Das hat rein gar nichts mit der Infektionsrate zu tun!
Gleichzeitig, so zweitens, könnte mittels Random-Methode die Immunitätsrate für ein Gebiet oder ein Land eruiert werden, auch hier repräsentativ und periodisch; die Zeitachse müssen wir gut im Griff haben. Wenn wir beispielsweise verlässlich hochrechnen könnten, wie viel Prozent der Bevölkerung immun sind, und wie schnell sich die Immunität entwickelt, könnten wir seriöser extrapolieren. Vielleicht kämen wir zum Ergebnis, dass es mit unseren Lockdown-Massnahmen zwei Jahre dauern könnte, bis wir eine Herdenimmunität von heute vielleicht 2-3% auf 60-70% erreicht hätten. Dann würden wir sofort erkennen, dass unsere Einschränkungen nicht reell waren – auch nicht im Hinblick auf die künftige unsichere Erhältlichkeit von Medikamenten und Impfstoffen. Aber das ist nur Spekulation – wir kennen die Immunitäts- und die Infektionsraten einfach nicht, und wir wissen nicht, wie sie sich entwickelt. Marktforschungsinstitute könnten ziemlich zuverlässig Samples definieren und die entsprechenden Personen definieren, die es dann zu testen gilt. Das wäre kein grosses Unterfangen.
Die weiteren Pyramidenstufen, die mit den Hospitalisierten und Intensivbetreuten, sind einfacher zu erheben. Wir müssen nur aufpassen, dass wir streng definieren, was „Corona-Patienten“ sind. Und die Daten sollten rascher erhoben und zentral professionell gemanagt werden. Bis vor kurzem mussten Daten unserem BAG via Fax übermittelt werden und deren Auswertungen waren nicht einmal IT-fähig. Solche Defizite sind natürlich peinlich.
T-E: Falls wir alle Daten zusammenhätten: Wir wüssten dann, wie hoch die Infektionsraten und die Immunitätsraten sind, wir kennen deren Entwicklung, und wir verfügen auch über die Daten der Hospitalisierten und der Intensivbetreuten, auch die genaueren Todesursachen – was wäre dann anders?
RC: Das wären Meilensteine! Dann könnten wir die sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen minimalisieren und zielgenau operieren. Wir könnten auch besser nach Regionen unterscheiden. Wir hätten schon früher mit punktuellem Social Distancing oder Quarantänen und Isolierungen beginnen können. Und wir könnten dort lockern, wo eine Einschränkung kaum etwas bringt. Schon vorher hätten wir ein besseres Bild mittels elektronischem Tracking erhalten – ein Thema, was sich jetzt erst einmal überlangsam und demokratisch setzen muss. Die Dringlichkeit würde aber einen sofortigen Einsatz dieses Mittels erfordern, notfalls auf Freiwilligkeit. Die Software dazu bestünde.
Mit diesem Wissen und den Massnahmen wären die volkswirtschaftlichen Kosten viel geringer. Heute wird vor allem politisch entschieden: Im Supermarkt bleibt der Verkauf von gewissen Sortimenten gesperrt, weil der Kleinhandel nicht benachteiligt werden soll. Der Teppichhändler bleibt geschlossen, das Nagelstudio jedoch geht auf. Das sind keine Entscheide auf Basis medizinischer Erkenntnisse über die virologische Entwicklung. Und sie sind auch ökonomisch falsch und fatal.
T-E: Es scheint, dass die Balance von Pandemiebekämpfung und Wirtschaft nicht gefunden wurde.
RC: Richtig. Aber es geht noch weiter: In einzelnen Ländern werden die ökonomischen Kollateralschäden der falschen Lockdowns so gross sein, dass diese Staaten nicht mehr über die nötigen Mittel für eine ordentliche Gesundheitsversorgung verfügen werden. Das wird bedeutend mehr Tote zur Folge haben als Coronatote, insbesondere in Entwicklungsländern.
Das ist schade, denn mittels besserem Wissensstand – auch wenn es nur Random-Wissen ist – hätten viele Staaten ihre Lockdowns vielleicht intelligenter orchestrieren können.
T-E: Es ist zu früh, um Bilanz zu ziehen, auch ökonomisch. Man spricht von Depression – weltweit. Sind wir zu spät dran?
RC: Ja, zum Teil haben wir das Momentum verpasst. Die Pandemie ist nicht besiegt, dafür aber die Wirtschaft. Wir können natürlich Gegensteuer geben, einige Kollateralschäden können jedoch nicht rückgängig gemacht werden.
Eine nächste Pandemie wird kommen. Wir brauchen also handfeste Pläne. Singapur weiss seit 2010 genau, was im Falle einer Pandemie zu tun ist und konnte entsprechend gewandt reagieren (hat dann allerdings, mit massiven Folgen, nicht an die ungeschützten Immigranten-Arbeiter auf den Baustellen gedacht). Die Schweizer Regierung hat eine Pandemie 2015 als eine der höchsten Fatalrisiken eingeschätzt – und kaum etwas getan. Wir brauchen Pläne, die gut austariert sind und die wir aus der Schublade nehmen können. Das nächste Mal zumindest, denn bei Covid-19 haben die meisten Staaten versagt! Die Schlüssel für das künftige Krisenmanagement ist also erstens die richtige Vorbereitung für Szenarien, zweitens das intelligente Datenmanagement beim Eintreffen eines Szenarios. Wir müssen es das nächste Mal einfach besser machen!
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