Der Sonntagsmorgen-Tisch bei Waldmeyers in Meisterschwanden bietet die seltene Möglichkeit, Grundsätzliches zu besprechen. Diesen Sonntag war es ein besonders günstiger Moment, denn Charlotte hatte sich zum Tennis abgeseilt. Eine gute Gelegenheit also, um die Kinder ungestört zu kalibrieren. Waldmeyer hatte sich für heute das Thema «Rente» vorgenommen.
«Charlotte hat mir verraten, dass ihr beide damals für die 13. AHV gestimmt habt. Ihr seid eine Lichtgestalt in der Sozialwelt. Dafür möchte ich euch danken. Ihr seid nämlich ziemlich selbstlos, denn i c h werde die 13. einmal erhalten, ihr aber nicht. Die 13. kostet uns übrigens rund fünf Milliarden zusätzlich pro Jahr. Lara, weisst du, wie viele Nullen eine Milliarde hat?»
Lara tippte auf ihrem Handy rum und fand keine schlüssige Antwort. „Du bist entschuldigt, Lara, denn ein Grossteil der Stimmbürger weiss es auch nicht. Aber zum Vergleich: Es entspricht etwa der Summe, die uns jährlich die Landwirtschaft kostet oder die Armee. Jährlich. Hätten die Stimmbürger die Grössenverhältnisse gekannt, hätten sie vielleicht anders gestimmt. Aber Elisabeth wusste das mit den Nullen vielleicht auch nicht.“
„Elisabeth who?“, wollte Lara wissen.
«Elisabeth Baume-Schneider, die Bundesrätin. Die mit den Schwarznasenschafen.»
Noa blickte kurz von seinem Handy auf, noch etwas vom Restalkohol des Vorabends gekennzeichnet. Was sein Vater heute nun schon wieder vorhatte? Noa, nach ein paar Semestern Studium in Betriebswirtschaft, witterte eine Falle. Lara blieb – vorerst – noch indifferent.
Wir werden zu alt
Waldmeyer holte aus und erklärte die Finanzierungsprobleme unserer Sozialsysteme. So wird zum Beispiel die AHV langfristig nicht gesichert sein. In rund 15 Jahren werden auf jeden AHV-Bezüger nur noch zwei Beitragszahler kommen, wenn überhaupt. Ja, wir werden zu alt. Bei der Einführung der AHV betrug die Restlebenszeit noch ein paar wenige Jahre, heute hingegen haben die 65-Jährigen noch rund 20 Jahre vor sich. Und sie werden immer mehr. Im Strassenbild wird es bald nur noch Greise geben, vielleicht noch ein paar jüngere Mitbürger, mit anderer Hautfarbe und schäbig gekleidet, welche kaum ins Rentensystem einzahlen. Genau gleich wird es sich mit den privaten Pensionskassen verhalten: Immer weniger werden immer mehr unterhalten müssen – womit immer weniger Rente verbleibt. Eine Anpassung der Systeme ist kaum möglich, die verschiedenen Abstimmungen der Bürger zeigen es. Nun war auch Lara dabei, sie runzelte die Stirn.
Rentenalter 75?
Das Rentenalter wird folglich zwingend heraufgesetzt werden müssen. Auf 70 oder gar 75 Jahre? Oder noch höher? Oder die Renten müssen drastisch gekürzt werden. Oder die Beiträge massiv erhöht werden. Oder der Staat wird einschiessen müssen, aber dann muss er die Steuern erhöhen. So beispielsweise auch die MWST, damit gerade auch die Rentner schön mitzahlen. Alle diese Lösungen werden vom Souverän wohl erst abgelehnt werden, aber kurz, nur ganz kurz vor dem Kollaps der AHV, zum Beispiel, so Waldmeyer, wird dann zu einer Radikallösung gegriffen werden.
Endlich hatte Waldmeyer die Aufmerksamkeit von Noa und Lara. Lara runzelte erneut die Stirn: «Nein, nein, so weit wird es nicht kommen, die werden eine bessere Lösung finden», warf sie ein.
Waldmeyer baute nun seine geballte Sprachkraft auf: «Nun, mit «die» meinst du euch, ja?» entgegnete er und kam langsam in Fahrt.
Der offene Geheimplan der Linken und der Grünen
In der Folge erklärte Waldmeyer die Bestrebungen der Grünen und der SP: Sie steuern auf eine staatliche Einheitsrente hin. Das Ziel soll die Verstaatlichung der 2. Säule sein. So gab es bereits einen parlamentarischen Vorstoss in diese Richtung. Dieser kam nicht durch –zumindest vorerst nicht. Aber es wird weitere Vorstösse geben. Ein solches Unterfangen, nämlich die «Fusion» der staatlichen und privaten Rentensysteme, wäre zwar nicht leicht umzusetzen, denn das hätte Enteignungscharakter. Aber nichts ist unmöglich, wenn letztlich die Mehrheit der Bevölkerung dafür stimmen würde. Eine von den Gewerkschaften initiierte Initiative, mit Sukkurs der Grünen, der SP und der Juso, könnte zu einem Durchbruch führen.
«Dann würde ich auswandern. Ich würde vorher die Kohle beziehen und einfach abhauen», warf Noa ein.
Grosse Hindernisse beim Kapitalbezug
Das wäre tatsächlich eine Lösung: Die Kohle einfach beziehen. Allerdings geht das nicht so einfach, wenn das Auswanderungsland in der EU liegt oder ein EFTA-Staat ist. Dann kann man sein angespartes Rentenguthaben aus der Pensionskasse nicht einfach so als Kapitalbezug «beziehen» und auswandern: Nur der überobligatorische Teil der PK und die Säule 3a können bezogen werden. Und wenn der Auswanderungszeitpunkt nach dem Renteneintritt liegt, sind allfällige Entscheidungen eh zu spät: Die Wahl zwischen Rentenzahlung und Kapitalbezug muss vorher stattgefunden haben.
«Ihr müsstet aus Europa raus. Ausser ihr wollt nach Serbien. Oder nach Bosnien.»
«Ich geh dann eh nach Miami», verkündete Noa überzeugt, «oder nach Kalifornien und gründe eine Kryptowährung!» Waldmeyer weiss genau, wie er bei den Ideen seines Sohnes reagieren muss: «Gut so, mach das!»
Der zweite Geheimplan
Dieser ist eigentlich nicht geheim, wurde aber in der gleichen politischen Ecke fabriziert: Die steuerliche Bevorzugung des Kapitalbezuges der Pensionskasse soll fallen. Für grössere Summen käme dann als Alternative vermutlich nur noch die Rente in Frage. Damit wird allerdings das ganze System der Säulen 2 und 3 in Frage gestellt. Waldmeyer weiss, was schon heute zu tun ist. Erstens: keine freiwilligen Einzahlungen mehr in Rentensysteme. Zweitens: Take the money and run. Das heisst, wenn immer möglich jetzt schon Rentenkapitalien beziehen, zur Reduktion von Hypotheken oder im Rahmen einer Teilpensionierung. Das Vertrauen in Bundesbern ist dahin.
Die AHV sich als Kapital auszahlen lassen…?
Bei der AHV ist alles noch schwieriger. Kann die AHV tatsächlich frühzeitig als Kapital bezogen werden?
Ja, da gibt es ein paar Schlupflöcher! Wenn man dem Risiko entfliehen möchte, später einmal nur noch eine reduzierte Rente zu kriegen, obwohl man Jahre oder Jahrzehnte einbezahlt hat, weil diese staatliche Kasse pleite ist, könnte man proaktiv mit einem Kapitalbezug reagieren. Also nicht erst warten, bis man 65 wird (oder eben 70), sondern schon frühzeitig das Weite suchen. Take the money and run. Also sich die AHV frühzeitig auszahlen lassen, indem man sich ins Ausland absetzt. «Das geht aber nicht», warf nun Lara ein. Die Eltern von Fatima, ihrer Studienfreundin an der Uni (Basel, Ethnologie, schon länger), seien nun mit 55 wieder zurück nach Portugal gezogen. Die Hälfte der PK hätten sie zwar mitnehmen können und damit das Haus in Porto fertiggebaut, die AHV konnten sie aber nicht abheben, die bleibt nun in der Schweiz eingefroren und sie müssen 10 Jahre warten, bis sie monatlich als Pension überwiesen wird. Fatimas Mutter putze nun inzwischen in Haushalten von Expats, das bringe am meisten ein.
«Bosnien», warf Waldmeyer ein, «das wäre eine elegante Lösung». Fatimas Eltern hätten nach Bosnien auswandern sollen. Tatsächlich gibt es gewisse Länder, rund ein Dutzend, in die man die AHV-Kohle frühzeitig und komplett mitnehmen kann, mit einer richtigen «Auszahlung».
«Spinnst du Dad, wer geht denn schon in ein muslimisches Land und läuft dann mit einem Kopftuch rum!»
Notfalls nach Albanien
Waldmeyer klärte weiter auf. Man könnte auch in die Türkei auswandern (allerdings auch muslimisch). Oder nach Albanien (auch). Oder nach Japan. Wichtig ist, dass man sofort einen Ehepartner mit dieser Staatsbürgschaft findet, Staatsbürger des auserkorenen Landes wird und den Schweizer Pass zurückgibt. Dann kann man die AHV tatsächlich frühzeitig als Kapital beziehen. Einfacher noch geht es, wenn man, nur beispielsweise, bereits Albaner ist, keinen Schweizer Pass hat und in sein Heimatland zurückgeht. Ja, so kann man sich die AHV sichern, cash auszahlen lassen und nicht Gefahr laufen, dass diese später einmal bankrott ist, weil es in der Schweiz nur noch alte Leute gibt und niemand mehr einzahlt.
Der Worst Case: Die Einheitsrente
Wenn die Einheitsrente kommt, also die staatliche Rente aus der fusionierten AHV und PK, wird die komplette Umverteilung der Ersparnisse stattfinden. Ein Blick nach Deutschland zeigt, in welche Abgründe man da mit einer umfassenden Volksrente blicken kann: Die Beitragssätze werden dort demnächst auf 22% erhöht. Aber es wird nichts nützen, denn die Renten bleiben trotzdem tief, und das System wird unweigerlich kollabieren – zumal immer mehr tüchtige Beitragszahler abwandern. In die Schweiz z.B., dort sind sie als Beitragszahler in unsere Sozialsysteme hochwillkommen.
Aber zurück zur möglichen Auswanderung. Es könnte nämlich noch dicker kommen. Waldmeyer dozierte weiter am Frühstückstisch, dass bei einer dergestalt, nach sozialistischem Muster umgestalteten einheitlichen Volksrente ein Kapitalbezug natürlich nicht mehr möglich wäre. Auch hier macht es Deutschland übrigens vor, wie geschäftstüchtig ein Staat sein kann (zumindest beim Steuereintreiben): Wandert man aus, muss die Rente nicht etwa in der neuen Heimat versteuert werden, sondern tatsächlich immer in Deutschland. «Das ist Fiskalterrorismus», meinte Waldmeyer vielsagend.
Waldmeyer fasst zusammen
«Also, ihr müsst künftig einfach gut verdienen und möglichst alle Ersparnisse separat auf die hohe Kante legen. Ihr könnt euch nicht auf Renten verlassen, weder auf staatliche, die ihr in 40 oder mehr Jahren einmal (vielleicht) erhalten werdet – noch auf private, welche vielleicht einmal verallgemeinert werden oder nur mit horrenden Steuertarifen bezogen werden können. Also bitte alles schön selber auf die Seite legen. Aber schön, habt ihr für die 13. AHV gestimmt, die ihr jetzt mitfinanzieren dürft!»
Noa tippte derweil auf seinem Handy rum. «Du bist schon am Rechnen, Noa, gell!», triumphierte Waldmeyer. «Nein, ich schaue nach Flügen nach Kalifornien», grinste Noa zurück.