Interview mit Dr. Rebecka Carpenter
„Der Fisch stinkt vom Kopf.“
True Economics: Rebecka, wird es in unserem Gespräch heute schon wieder Bundesrats-Bashing geben?
Rebecka Carpenter: Ja. Leider. So lange wohl, bis die Spitze der Regierung – und das ist nun mal der Bundesrat – konsequent durch die Krise führt und lernt.
TE: Andere Staaten haben es jedoch auch nicht besser gemacht.
RC: Da muss ich allerdings widersprechen. Deutschland oder Dänemark haben die Fallzahlen ziemlich gut im Griff, ohne das ganze Leben runterzufahren. Über die Beispiele Südkorea oder Taiwan haben wir früher schon gesprochen – die haben das ohne Lockdown hingekriegt. Als eines der reichsten und hochentwickeltsten Länder der Welt könnte man von unserem Bundesrat schon erwarten, dass er zumindest in den letzten Monaten und Wochen gelernt hat. Wir alle haben ja inzwischen ebenso dazugelernt, auch epidemiologisch. Wir wissen heute, dass wir die Krisenherde erfassen müssen – diese sind nämlich ziemlich gut zu orten. Weder komplette Lockdowns sind dazu notwendig, noch Laisser-faire.
TE: In der Tat steht heute die Schweiz weltweit an vierter oder fünfter Stelle mit den Corona-Fallzahlen, seit gestern vielleicht noch weiter oben. Auf Deutschland hochgerechnet, würden das bald 100‘000 Fallzahlen pro Tag bedeuten. Deutschland würde sich wohl in einem kompletten Lockdown befinden in einer solchen Situation.
RC: Unsere Situation ist mehr als peinlich. Wir stehen international ziemlich angezählt da. Proportional zur Bevölkerung haben wir mit unseren Infektionen sämtliche grossen europäischen Länder überholt, die täglichen Infektionen liegen sogar viermal höher als in den USA. Der Bundesrat hat vor allem zugewartet und nichts getan – und das Momentum verpasst. Nun bezahlen wir die Rechnung, indem es wieder zu Lockdown-ähnlichen Massnahmen kommt und wir, unter anderem, als Schweizer unsere Reisefreiheit verlieren. Und die touristische Erholung können wir ebenso vergessen. Im Vordergrund steht nicht einmal ein akutes medizinisches Problem, sondern ein volkswirtschaftliches. Denn die neuen und künftig vielleicht noch härteren Einschränkungen sind teuer. Letztlich beruht die heutige Situation auf einem klaren Regierungsversagen.
TE: Einen Schlussrang unter den entwickelten Ländern belegt die Schweiz gleichzeitig in Sachen Testing.
RC: Davor haben nicht nur Epidemiologen schon lange gewarnt, die Regierung hat aber bis heute nicht reagiert. Nur hohe Testraten führen zu Übersicht. Auch Random-Testing (also in repräsentativen Stichproben) hätte schon früher helfen können, Hotspots zu erkennen. Risikogebiete und Infizierte werden mit unseren mageren Testmethoden nur mit grosser Verzögerung entdeckt. Seit Monaten hätten wir in genügenden Mengen Testmaterial einkaufen und die Test-Organisation bereitstellen können. Noch heute jedoch gibt es jedoch keine Drive-Throughs, das Testen ist mühsam und teuer, die Labors sind überlastet. Kommt hinzu, dass die Behörden mit dem Tracing an vielen Orten bereits heillos überfordert sind. Es funktioniert eben nicht, wenn man sich als Regierung feige hinter föderalen Systemen versteckt und nichts tut. In einer Krise müsste der Bundesrat die Führung übernehmen – oder, falls er überfordert ist – einen professionellen Krisenstab mit Kompetenzen einberufen.
TE: Unser Regierungssystem ist also schuld an der Misere?
RC: Nein. Wir haben wohl immer noch eines der besten Regierungssysteme der Welt. Ein starker Staat (wie in Spanien oder in Frankreich) mit ebenso starkem Durchgriffsrecht verhindert offenbar nicht, dass auch ein solches Land die Krise à priori nur mangelhaft managt. Ein schlanker Staatsapparat – wie in der Schweiz – ist organisationsmässig in der Tat etwas schlechter aufgestellt für Krisen. Wir haben eben eine Schönwetter-Regierung, welche uns zwar gute Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche und soziale Leben garantiert. Aber diese Regierung eignet sich offenbar nicht für die Schlechtwetterperiode. Letztlich wäre es allerdings nur eine Managementaufgabe, in einer plötzlichen Krise zumindest zu führen. Oder mangels Fähigkeiten wenigsten die demütige Erkenntnis zu haben, einen Führungsstab einzusetzen. Diese Entscheide lassen sich auch in einem schlanken Staat treffen. Offenbar haben wir nicht die richtigen Leute an der Spitze – der Fisch stinkt eben vom Kopf.
TE: Unser föderales System eignet sich wohl nicht für Krisen.
RC: Richtig – es ist überfordert. Wie soll Appenzell Innerhoden mit einer Bevölkerungszahl von 16‘000 ein kantonales Corona-Krisenmanagement übernehmen? Schwamendingen hat fast doppelt so viele Einwohner. Sie als Journalist verstehen vielleicht ebenso viel von Covid-19 und Krisenführung wie die Appenzeller Regierung. Das Versagen liegt jedoch nicht in Appenzell, sondern beim Bundesrat, welcher dieses Tun zugelassen hat. Immer unter dem Deckmantel des unabdingbaren Föderalismus. Das Versagen liegt gerade darin, dass nicht erkannt wird, dass eine Pandemie unmöglich auf kantonaler Ebene bekämpft werden kann. Der Bundesrat wird oft entschuldigt, dass er „das nicht darf“. Das ist nicht richtig: Führen darf man immer. Man muss es einfach gut und überzeugt tun.
TE: Sie erwähnten vorhin, dass wir nun vielleicht „das Momentum verpasst haben“.
RC: Wir werden nicht untergehen. Aber wir haben wertvolle Zeit verloren. Die Spitaleintritte nehmen exponentiell zu, die Intensivbetten füllen sich. Letztlich geht es einzig darum, das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Hätten wir früher geeignete Methoden ergriffen, hätten wir heute eine weniger brenzlige Lage. Mit geringsten Einschränkungen hätten wir schon vor Wochen eine maximale Wirkung erzielen können: nämlich mit einer Ausweitung der Maskentragpflicht, mit starken Versammlungsbeschränkungen, Verzicht auf Sportanlässe und andere Events, Schliessung von Clubs, Bars und ähnlichen Etablissements – ganz klar auch mit einer Beschränkung von privaten Feiern. Also mit ähnlichen Vorschriften, die gerade jetzt erlassen werden, wenn auch nicht konsequent. Das wären schon früher Massnahmen mit akzeptablen Verzichten und hinnehmbaren Kosten gewesen. Die heutige Situation erfordert nun härtere Massnahmen. Insofern haben wir das Momentum verpasst und müssen dafür büssen.
TE: Die Regierung wird offenbar jedoch kaum kritisiert, auch in den Medien nicht.
RC: Das wird noch kommen. Die Medien halten sich in der Tat sehr zurück. Wichtige Sprachrohre (z.B. SRF oder die NZZ) erfüllen damit aber ihre neutrale Informationspflicht nicht. Sie sollten kritischer sein. Letztlich wird die Glaubwürdigkeit der Regierung jedoch schwinden: Wie soll dem Bürger erklärt werden, warum Masken im März nichts genützt haben, diese jetzt aber sogar im Freien getragen werden sollen? Wieso in Museen Maskentragpflicht herrschte, bis vor kurzem aber die Clubs offen waren und man dort nicht einmal Masken tragen musste – man musste sich nur hinsetzen! Jodlerfeste, grosse Hochzeitsfeiern und selbst geriatrische Clubausfahrten waren in einem Kanton erlaubt, im anderen herrschte eine relativ strenge Versammlungsbeschränkung. Dies bei vergleichbaren Fallzahlen – als ob das Virus kantonale Mutationen aufweisen würde. Und heute braucht es plötzlich vorverlegte Polizeistunden, um nicht eine unkontrollierte Lage zu riskieren. Dies aber erst mal nicht sehr streng – im Sinne eines austarierten Kompromisses, der zwischen dem Bundesrat und den Kantonen in tagelangen Sitzungen getroffen wurde.
TE: Rebecka, früher waren Sie gegen den Lockdown, heute für stärkere Einschränkungen. Haben Sie ihre Meinung geändert?
RC: Nein, ganz und gar nicht! Im Frühling war ich gegen einen flächendeckenden Lockdown des ganzen Detailhandels. Weil es nichts bringt, wenn insbesondere niederfrequentierte Läden geschlossen bleiben, hochfrequentierte (wie Supermärkte) jedoch offen sind. Die Erfahrung zeigt uns heute auch, dass man sich in der Boutique oder im Baumarkt kaum ansteckt – nicht einmal im Supermarkt. Maskenschutz, Distanz und Hygiene reichen. Heute vertrete ich alle Einschränkungen, um die Nahkontakte zu reduzieren. Das ist am wirksamsten – und hätte eben schon früher dringend erfolgen sollen. Aber auch heute sieht der getroffene Massnahmen-Kompromiss ziemlich lendenlahm aus – so sind grössere Veranstaltungen immer noch möglich, private Feiern ebenso, wenn auch mit maximal 10 Personen. Das sind alles eben unnötige und wenig mutige Kompromisse, mit reduzierter Effektivität.
TE: Wovor haben Sie Angst, Rebecka?
RC: Einerseits habe ich grossen Respekt vor den wirtschaftlichen Folgen dieses Regierungsversagens – weniger vor den medizinischen Folgen. Diese werden wir wohl einigermassen in den Griff bekommen. Angst habe ich allerdings vor einer richtigen Krise. So zum Beispiel vor einer Strommangel-Lage – bekanntlich das Krisenszenario (laut unserer Regierung) mit der höchsten Eintretens-Wahrscheinlichkeit. Abgesehen davon, dass wir auf eine solche Krise ebenso wenig vorbereitet sind wie wir es auf die Pandemie waren: Man stelle sich vor, unsere Regierung müsste eine solche Krise managen! Unser Bundesrat hat den Beweis erbracht, dass er in einer Krise nicht führen kann. Im Falle einer echten Krise hätte das fatale Folgen.
TE: Was heisst das für Sie?
RC: Sollten wir es nicht schaffen, künftig fähigere und krisenerprobte Führungspersönlichkeiten im Bundesrat zu haben, müssten wir ihm im Falle einer Krise das Heft sofort aus der Hand nehmen! Natürlich denke ich hier nicht an einen Armeeputsch (RC lacht). Aber die Stäbe der Armee z.B. würden unser Land mit Bestimmtheit besser durch die Krise führen. Wir müssten jedoch schon heute, demokratisch abgesichert, eine solches Führungs-Szenario im Hinblick auf Krisen vorbereiten.