Die Schweiz, dieses hübsche kleine Land, hat ein Problem: Deren Bewohner meinen, dass es verteidigungsfähig sei. Ist es aber nicht. Verwundert betrachten die Eidgenossen die Welt, die sich rundum verändert. Die Bedrohungslagen sind plötzlich nicht mehr die gleichen und es rumpelt gewaltig in der Geopolitik. Waldmeyer blickt nun über den Tellerrand hinweg und zerschlägt den gordischen Knoten.
Selenski, von Beruf Schauspieler und Präsident, ist ein schlauer Kerl: Neuerdings suggerierte er die Möglichkeit, dass nach einem Waffenstillstand in der Ukraine der Westen über eine zusätzliche neue, schöne starke Armee verfügen könnte. Diese erprobten Truppen könnten künftig nicht nur als Bollwerk gegen Russland funktionieren, sondern zugunsten des Westens auch eine ganz neue Rolle für die umfassende Sicherung der Ostflanke spielen. Vielleicht sogar noch weiter in den Osten rein. Damit soll sich eine weitere Aufrüstung der Ukraine durch den Westen heute auch lohnen, insinuiert der rührige Ukraine-Chef, denn das wäre alles andere als umsonst.
Tatsächlich könnte das Sinn machen, überlegte Waldmeyer.
Weiter analysierte Waldmeyer, mental gestählt durch eine Schweizer Rekrutenschule und weitere militärische Ausbildungen: Erstens stellt die ukrainische Armee mit 200’000 bis 300’000 aktiven Soldaten zurzeit die grösste Truppe in Europa dar (nebst Russland natürlich, sofern wir dieses Land immer noch zu Europa zählen möchten). Frankreich und England verfügen je über ein stehendes Heer von knapp weiteren 200’000 Aktivsoldaten. Die Türkei (ein partiell abtrünniger Partner), Griechenland und Polen stellen weitere robuste Truppen. Von den anderen Ländern sprechen wir lieber nicht. Vor allem nicht von Deutschland – deren Armee stellt so etwas wie das Gegenteil einer Abschreckung dar, denn ihre besten Waffen blieben bis jetzt in den Kisten (so die Taurus Raketen), anstatt sie den Ukrainern zu liefern. Ausserdem fehlt es an Soldaten, Ausrüstung, Ausbildung und Willen für einen Wiederaufbau der Armee. Dieser Pistorius ist ja wirklich nicht zu beneiden, die Rolle des deutschen Verteidigungsministers ist wohl eine der undankbarsten der modernen Geschichte: Er kriegt zu wenig Geld, hat zu wenig Soldaten, fast nur schlechtes Gerät und eine Truppe, die überhaupt nicht motiviert ist. Und ihm waren über Jahre die Hände gebunden, sein verscholzter Chef liess ihn gar nicht walten und der neue ist noch in der Probezeit.
Aber zurück zur Ukraine: Das Land verfügt heute über zum Teil hochmodernes militärisches Spielzeug, aus bekanntem Grund gut trainierte Soldaten und über einen ausgeklügelten «Intelligence Service». Eine Integration in die NATO könnte fast über Nacht erfolgen, das Land arbeitet ja schon eng mit dem Club zusammen. Eine NATO-Aufnahme müsste deshalb formell gar nie stattfinden, denn diese ist operationell schon lange erfolgt. Mit einem Verzicht auf einen offiziellen Beitritt lässt sich zudem allerlei politisches Ungemach verhindern. Es würde, bei einem Waffenstillstand dann, ausreichen, ein paar rumänische und griechische Friedenstruppen in der verbliebenen und versehrten Ukraine zu platzieren (wohl verstanden, nationale Friedenstruppen und nicht solche der NATO). Vielleicht kommen auch Inder oder die Chinesen? Soweit Waldmeyers Analyse zur derzeitigen Lage in Europa.
Es wird vielleicht noch eine Weile dauern, dann wird etwas später US-Präsident Vance (welcher inzwischen Präsident Trump ablösen durfte, der, beispielsweise, an einer Überdosis Cheeseburger verstarb) erkennen, dass er mit der Ukraine praktisch einen neuen Partner an Bord haben wird, welcher ihm bei allerlei Aufgaben zur Hand gehen könnte. Verschiedene Übungen im Osten könnten da noch anstehen, so im Irak, in Syrien, Afghanistan, Libanon etc. Weitere Einsätze könnten im Schwarzen Meer bevorstehen, auch in der Südchinesischen See und im Pazifik. Taiwan oder Nordkorea sind weitere Hotspots, wo beobachtet und notfalls gestört und/oder eingegriffen werden könnte. Herrscht erst einmal Ruhe in der Ukraine, könnten die arbeitslos gewordenen Heerscharen an Soldaten dergestalt neue interessante Aufgaben übernehmen.
«Und warum sollte das die Schweiz interessieren?», antwortete Charlotte auf Waldmeyers Visionen hin, die er gestenreich vor dem Kamin ausbreitete.
Waldmeyer hatte eine rasche Erklärung dafür: «Die Ukraine ist unser neuer Verteidigungspartner – sie wissen es nur noch nicht!»
Waldmeyer äusserte seine Vision jedoch nicht unbedacht und spontan. Er tat es ohne jegliche Theatralik und in Ruhe, zwischen zwei Schlucke Cognac.
Waldmeyer ist nämlich der Meinung, dass ein NATO-Beitritt der Schweiz zwar logisch und sinnvoll wäre, politisch aber nicht umsetzbar. Die Schweizer Ausgangslage in Sachen Verteidigung ist eigentlich brisant: Wir würden uns nie und nimmer verteidigen können. Die alten Flieger taugen nichts, die neuen kommen nicht. Über ein modernes Flugabwehrsystem verfügen wir nicht, Drohnen können wir auch nicht abwehren, die eigenen sind seit Jahren nicht einsatzbereit, weil sie einem „Swiss Finish“ unterliegen, und gegen Cyberangriffe sind wir nur beschränkt geschützt. Uns fehlt es auch an einem Intelligence Power, um zu erkennen, wo im Krisenfall was kriegstechnisch in Echtzeit laufen würde. Wir würden, militärisch gesehen, blind dahocken und auf den alten Panzern warten, bis etwas passiert. Und da gibt es noch ein anderes Problem: In der Schweiz tummeln sich Hunderte von russischen und chinesischen Spionen wie in einem Freizeitpark für Agenten – im vollen Wissen unseres Geheimdienstes. Verdeckte militärische Strategien und Geheimnisse gibt allerdings gar keine bei uns, alles ist publik und wird direktdemokratisch öffentlich debattiert. Wir geben zwar zu Abschreckungszwecken jährlich sechs Milliarden für die Armee aus, aber diese Armee schreckt leider nicht ab. Deren Führung hatte bis vor Kurzem eine Juristin aus dem Wallis inne, jetzt kommt ein netter Herr aus der Innerschweiz.
Unsere vermeintliche Waffe ist offenbar die Neutralität. Und Im Notfall ziehen wir uns zurück ins Reduit. Es gibt kein einziges nennenswertes Land im westlichen Europa, welches weder in der NATO ist noch dem EU-Verteidigungspakt angehört. Wir gehören uns allein. Wir kokettieren etwas mit der NATO, besprechen uns zuweilen und schwafeln mit Frankreich und Deutschland über einen Verteidigungsschirm, dem European Skyshield, den es gar noch nicht gibt und dem wir auch nicht richtig betreten, aber dann eventuell doch beitreten – oder auch austreten – könnten, wenn’s brenzlig wird.
Verteidigungspakte sind im Übrigen etwas sehr Normales. Erst kürzlich haben Deutschland und Grossbritannien einen solchen abgeschlossen, auch Russland mit Nordkorea (ein guter Deal, Nordkorea verfügt über mehr als eine Million Soldaten).
Was die Schweiz betrifft: NATO jetzt also nein. Aber wenn’s um die Wurst ginge, würden die uns vielleicht schon helfen. Dann würde Martin Pfister, unser neue Verteidigungschef, furchtlos zum Telefonhörer greifen und den NATO-Oberbefehlshaber Mark Rutte anrufen: «Mark, wir haben ein Problem. Kannst du uns bitte helfen…?» Aber Rutte hätte inzwischen, in einer solchen Situation, anderes zu tun, denn ganz Europa stünde vermutlich in Deep Shit und müsste seine Verteidigungsbereitschaft erhöhen – er hätte schlichtweg keine Zeit für Martin.
Und dann würde es vielleicht passieren: Der Gegner würde als erstes mittels geeigneter Waffen und viel Elektronik unsere zivile Infrastruktur ausschalten. Es würde sehr dunkel und sehr kalt werden in der Schweiz. Dieser Gegner würde natürlich bewusst zuerst die Schweiz attackieren, denn das würde keinen NATO-Bündnisfall auslösen, deren Flieger würden erst mal am Boden und die Truppen in den Kasernen bleiben. Auch unsere eigenen alten Flieger würden am Boden bleiben, denn aufgrund der ausgefallenen Energieversorgung würden alle Kommunikationsmittel so gut wie tot sein. Vielleicht hätte Martin den Kollegen Mark mit viel Glück noch über ein Satellitentelefon erreicht, das ihm ein beherzter Adjutant gereicht hätte.
Aber zurück zur Lösung für unsere Verteidigungsfähigkeit: Wenn wir einen Pakt mit der neuen Ukraine abschliessen würden, hätten wir einen valablen Partner an der Hand. Der Deal würde natürlich so aussehen, dass er nur im Verteidigungsfall gilt und unsere Neutralität nicht tangiert. Da die Ukraine auf absehbare Zeit, auch nach einem Friedensschluss, nicht in der NATO sein wird, könnte so ein Abkommen eine elegante Lösung darstellen!
«Und warum sollten die Ukrainer das tun…?», wollte Charlotte wissen.
«Sie würden jährlich einen Batzen dafür kriegen. Den brauchen sie dringend. Sie müssen gar nichts tun dafür. Nur im Notfall, welcher dann eben gar nie eintreten wird, weil der Gegner weiss, dass die Schweiz zusätzlich von einer Viertelmillion hochgerüsteter und knüppelharter Ukrainer verteidigt würde. Eine Win-Win-Situation, ohne dass irgendjemand handeln würde. Wir müssen nur das Papierli unterschreiben.»
Waldmeyer war zufrieden mit seiner Vision. Er schenkte sich etwas Cognac nach, stocherte im Cheminée rum und überlegte, wie er seinen raffinierten Plan nun unter die Leute bringen könnte. «Steck es doch erst mal True Economics, Max!», schlug Charlotte vor, «die nehmen solche abwegigen Ideen immer gerne auf!»