Bereits sollen rund 140’000 Russen im Krieg in der Ukraine gestorben sein. Und rund 70’000 Ukrainer. Das unbalancierte Verhältnis der Kriegstoten ergibt sich aus dem Umstand, dass ein Angreifer immer mehr verliert als ein Verteidiger, das lehrt die Militär-Historie. Aber Waldmeyer verblüffte etwas ganz anderes, was den Ukraine-Krieg in ein neues Licht rückte: Der Einfluss des Alkohols.
Der Cognac vor dem Kaminfeuer schmeckte Waldmeyer heute nicht so recht. Vielleicht hätte er lieber ein Glas Wodka nehmen sollen, angesichts seiner Gedanken an die Ukraine. Die Amerikaner würden Eiswürfel in den Cognac werfen, überlegte Waldmeyer, und es schüttelte ihn bei diesem Gedanken. Charlotte schwenkte ein Glas Baileys; Waldmeyer liess ihr das durchgehen, obwohl er in einem Baileys eher so etwas wie ein Dessert sah.
Aber eigentlich dachte Waldmeyer an Wodka. Der würde aber nicht als Drink vor dem Kaminfeuer passen, und wir Westler trinken Wodka ohnehin selten pur – bei uns ist Wodka eher ein willkommenes Mischgetränk.
Wo ist Waldmeyer auf dem Bild?
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Es ging jedoch gar nicht um Cognac oder Wodka. Waldmeyer stellte einfach nur fest, dass die Russen und die Ukrainer offenbar an den Frontabschnitten fleissig dem Alkohol zusprechen. Meistens dem Wodka. Waldmeyer ging es allerdings gar nicht um diese Sauferei in den Gräben und den Unterständen. Was sollten sie denn sonst tun, die Soldaten, bei dieser blöden Warterei, zudem in der Kälte, im Regen, oft im Dunkeln und im Schlamm. Ein Desaster vor Ort. Waldmeyer konstatierte nun kein medizinisches Problem an diesen Kriegsschauplätzen, sondern ein generelles.
«Die Russen sterben vor allem an Wodka», meldete Waldmeyer zu Charlotte rüber. Charlotte zuckte nur mit den Achseln.
Zuvor hatte er die Zahlen der Gefallenen an der Ukrainefront studiert. Ein Gemetzel. Die Frontabschnitte erinnern zum Teil an den Ersten Weltkrieg – nur kommen heute die Drohnen dazu. Aber man stirbt noch immer in den Frontgräben. Rund 140’000 Russen sind seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine gefallen. Das bedauerte auch Christoph Blocher, das mit dem «Tod der unschuldigen jungen Russen». Dass er dabei die unschuldigen jungen Ukrainer vergass, ist wohl seiner speziellen kognitiven Wahrnehmung geschuldet.
Auch rund 70’000 Ukrainer mussten nämlich ihr Leben lassen. Die Ukrainer sind etwas tapferer. Ihnen droht der Verlust ihres Vaterlandes, deshalb sind sie motivierter. Die Russen werden aus Sibirien abkommandiert und in den Fleischwolf geschickt. Sie sind de facto aber oft nur Söldner, sie sind nicht aus Überzeugung hier, sondern weil Frontsoldat ein gut bezahlter Job ist. Besser als sich zu Hause bei einem Hungerlohn in Wladiwostok oder Murmansk abzuschuften.
«Die Russen sterben doppelt so rasch wie die Ukrainer», meldete Waldmeyer nun zu Charlotte rüber. Charlotte zuckte mit den Mundwinkeln und versuchte, sich auf ihren Baileys zu konzentrieren.
Waldmeyer stellte weiter fest: Also nehmen die jungen russischen Männer ein hohes Risiko in Kauf, im Sarg nach Murmansk zurückgeschickt zu werden. Zumal sie das Risiko gar nicht kennen, sie kriegen ja nur beschränkt und in zensierter Form die wenigen internationalen Nachrichten auf ihr Handy. Vielleicht können sie ihr Handy auch nicht immer gleich aufladen, vielleicht läuft gerade Krieg, und in den Gräben gibt es ja keine Steckdosen.
Waldmeyer wollte es nun genauer wissen und analysierte die wahren Todeswahrscheinlichkeiten der Russen. Und, Heureka, es sind gar nicht Armeerisiken: Die Russen sterben nämlich sehr oft bei Verkehrsunfällen: rund dreimal mehr als in Deutschland oder der Schweiz. Russen lieben auch den Suizid: Die Rate liegt auch hier um ein Mehrfaches höher als bei uns. 300’000 männliche Tote jährlich verzeichnet das grosse Land als Folge des Tabakkonsums – eine unglaubliche Zahl. Manchmal erfrieren sie auch, die Russen, aber dabei besteht wohl ein Kausalzusammenhang mit dem Alkohol: Wenn man betrunken aus der Bar torkelt in Nowosibirsk, auf dem blanken Eis ausrutscht und seinen Kopf aufschlägt und stirbt, ist man bestenfalls tot. Vielleicht erfriert man aber im Suff und in der Dunkelheit. Es ist dann ein Unfalltot oder ein Erfrierungstod.
Die Russen nehmen das mit dem Tod und überhaupt mit dem Wert eines Menschen nicht so genau. Historisch gesehen war ein russisches Leben eh nie viel wert. Das war zur Zarenzeit so, später unter Stalin, dann hinter dem Eisernen Vorhang, heute eben an der Front in der Ukraine. Da gelten höhere Ziele.
Aber nun zurück zum Alkohol und den Russen: Tatsächlich sterben in Russland jährlich rund 500’000 bis 700’000 Menschen an Alkoholmissbrauch. Es sind meistens Männer. Russische Frauen saufen weniger. Die werden eher exportiert, in den Westen – zumindest die schönen schlanken, mit Beinen bis unter die Achseln, oft auch mit nachgeholfenem Look, das heisst mit viel Silikon im Busen und den Lippen, neuerdings auch im Po, zur Form-Optimierung. Frauen werden in Russland im Schnitt 78 Jahre alt, Männer nur 67. Natürlich lebt man in den chicen Quartieren in St. Petersburg und in Moskau länger, dort gibt es eine top Gesundheitsversorgung. Sofern man genügend Geld hat, lebt man ohnehin länger, das ist an anderen Orten auch so. Aber wenn man ein begrenztes Budget hat und viel säuft, wird es brenzlig.
Das mit der unterschiedlichen Lebenserwartung der Männer und Frauen hat also kaum etwas mit dem Ukrainekrieg zu tun. Und das mit der beschränkten Lebenserwartung der Männer wohl nur am Rande mit diesem Krieg. Der russische Mann stirbt, statistisch gesehen, in der Regel, weil er raucht und/oder säuft. Konkret: Die Kriegstoten an der Ukrainefront sind fast vernachlässigbar, angesichts der gigantischen Zahl an Tabakleichen oder Alkoholtoten.
Waldmeyer möchte nicht falsch verstanden werden: Er möchte das Kriegsdrama nicht verzwergen. Aber die Zahlen sind nun mal so. Putin wird diese auch kennen. Deshalb sind für ihn die Ukraineverluste, im Verhältnis zu anderen Todesrisiken seiner Untertanen, eine Quantité négligeable – was das ganze Drama nur noch dramatischer macht.
Bei den Ukrainern sieht es etwas anders aus, aber relativ gesehen, unter dem Wodka-Aspekt, doch auch ähnlich: Da sterben nun im Krieg über 30’000 Soldaten und Zivilisten jährlich, aber rund doppelt so viele jedes Jahr an Alkoholmissbrauch. Die Ukrainer saufen auch Wodka, und dies nicht zu knapp. Immerhin ein bisschen weniger als die Russen. Sie leben zudem einen Wimpernschlag gesünder, ihr BMI ist auch etwas tiefer als der der Russen. Gastronomisch ist das nicht zu begründen, denn beide Staaten befinden sich in kulinarischen Wüsten. Es hat wohl eher mit der Menge der Nahrungsaufnahme zu tun.
«Die Russen sterben vor allem an Wodka», meldete Waldmeyer nochmals Richtung Charlotte rüber. „Vielleicht wirst du einmal an Cognac sterben, Max“, erwiderte Charlotte.
Waldmeyer gönnte sich gleich einen Refill. Es war ein Hennessy, kein überragender Cognac, aber ein sehr korrekter. Die Nordkoreaner werden wohl kaum Cognac trinken, auch keinen Wodka, vor allem jetzt nicht an der Ukrainefront, überlegte Waldmeyer. Die sind dünn, fast ausgemergelt, da es in ihrem Land ja nicht genügend zu essen gibt. Die nordkoreanischen Soldaten sind aber mental gut kalibriert und trainiert. Sie saufen überhaupt nicht, Alkohol ist nämlich nur für die Nomenklatur im Land erschwinglich. Nordkoreaner erscheinen, im Vergleich zu den Russen an der Front, also als sehr gesunde Menschen – zumindest BMI-mässig und was ihre Trinkgewohnheiten anbelangt.
Nordkoreaner, und Waldmeyer meinte dabei diejenigen, die nicht an der Front sind, leben trotzdem nicht sehr lange, offenbar setzt die Misswirtschaft in Pjöngjang den Menschen doch zu. Männer werden in Nordkorea rund 71 Jahre alt – was ein ganz guter Wert ist im Vergleich zu Russland, aber immer noch ein sehr schlechter Wert global, nämlich deutlich unter dem Weltdurchschnitt. Und wenn nun noch junge Koreaner an der Ukrainefront verheizt werden, wird das die Statistik der Lebenserwartung kaum verbessern – aber wohl auch kaum signifikant verschlechtern, so viele Soldaten hat der ehemalige Schulabgänger aus Gümligen und Kerzers (Kim Jong-un, der ziemlich adipöse Diktator Nordkoreas) noch gar nicht an die Front geschickt.
Dann ist der Ukrainekrieg, opfermässig, vielleicht nur so etwas wie ein «Storm in the Waterglass»…? Nein, beileibe nicht. Waldmeyer versuchte nur, das Todesdrama in Osteuropa zu relativieren. Er wird sich dabei allerdings keine neuen Freunde schaffen.
«Die Ukrainesache ist ein Drama», meinte Max Waldmeyer zu Charlotte, und er schenkte sich nochmals etwas Hennessy nach.
«Vielleicht ist es doch schöner, an Alkohol zu sterben, als an Krieg, Max – meinst du nicht…?», erwiderte Charlotte.