Waldmeyer und die Grenzen der Smart Society

Die Digitalisierung ist nichts anderes als die grösste Industrialisierung seit Menschengedenken. Die Dampfmaschine, die Elektrifizierung, die Automatisierung etc. – alles ein Klacks. Denn nun werden wir Zeitzeuge eines Vorgangs, der in Sachen Geschwindigkeit und Wandel alles Bisherige in den Schatten stellt. Es ist ein Umbruch, welcher die ganze Gesellschaft erfasst. Und nun steht die letzte Ausprägung dieses Vorganges an: Das Ganze macht nämlich auch vor Max Waldmeyer nicht halt. War früher doch alles besser? Aber dazu später.

Waldmeyer hatte mit Charlotte soeben im Trois Couronnes eingecheckt und studierte die digitalen Gadgets im Zimmer. Es gab sogar ein Gas-Cheminée, welches elektronisch kontrolliert werden konnte. Licht, Musik, Verdunkelung – alles smart. 

Die erste Hürde war das W-LAN: Das Passwort war extra so konzipiert, dass es möglichst kompliziert war und – wie so oft – vorsätzlich gemeine Stolpersteine aufwies. Es waren beispielsweise Nullen und „O“s eingebaut, damit man diese verwechselt. „Herr Waldmeyer, ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben, ich schicke Ihnen den IT“, säuselte die Stimme von der Reception. Der IT kam rasch, es dauerte genau 22 Minuten und klärte auf: „Das sieht man ja ganz klar, die drei „O“s sind Zahlen“. Ganz klar. 

Während Charlotte im Bad nun versuchte, mit der Beleuchtung klarzukommen, wollte Waldmeyer kurz in diese Segel-Regatta reinschauen. Es gab drei Fernbedienungen für den Fernseher. Alle lagen sauber und parallel ausgerichtet neben dem X-Large Bildschirm. Waldmeyer probierte alle – auch in Kombination. Er schaffte es nicht.

Wieder gut 22 Minuten später – Charlotte suchte immer noch nach der besten Lichtkombination im Bad – musste der IT (auf seinem Namensschild stand IT – Krasnowskyschiri), ein sichtlich entnervter Nerd mit einem Tablet, nochmals antreten und die drei Fernbedienungen erklären. Es war ganz einfach. Klar.

Die restlichen Funktionen im Hotelzimmer entdeckte Waldmeyer in der folgenden Stunde. Nach einigem Suchen fand er auch das Tablet im Zimmer, mit dem er – nach kurzem Login – in einem Unterprogramm die Funktion für die elektrischen Vorhänge entdeckte. Es war jedoch Charlotte, welche die Funktion der Sonnenmarkisen aufstöberte – nicht in einem Unterprogramm, sondern in der Szenarien-Funktion „Terace Living“. Ja, ein „r“ fehlte bei Terrace, schade. Waldmeyer gelang es auch, im Nu die Minibar zu öffnen, man musste nur den dafür vorgesehenen Login und eine Handvoll persönliche Daten eingeben und die Datenschutzvereinbarung akzeptieren. Mit den 12 Kissen auf dem Bett kam Waldmeyer indessen nicht ganz klar, obwohl hier für einmal eine ganz analoge Aufgabe anstand. Aber das war ihm eh einerlei.

Nach dem Diner (bis auf die Weinkarte verlief alles ganz angenehm analog), um genau 23:35, musste Waldmeyer leider zum dritten Mal den IT rufen. Diesmal den Nacht-IT, denn Lichterlöschen stand an. Die ganze Zimmerbeleuchtung war nämlich in Szenarien und Ambiancen strukturiert, Waldmeyer fand aber die Schlaf-Funktion nicht (früher: dunkel – oder einfach Licht aus); verschiedene indirekte Dimm-Beleuchtungen liessen sich nämlich nicht ausschalten. IT Nummer drei redete mit Waldmeyer wie mit einem Kind:  „So, das hätten wir jetzt auch, Herr Waldmeyer, jetzt können Sie ruhig schlafen. Ich muss jetzt weiter, es warten noch andere Gäste, im Fall!“ Klar.

Waldmeyer fand dies alles soweit ganz amüsant, vor allem, als er die Kosten der drei ITs für den 24-Stunden-Service kurz überschlug. Er überlegte sich, wie sich der General Manager vor dem Verwaltungsrat wegen den explodierenden IT-Kosten wohl rechtfertigen würde. Zum Beispiel so: „Die Digitalisierung macht auch vor der Hotellerie nicht halt; um diese Ausgaben kommen wir nicht herum, es sind Investitionen in die Zukunft. Und der neue Gästetyp verlangt das einfach.“ Oder ähnlich. Würde er, Waldmeyer, also nicht mehr zur Kernzielgruppe eines Fünf-Sterne-Hotels gehören? Offenbar nicht.

War früher alles besser? Die Einführung des Farbfernsehers zum Beispiel: Diese Revolution war nämlich überblickbar. Dann kam die Fernbedienung: in der Regel lernbar. Aber jetzt die Zäsur, dieser Quantensprung: Das ganze Leben findet eigentlich in sequenziellen Logins statt. Anstatt Schalter zu drehen, zu kommunizieren oder die NZZ in Papierform zu geniessen, machen wir nun stundenlang Logins. Brave, new world.

Waldmeyer lief es kalt den Rücken runter, er dachte ans nächste Wochenende. Denn dann stand nämlich Büroarbeit an. Eigentlich Login-Arbeit. Büroarbeit besteht heute zu 90% aus Logins. Waldmeyer wusste schon jetzt, dass es ein Fiasko werden wird. Aber dazu eben später, in einem nächsten Beitrag.

Die Cheminée-Funktion brachte Waldmeyer im Übrigen nicht zum Funktionieren. Die drei Fernbedienungen liess er ebenso liegen. Doch Waldmeyer ist eine lösungsorientierte Spezies. „Selbst ist der Mann“, dachte er sich und schaute mit Charlotte die 99. Folge von 24 hours auf dem Laptop an. Es funktionierte einwandfrei. 

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