Max Waldmeyer macht sich Sorgen um die Entscheidungsfähigkeit des Volkes: Es entscheidet an der Urne nämlich oft so, wie er selbst nicht entscheidet. Also falsch! Vielleicht stinkt es dem Volk einfach, auf komplizierte Vorschläge einzutreten? Oder verschliesst es nur die Augen vor wichtigen Tatsachen? Betrachtet es möglicherweise Entscheidungen als lästig und möchte nur Brot und Spiele…?
Seit Dezennien gehen alle geplanten Revisionen der Pensionskassensysteme bachab. Das Volk ist im Zweifelsfall immer partout dagegen. Natürlich sind Revisionen oft unangenehm. Autokratien und Diktaturen sind da selbstredend im Vorteil.
Überforderung des Volkes? Versagen der Staatsform? Unterlassungen der Beamten und Politiker?
Waldmeyer kann allerdings nachvollziehen, dass man eine Sache ablehnt, wenn etwas nicht klar oder unangenehm ist – ausser, wenn es sich um ein grosszügiges Angebot handelt. Es sei an die Abstimmung betreffend die 13. AHV (die staatliche Schweizer Altersrente) erinnert. Klar, eine gute Geschichte, mehr zu kriegen, auch sehr sozial. Und ein paar Wenige haben das auch wirklich nötig. Wenn man gleichzeitig allerdings die Karten nicht offenlegt, wie die Geschenke finanziert werden sollen, ist das schlichtweg unlauter. Es grenzt nahezu an Staatsversagen. In keiner Firma und in keinem Haushalt würde man etwas anschaffen, ohne zu überlegen, wie das finanziert werden soll. Es scheint offenbar ein Privileg des Volkes zu sein, dass man das darf – und ein Versagen der Staatsform, wenn man das zulässt. Zusätzlich handelt es sich auch um eine schreckliche Unterlassung des Managements des Staates (also Beamte und Politiker) den Entscheidungsträgern keinen reinen Wein einzuschenken.
Alle gegen alles
Ein wunderbares Beispiel dazu lieferte die jüngste Abstimmung über die Pensionskassen-Reform: Geplant war eine Besserstellung der Minderbeschäftigten, eine Besserstellung der Frauen, eine Herabsetzung der Beiträge von älteren Mitarbeitern. Letzteres war ziemlich gescheit, da sich ihre Anstellungschancen so verbessert hätten. Und jetzt der wichtigste Punkt der gescheiterten Reform: Der Umwandlungssatz. Dieser sollte etwas gesenkt werden, weil (leider oder glücklicherweise) die Restlebenszeit der Rentner dauernd steigt. Trotz all der vielen (vor allem sozialen) Verbesserungen wurde die Reform abgelehnt.
Waldmeyer wittert eine Verschwörung
Die Reformpunkte hätten aus der Feder der Gewerkschaften und der Linken stammen können. Aber warum wurden sie trotzdem bekämpft? Weil man noch mehr wollte? Weil man gegen das Älterwerden ist?
Waldmeyer kennt die wahre Antwort: Eine Verbesserung der Pensionskasse lag ganz einfach nicht im Programm dieser Kreise. Diese haben Grösseres vor, nämlich die «Fusion» der AHV mit dem obligatorischen Teil der Pensionskassen. Waldmeyer wittert, wenn nicht eine Verschwörung, so zumindest einen cleveren, längerfristig ausgelegten Schlachtplan: eine weitere «Umverteilung» also. Das bisher privat Angesparte soll verallgemeinert werden. Ja, Individuallösungen sollen abgebaut und an ihre Stelle umfassende gesellschaftliche Gesamtlösungen treten – welche natürlich viel besser in ein letztlich sozialistisches Weltbild passen.
Der Umwandlungssatz: eine Geheimzahl?
Doch zurück zum Umwandlungssatz. Dieser scheint so etwas wie eine Geheimzahl zu sein, weil mathematisch. Und Mathematik ist nicht jedem geläufig. Deshalb hatten es die Bundesräte auch tunlichst unterlassen, sich im Vorfeld der Abstimmung hier genau zu äussern. Nun, Mathematik mag ja nicht jedermanns Stärke sein: Bundesrätin Baume-Schneider als ausgebildete Sozialhelferin mag hier früher ein paar Lektionen verpasst haben. Und Karin Keller-Suter, als ausgebildete Dolmetscherin, hat sich in ihren Lehr- und Wanderjahren wohl auch nicht auf Mathematik fixiert. Dass sich die Gewerkschaften in ihrem Abstimmungskampf nicht am Rande um den Umwandlungssatz gekümmert hatten, war hingegen Taktik. Waldmeyer traut z.B. dem vollmundigen Gewerkschaftsführer und früheren Sekundarlehrer Pierre-Yves Maillard zu, dass er der Mathematik schon ein bisschen Herr ist. Aber sie hätte gestört. Also Neinparole – und möglichst keine Diskussion über diesen ärgerlichen Umwandlungssatz.
Kapital krallen oder sich Rente gönnen?
Allerdings ist die Causa Umwandlungssatz eine ganz simple. Eigentlich handelt es sich um eine Art fortgeschrittener Dreisatz. Und um den jüngeren und noch etwas bildungsferneren Lesern die Sache kurz zu erklären: Man nehme einen angesparten Rentenbetrag bei Alter 65. Du kannst dir dieses Kapital entweder komplett auszahlen lassen (mit einigermassen erträglichen Steuerfolgen), und du kannst dich mit der Kohle sogar nach Thailand absetzen. Die ausbezahlte Summe wird vermutlich reichen, bis an dein Ende am Strand zu hocken. Ganz am Schluss, in der Demenzphase, spielt dann das Geld eh keine Rolle mehr, da dein Leben von aussen bestimmt sein wird. Soweit zu Option 1.
Und vorab: Du kannst in der Regel wählen zwischen Option 1 und Option 2.
Und nun zu Option 2: Anstatt dir das ganze Rentenkapital zu krallen, beziehst du eine lebenslange Pension. Diese Option wählst du, wenn du a) entweder dir selbst nicht zutraust, mit Disziplin über eine stattliche Summe Geld zu verfügen und diese bis am Ende (siehe oben) einzuteilen. Oder b), weil du denkst, du wirst 100 Jahre alt.
Genau hier liegt auch der erste Management-Entscheid: Du musst entscheiden, bzw. schätzen, wie alt du werden wirst. Als Mann hast du in der Schweiz bei Geburt eine Lebenserwartung von 82 Jahren. Wenn du allerdings allerlei Unbill bis zum Alter 65 überlebt hast (Absturz vom Matterhorn, Unfall mit deiner Harley, Suizid etc.), hast du mit Alter 65 eine Lebenserwartung von 84. Also zwei schöne Jahre mehr. Das sind 19-mal Sommer, die du verbringen darfst. Zumindest die Hälfte davon mag noch angenehm sein.
Als Frau sind dir noch 23 Jahre vergönnt, sofern du bis 65 nicht das Zeitlichte gesegnet hast, du wirst 88 werden. Als Frau ist man sozial also absolut privilegiert – was allerdings gerade die SP und Feministinnen nie erwähnen.
Die Geheimzahl 6.8
Aber zurück zum Umwandlungssatz: Die Zahl 6.8 sieht vor, wie man sein persönlich angespartes Rentenkapital auch jährlich beziehen kann. Das geht auch in Thailand, hat bei dieser Kalkulation allerdings keine Bewandtnis. Ein Kapital von einer Million, über Jahre von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf ein persönliches Konto des Arbeitnehmers auf die Seite geschafft, wird auf die statistisch verbleibenden Lebensjahre gerecht verteilt. Eine Million multipliziert mit 6.8% ergibt nun 68’000 pro Jahr. So viel kann man mit der heutigen Regelung als Rente erwarten. Leider wird jeder Versicherungsnehmer im Durchschnitt nun älter, das ist der Statistik geschuldet. Also muss das Rentenkapital auf mehr Restlebensjahre verteilt werden, denn sonst reicht das Kapital nicht. Bei einem Umwandlungssatz von 6% kriegt man dann leider nur noch 60’000 pro Jahr – aber bis am Schluss.
Das Drama nun: Künftig werden wir vermutlich noch älter werden, und wir müssen den Umwandlungssatz dann nochmals senken. Wieso jede Änderung des rein statistisch beeinflussten Umwandlungssatz dem Volk vorgelegt werden muss, entzieht sich der Logik. Man hätte, so überlegte Waldmeyer, dem Volk auch die Bestimmung der Lebenserwartung vorlegen können.
Ich muss meine Restlebenszeit präzise abschätzen
Damit fällt die zweite Management-Entscheidung an. Sofern ich kurz vor 65 erkenne, dass ich das prognostizierte Alter übertreffen werde, könnte ich mich für eine Rente entscheiden. Dann werden einfach die anderen, die früher schon ableben, für mich bezahlen, freiwillig und aus Solidarität – wenn auch oft im Unwissen. Wenn ich andererseits eine nur noch beschränkte Restlebenszeit vor mir sehe (weil ich z.B. starker Raucher bin oder restlos dem Alkohol verfallen), würde ich mit Vorteil die Rentenauszahlung wählen und das Geld dann raschmöglichst verjubeln. Schön ist, dass wir hier i.d.R. eine Entscheidungsfreiheit (Auszahlung oder Rente) geniessen.
Wer also gegen einen wie immer gestalteten Umwandlungssatz ist, könnte das angesparte Kapital einfach beziehen und sich um diese Umwandlungssätze foutieren.
Waldmeyer sieht genau fünf mögliche Lösungen
Aus politischer Sicht kommen wir nicht darum herum, den Gegnern von Reformen folgende Lösungen vorzuschlagen, um die Kuh vom Eis zu bringen:
- Wir könnten dagegen sein, älter zu werden. Die Umsetzung wird sich allerdings etwas schwierig gestalten.
- Man könnte bereit sein, für die statistisch neuen, zusätzlich erworbenen Lebensjahre (also z.B. für die letzten zwei Jahre) auf eine Rente zu verzichten.
- Wir könnten die Beitragszahlungen in die Pensionskassen erhöhen.
- Wir könnten das Pensionsalter erhöhen.
- Wir könnten die Renten kürzen.
Allerdings kennen wir die Antwort unserer Gegner schon: Sie sind gegen alle fünf Lösungsansätze. Sie würden eher Lösung 6) wählen: Der Staat müsste einfach mehr Geld einschiessen!
Die Überforderung ist mit Händen zu greifen
Vielleicht ist das Volk schlichtweg überfordert bei diesen schwierigen Fragen? Oder liegt es vielleicht am mangelnden Mathematikverständnis? Oder am puren Desinteresse an Details, sodass man den lautesten Protagonisten auf den Leim kriecht? Oder möchte man einfach nichts ändern, weil bisher doch alles gut lief? Waldmeyer wagt, ganz vorsichtig, eine These: Möchte das Volk vielleicht nur Brot und Spiele? Soll es sich gar nicht um komplizierte Entscheide kümmern müssen? Die Überforderung ist nämlich mit Händen zu greifen.
Waldmeyer weiss nun: Er wird sein eigenes Pensionskapital einmal beziehen. Alles auf einmal. Take the money and run. So kann er getrost auf die ganze Rentenübung verzichten. Dabei möchte er nicht mal nach Thailand.