Waldmeyer sass in einem weissen Schutzanzug und mit Maske und Handschuhen auf dem Sofa. Er wartete auf seinen Sohn Noa (23). Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich? Wie gestaltete sich seine subjektive Gefährdung? Wie könnte er seine persönliche Mortalität runterbringen? Haushaltsunfälle könnte Waldmeyer schon mal ausklammern. Aber die Sache ist viel komplexer.
Die Corona-Sterblichkeit – die sog. case fatality rate liegt in der Schweiz bei rund 2% – falls man sich denn infizieren sollte. Bei den Jungen liegt sie beinahe bei null, bei den über 80-Jährigen bei rund 16%. Waldmeyer bewegte sich unglücklicherweise schon deutlich über dem Mittelalter, also lag die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, leider wohl nicht mehr bei null.
Diese Statistik war vergleichbar mit dem Motorradfahren: Mit höherem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall zu sterben – falls man denn Motorrad fahren würde. Bei einem Alter von über 90 zum Beispiel könnte die Wahrscheinlichkeit fast 100% betragen. Überhaupt ist Motorradfahren sau-gefährlich, googelte Waldmeyer weiter: Pro gefahrenen Kilometer rund 20-mal tödlicher als Autofahren. Dafür müsste man nicht mal 90 werden.
Waldmeyer zog ein vorzeitiges Fazit: Sowohl Covid-19 als auch Motorradfahren weisen eine mit dem Alter exponentiell steigende Mortalität auf. Also sollte man vielleicht beides lassen. Waldmeyer legte diesen Gedankenstrang jedoch wieder zur Seite, denn er schwang sich überhaupt nie auf ein Motorrad; also lag – in seinem spezifischen Fall – die Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen Unfall bei null.
Das Googeln mit den Schutzhandschuhen erforderte einiges an Geschick. Trotzdem gelang es Waldmeyer zu eruieren, dass die Schweiz 2019 genau 187 Verkehrstote zählte (Astra, das zuständige Bundesamt, hat für 2020 noch nicht fertig gezählt, denn dieses Amt verfügt über eine ähnliche Management-Struktur wie das BAG). 1970 waren es noch 1‘773 Tote – also fast 10-mal mehr. Kam dazu: Im gleichen Zeitraum hatte sich der Bestand an Motorfahrzeugen mehr als verdreifacht. Damit hat sich das Risiko, heute in einem Verkehrsunfall zu sterben, um das Dreissigfache verringert. Ob die gefährliche „Verrohung des Verkehrs“ tatsächlich stattfindet, wie das Astra regelmässig meldet? Rein datenbasiert müssten die Autobahnen heute eigentlich „geöffnet“ werden, mit freier Fahrt. Aus Sicherheitsgründen wäre das zu verantworten, denn es würde die Zahl der Verkehrstoten vermutlich nur marginal raufbringen – würde jedoch das raffinierte staatliche Geschäftsmodell mit den drakonischen Geldbussen untergraben.
An Covid-19 starben nun binnen eines Jahres rund 10‘000 Personen („an“ oder „mit“ Covid, wobei merkwürdigerweise niemand weiss, wieviel der „an“- oder der „mit“-Anteil beträgt).
Tatsächlich liegt damit die Wahrscheinlichkeit, an diesem gemeinen Virus zu erliegen offenbar über 50-mal höher, als in einem Verkehrsunfall das Zeitliche zu segnen. Genau das wollte Waldmeyer seinem Sohn Noa vermitteln. Allerdings bestand bei der Erklärung dieses Vergleichs („Verkehr vs. Corona“) die Gefahr, dass Noa künftig die Verkehrsrisiken als noch unerheblicher einschätzt und seinen alten Occasions-BMW noch schneller durchs Knonaueramt prügelt. Waldmeyer legte seine ursprünglich sorgfältig vorbereiteten Argumente also auf die Seite und konzentrierte sich nochmals auf seine eigenen Mortalitäts-Überlegungen.
Da sind zum Beispiel noch die Haushaltunfälle: Daran sterben in der Schweiz jährlich 2‘400 Personen – also mehr als 10-mal mehr als bei Verkehrsunfällen. Wäre es also angezeigt, Haushalte zu verbieten? Zumindest Haushaltsarbeiten. Insoweit gestaltete sich das Leben Waldmeyers bereits extrem vorsichtig, er mied dieses Sicherheitsrisiko wie der Teufel das Weihwasser.
Beim Sport verhält es sich ähnlich: Die jährlich 135 gemeldeten tödlichen Sportunfälle sind jedoch untertrieben, Sport ist in Tat und Wahrheit viel gefährlicher. In die vorangegangene Statistik mit den 187 Verkehrstoten haben sich nämlich viele Fussgänger und Velofahrer reingeschlichen, welche fairerweise eigentlich nicht den Verkehrs-, sondern den Sportunfällen zugerechnet werden müssten. Sport ist also gefährlicher als Autofahren. Das Risiko eines Sportunfalles betraf Waldmeyer allerdings ebenso nur am Rande, denn er trieb nur äusserst vorsichtig Sport, eigentlich selten, und er betrachtete sich zudem eher als Autofahrer denn als Fussgänger. Waldmeyers subjektive Mortalitätswahrscheinlichkeit (Abteilung Haushalt und Sport) tendierte also gegen null.
Schon grössere Sorgen bereitete ihm eine mögliche Krebs- oder Kreislauferkrankung. Es ging einerseits um die Wahrscheinlichkeit, eine solche Krankheit überhaupt zu kriegen, andererseits um die Sterbewahrscheinlichkeit in einem solchen Fall. In der Schweiz sterben jährlich immerhin fast 40‘000 an Krebs – aber die meisten einfach im hohen Alter, was quasi einer natürlichen Todesursache gleichkommt. An Herzversagen sterben rund 8‘000 p.a. Interessant fand Waldmeyer, dass nur rund 400 p.a. an Leberzirrhose sterben.
Waldmeyer rauchte nicht, was seine Krebserwartung schon mal deutlich runterdrückte. Und sein BMI von rund 25 (etwas grosszügig ausgelegt) liess das Risiko, vorzeitig an einer Kreislauferkrankung zu sterben, ebenso vernachlässigen. Sein Alkoholkonsum mochte in der Tat, zumindest subjektiv von aussen betrachtet, etwas überdurchschnittlich sein. Aber erstens hatte er gar keine Leberzirrhose eingeplant und zweitens, so reflektierte Waldmeyer, könnte man z.B. an Terre Brune unmöglich sterben.
Fazit: Für Waldmeyer gab es überhaupt keine ausserordentliche Todeschancen, vielleicht würde er einfach 100 werden und dann an Alter sterben?
Und eigentlich gaben alle diese Mortalitäts-Überlegungen gar nicht viel her. Nur etwas beeindruckte Waldmeyer: Wenn die bisher klassischen Mortalitäts-Wahrscheinlichkeiten nun alle fast gegen null tendieren, dann liegt der Risikofaktor von Covid-19 in der Tat um ein Mehrfaches höher. Was Waldmeyer deshalb nun vorhatte mit seinem Sohn Noa: Er wollte ihn in eine Risiko-Besprechung in Sachen Corona einbinden. Der etwas sorglose Umgang der Jugend in Sachen Covid-19 sollte besprochen werden. Und Waldmeyer fand es angemessen, sich für diese Besprechung situationsgerecht zu kleiden. Deshalb der Schutzanzug. Aber Noa hatte offenbar Verspätung.
Charlotte kam gerade von ihrer Tennisstunde zurück und entdeckte Waldmeyer in seiner weissen Montur. „Um Himmels Willen, was hast du denn vor? Was ist passiert?“, entfuhr es ihr. Waldmeyer murmelte etwas unverständlich durch seine FFP-2-Maske hindurch: „Schatz, es ist nicht so, wie es aussieht – ich kann dir alles erklären!“