Interview mit Rebecka Carpenter, Dubai
Pandemie-Management: ein Datengau
Die meisten Regierungen agieren immer noch im Blindflug auf die Pandemie. Das heisst, sie agieren kaum, denn sie können aufgrund der Datenarmut nur reagieren. Mittels Erhebungsmetoden aus der Marktforschung könnte hier rasch Abhilfe geschaffen werden.
Rebecka Carpenter lebt in Dubai und in der Schweiz. Sie engagiert sich für Fragen aus den Bereichen der Soziologie, der Makroökonomie und der Marktforschung. Ihr Beitrag in True Economics vom 9. April hat einige Wellen geworfen, unter anderem bis zu Entscheidungsträgern im Fernen Osten. Wir haben nun nachgefasst – ein spannendes Interview!

T-E: Rebecka, sind Sie nun auch Epidemiologin?
RC (lacht): Ja, klar! Es gibt nun ja gut 8 Millionen Epidemiologen – alleine in der Schweiz! Wir befinden uns zurzeit eben in einer Sondersituation: Die Regierungen und eigentlich auch die Epidemiologen verfügen über kaum mehr Informationen als ein aufmerksamer Bürger, der versucht, die Flut an Medieninformationen zu bewältigen. Da ist plötzlich jeder Epidemiologe. Nicht Virologe natürlich, das wäre zu technisch.
T-E: Sie verfolgen einen anderen Ansatz: die systematische Datenerhebung mittels Random-Methode. Wieso wird denn das bei der Krisenbewältigung nicht gemacht?
RC: Da und dort wird das nun gemacht – aber sehr zögerlich. In Südkorea seit Monaten schon, in Island, Österreich vereinzelt, punktuell jetzt in München. Oder in den USA beispielweise, allerdings auf falsche Weise: 3‘000 willkürlich getestete Personen vor einem Supermarkt sind nicht repräsentativ – ein Fake-Random, sozusagen.
Testen bringt viel. Aber wenn nicht genügend Testmaterial zur Verfügung steht, bleibt nur die Stichprobe. Wenn nur Leute mit Symptomen getestet werden, bringt das auch nur eine Teilinformation. Wir möchten hingegen wissen, wie es im ganzen Land und/oder einer Region aussieht, also müssen Daten random-mässig erhoben und hochgerechnet werden. Dafür braucht es gar nicht so viel Testmaterial.
Marktforschungsinstitute könnten binnen Tagen Abhilfe schaffen. Die wissen, wie man solche Stickproben repräsentativ auf die Beine stellt. Die ausgewählten Personen können anschliessend sofort zu einem Test aufgeboten werden, und hinterher könnten, zusammen mit den Epidemiologen, fundierte Entscheide vorbereitet werden – die volkswirtschaftlich vermutlich weit weniger schädlich wären.
T-E: Also wären jetzt die Politiker gefragt, solche Randomtests einzuleiten!
RC: Nein, bitte nicht die Politiker! Sondern die Krisenstäbe. Und hier liegt schon mal das erste Problem: Unsere Krisenstäbe bestehen vorab aus Politikern oder Verwaltungsleuten, welche ungeeignet sind für ein Krisenmanagement. Ein Krisenstab sollte ein professioneller Führungsstab mit Spezialisten sein. Bundesräte z.B. eignen sich hier nur bedingt.
Dieser Krisenstab sollte also Marktforscher, Epidemiologen und Virologen zusammenbringen. Wohlverstanden: zusammenbringen. Der Stab selber muss natürlich aus führungs- und kommunikationserfahrenen Krisenspezialisten bestehen. Marktforscher und Epidemiologen reden übrigens nicht freiwillig miteinander; man müsste sie also dazu verdonnern.
T-E: Das verwundert. Beide Seiten sind doch in statistischen Fragen beschlagen!?
RC: Es ist ein psychologisches und ein narzisstisches Problem: Die Naturwissenschaftler pflegen empirische Statistik und extrapolieren Kurven. Marktforscher sind ungenau, machen Stichproben, erhalten so jedoch ein Big Picture. Das passt eben nicht genau zusammen. Die Genauigkeit via Random-Methode würde indessen absolut ausreichen, um den Nebel zu lichten. Dann kann auch vernünftig entschieden werden.
T-E: Aber das Bild verändert sich doch laufend. Die Daten von gestern sind nicht die Daten von heute!
RC: Klar, deshalb müssen die Untersuchungen periodisch erfolgen, mit vergleichbaren Samples. Dann sehen wir auf der Zeitachse genau, was passiert.
T-E: Im Moment scheinen fast alle Staaten nichts zu wissen: wie viele sind infiziert, wie viele sind immun, usw.
RC: Genau. Es geht noch weiter, sie wissen in der Regel auch nicht, ob die aufgeführten Todesfälle wirklich alle auf Covid-19 zurückzuführen sind.
T-E: Wohl ein Problem der Pathologie, nicht der Marktforschung…
RC: Jein. Man muss ja nicht gleich alle aufschneiden. Auch hier könnten Stichproben reichen. Das wäre Random-Pathologie.
Wenn das alle Staaten einigermassen gleich machen würden, gäbe es wohl bessere Erklärungen für die grossen Unterschiede bei den heutigen Todesfallraten. In Deutschland z.B. wird viel mehr pathologisch untersucht als in der Schweiz. So entsteht vielleicht die hohe Todesfallrate bei uns – wenn nämlich gleich jeder infizierte Tote als Coronaopfer identifiziert wird, ohne dies auch genau zu untersuchen. Wir wissen einfach zu wenig, leiten dann aber auf Basis dieses Unwissens Lockdown-Entscheide ab, die vielleicht unnötig sind. Mit fatalen wirtschaftlichen Auswirkungen. Das ist unseriös.
T-E: Was wären also die konkreten Massnahmen für eine Informationsgewinnung, die nur die wirklich nötigen Einschränkungen auslösen würde?
RC: Wir brauchen ein Informationsmodell in Pyramidenform (Redaktion: siehe Chart oben). Erstens Random-Methoden zur Erhebung der Infektionsrate und deren Entwicklung. Wir vermuten, dass die Infektionsrate in der Schweiz beispielsweise bei ein paar wenigen Prozenten liegt. Wir wissen es aber nicht, wir testen ja nur Leute mit Symptomen. Und dann vergleichen wir zu allem noch die Länder miteinander, welche, in unterschiedlicher Weise und auch nur entsprechend der Verfügbarkeit von Testmaterial, ihre Tests durchführen. Es wird ja nur getestet, wer ein bisschen hustet – nun ziemlich übertrieben dargestellt. Wir vergleichen also Äpfel mit Birnen. Aber täglich werden in den Medien die Anzahl entdeckter Infektionen heruntergebetet. Das hat rein gar nichts mit der Infektionsrate zu tun!
Gleichzeitig, so zweitens, könnte mittels Random-Methode die Immunitätsrate für ein Gebiet oder ein Land eruiert werden, auch hier repräsentativ und periodisch; die Zeitachse müssen wir gut im Griff haben. Wenn wir beispielsweise verlässlich hochrechnen könnten, wie viel Prozent der Bevölkerung immun sind, und wie schnell sich die Immunität entwickelt, könnten wir seriöser extrapolieren. Vielleicht kämen wir zum Ergebnis, dass es mit unseren Lockdown-Massnahmen zwei Jahre dauern könnte, bis wir eine Herdenimmunität von heute vielleicht 2-3% auf 60-70% erreicht hätten. Dann würden wir sofort erkennen, dass unsere Einschränkungen nicht reell waren – auch nicht im Hinblick auf die künftige unsichere Erhältlichkeit von Medikamenten und Impfstoffen. Aber das ist nur Spekulation – wir kennen die Immunitäts- und die Infektionsraten einfach nicht, und wir wissen nicht, wie sie sich entwickelt. Marktforschungsinstitute könnten ziemlich zuverlässig Samples definieren und die entsprechenden Personen definieren, die es dann zu testen gilt. Das wäre kein grosses Unterfangen.
Die weiteren Pyramidenstufen, die mit den Hospitalisierten und Intensivbetreuten, sind einfacher zu erheben. Wir müssen nur aufpassen, dass wir streng definieren, was „Corona-Patienten“ sind. Und die Daten sollten rascher erhoben und zentral professionell gemanagt werden. Bis vor kurzem mussten Daten unserem BAG via Fax übermittelt werden und deren Auswertungen waren nicht einmal IT-fähig. Solche Defizite sind natürlich peinlich.
T-E: Falls wir alle Daten zusammenhätten: Wir wüssten dann, wie hoch die Infektionsraten und die Immunitätsraten sind, wir kennen deren Entwicklung, und wir verfügen auch über die Daten der Hospitalisierten und der Intensivbetreuten, auch die genaueren Todesursachen – was wäre dann anders?
RC: Das wären Meilensteine! Dann könnten wir die sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen minimalisieren und zielgenau operieren. Wir könnten auch besser nach Regionen unterscheiden. Wir hätten schon früher mit punktuellem Social Distancing oder Quarantänen und Isolierungen beginnen können. Und wir könnten dort lockern, wo eine Einschränkung kaum etwas bringt. Schon vorher hätten wir ein besseres Bild mittels elektronischem Tracking erhalten – ein Thema, was sich jetzt erst einmal überlangsam und demokratisch setzen muss. Die Dringlichkeit würde aber einen sofortigen Einsatz dieses Mittels erfordern, notfalls auf Freiwilligkeit. Die Software dazu bestünde.
Mit diesem Wissen und den Massnahmen wären die volkswirtschaftlichen Kosten viel geringer. Heute wird vor allem politisch entschieden: Im Supermarkt bleibt der Verkauf von gewissen Sortimenten gesperrt, weil der Kleinhandel nicht benachteiligt werden soll. Der Teppichhändler bleibt geschlossen, das Nagelstudio jedoch geht auf. Das sind keine Entscheide auf Basis medizinischer Erkenntnisse über die virologische Entwicklung. Und sie sind auch ökonomisch falsch und fatal.
T-E: Es scheint, dass die Balance von Pandemiebekämpfung und Wirtschaft nicht gefunden wurde.
RC: Richtig. Aber es geht noch weiter: In einzelnen Ländern werden die ökonomischen Kollateralschäden der falschen Lockdowns so gross sein, dass diese Staaten nicht mehr über die nötigen Mittel für eine ordentliche Gesundheitsversorgung verfügen werden. Das wird bedeutend mehr Tote zur Folge haben als Coronatote, insbesondere in Entwicklungsländern.
Das ist schade, denn mittels besserem Wissensstand – auch wenn es nur Random-Wissen ist – hätten viele Staaten ihre Lockdowns vielleicht intelligenter orchestrieren können.
T-E: Es ist zu früh, um Bilanz zu ziehen, auch ökonomisch. Man spricht von Depression – weltweit. Sind wir zu spät dran?
RC: Ja, zum Teil haben wir das Momentum verpasst. Die Pandemie ist nicht besiegt, dafür aber die Wirtschaft. Wir können natürlich Gegensteuer geben, einige Kollateralschäden können jedoch nicht rückgängig gemacht werden.
Eine nächste Pandemie wird kommen. Wir brauchen also handfeste Pläne. Singapur weiss seit 2010 genau, was im Falle einer Pandemie zu tun ist und konnte entsprechend gewandt reagieren (hat dann allerdings, mit massiven Folgen, nicht an die ungeschützten Immigranten-Arbeiter auf den Baustellen gedacht). Die Schweizer Regierung hat eine Pandemie 2015 als eine der höchsten Fatalrisiken eingeschätzt – und kaum etwas getan. Wir brauchen Pläne, die gut austariert sind und die wir aus der Schublade nehmen können. Das nächste Mal zumindest, denn bei Covid-19 haben die meisten Staaten versagt! Die Schlüssel für das künftige Krisenmanagement ist also erstens die richtige Vorbereitung für Szenarien, zweitens das intelligente Datenmanagement beim Eintreffen eines Szenarios. Wir müssen es das nächste Mal einfach besser machen!