Waldmeyer und der Fachkräftemangel im Bundesrat

Bei der Besetzung der Bundesratspositionen geht es bekanntlich nie um Kompetenzen der Kandidaten. Am Schluss landen alle in einem Departement, das sie nicht verstehen. Die Fachkräftekrise ist damit nicht neu in der Schweiz: Seit Jahren schon hat sie auch den Bundesrat erreicht.

Das neue Bundesratsfoto zeigt die acht Mitglieder. Das heisst die sieben Bunderats-Mitglieder, plus den Bundeskanzler. Waldmeyer ist der Name des neuen Bundeskanzlers entfallen. Bundeskanzler haben es in anderen Ländern einfacher: Da sind sie bekannter. Weil sie dort der Chef sind – so in Deutschland. Was sie dann allerdings nicht davon abhält, nichts zu tun. Also scheint das Schweizer Prinzip vielleicht doch besser zu sein, keinen Chef zu haben? Ja, es gibt die Bundespräsident:innen. Oder Bundespräsident*innen. Oder Bundespräsident_innen. Oder BundespräsidentInnen. (Einigen wir uns auf den inklusiven Begriff des Bundespräsidenten.) Diese wechseln, zum Erstaunen ausländischer Regierungen, jedes Jahr. Auch hier geht es dann nicht um Chefqualitäten, sondern um einen einfachen Turnus. Wer genügend lange im Club bleibt, darf zweimal ran.

 

Wir dürfen Bundesräte nicht an der Garderobe oder an der Frisur messen

Wie wir wissen, müssen Bundespräsidenten nicht viel tun. Es geht bei dem Job eher um allerlei unwichtige Eröffnungen und um Reisen. Dafür gibt es auch ein bisschen mehr Spesen für ein ganzes Jahr – obwohl eigentlich schon alles bezahlt ist. Ausser der Garderobe. Frau Amherd wird deshalb anfangs Januar, vielleicht im Ausverkauf in Brig, noch kurz vor dem WEF, ihre Garderobe aufgebessert haben. Im Laufe des Jahres wird das dann nicht so ersichtlich sein, aber wir sollten ja unsere Landesvertreterinnen und –vertreter auch nicht an der Garderobe oder an der Frisur messen. Sondern an den Leistungen. Waldmeyer erinnerte sich an den etwas abgestandenen Witz betreffend die Garderobe einer Ex-Bundesrätin: Was macht Ruth Dreyfuss mit ihren alten Kleidern? Ja, sie trägt sie!

Falsche Personen am falschen Ort?

Aber zurück zu den Leistungen. Nun, gerade hier liegt die Sache im Argen: Leistungsbemessungen werden schwierig, wenn die Voraussetzungen gar nicht stimmen. Wenn also die falsche Person am falschen Ort eingesetzt wird.

Die Grundvoraussetzungen für eine wählbare Person in den Bundesrat hängt bekanntlich von der Parteizugehörigkeit, dem Kanton, dem Geschlecht, der Landessprache etc. ab. Am Schluss bleibt deshalb nur noch eine vernachlässigbare Schnittmenge mit wenigen Kandidaten. Waldmeyer weiss, dass noch neue Voraussetzungen hinzukommen werden: Es müssen künftig auch verschiedene Genderformen berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass allein Facebook 60 verschiedene Formen nennt und heute (vermutlich) nur zwei davon in der Landesregierung vertreten sind, ist eine sträfliche Diskriminierung. Zumindest eine queere Variante sollten wir schon aufweisen.

Kleine Schnittmenge möglicher Kandidaten

Auch sollte der Religionshintergrund künftig besser berücksichtigt werden. Zumindest einen muslimischen Bundesrat sollte es schon geben, sonst ist diese rasch wachsende Gemeinde unterrepräsentiert.

Dass zurzeit auch in Sachen Hautfarben im Bundesrat nicht alles zum Besten steht, lässt sich schon auf dem Foto mit den Glorious Eight – oder Seven – erkennen.

Zudem müssten künftig auch diverse Invaliditätsformen besser repräsentiert werden. Auch Krankheiten psychischer Natur (nicht versteckte, die es unter Umständen heute schon gibt, sondern auch offensichtliche) sollten besser vertreten sein.

Kurzum, die Schnittmenge der Kandidaten wird immer kleiner, schlimmstenfalls würde sich dann nur noch ein einziger Kandidat eignen: Zum Beispiel eine schwarze, lesbische, muslimische, junge Mutter mit vier Kindern aus dem Kanton Glarus mit dem Parteibuch der Mitte (ex CVP). Im Idealfall wäre ihre Muttersprache zudem serbokroatisch. Bei einer anderen Wiederwahl in den Bundesrat müsste dann ein beinamputierter jüdischer SP-Vertreter aus dem Tessin mit Muttersprache Deutsch herhalten. Was wichtig ist: Man sollte sich bei der Wahl nie von den Fragen nach fachlicher Eignung oder Führungsstärke ablenken lassen.

Möglichst viele Handarbeitslehrerinnen?

Dieses Prinzip der optimierten Besetzungen, bar jeder Fachkompetenz, ist nicht neu. In Deutschland wird es seit Jahren zelebriert. Bundeskanzler Scholz verstand es zu Beginn seiner Regierungsbildung, möglichst viele Personen des Typs Handarbeitslehrerin unterzubringen. Die grosteskeste Besetzung war wohl Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin. Sie brachte ein absolutes Maximum an Nichtwissen mit für den Job. Und genauso scholzt der Bundeskanzler weiter. Sein wichtigster Minister ist der Jugendbuchautor Habeck, jetzt Wirtschafts- und Umweltminister.

Dieses Prinzip der maximal schwachen Ministerbesetzung hatte bereits Mutti Merkel erfunden. Das hat System, denn so kommt dem Prinzip der eigenen Machtfülle niemand zu nahe. Man ist mit dem Umstand schon voll absorbiert, den eigenen Job nicht hinzukriegen. Ja, jeder soll kriegen, was er am wenigsten versteht.

In der Schweiz haben wir ein anderes System, es wird nicht gescholzt. Das Prinzip beruht auf der Idee, diese komplett verquere Schnittmenge aus aussenstehenden Faktoren anzustreben, die letztlich eine ganz lustige Besetzung fördert. Gehen wir doch unsere Landesvertreter der Reihe nach kurz durch:

Viola Amherd repräsentiert das Wallis. Das sieht man schon an der Frisur (Coupe Brig-Glis), man hört es auch – oder man sieht es, wenn beim Gespräch mit deutschen Regierungsvertretern ein Dolmetscher hermuss. Sie ist ledig, was schon mal gut ist, denn vielleicht bildet sie eine der vernachlässigten Genderformen ab, hat es uns indessen noch nicht gebeichtet. Früher verfocht sie auch schon mal, als Frau, die Idee eines vierwöchigen Vaterschaftsurlaubs – was Waldmeyer als «inklusives» Zeichen deutete.

Viola führt die Armee. Sie ist auch für den Sport im Land verantwortlich. Zu diesem Job kam sie wie die Jungfrau zum Kind, sie hatte ja noch nie was am Hut gehabt mit Verteidigungspolitik, noch nie musste sie eine grosse Zerlegung eines Sturmgewehres vornehmen oder geopolitische Gefahren studieren, und aufgrund ihrer Optik hatte sie früher vermutlich auch nichts mit Sport zu tun (allenfalls mit Raclette-Kampfessen im Wallis). Sie ist die einzige Juristin an Bord, also könnte sie eventuell das Justizdepartement führen. Aber die Verteilung der Ämter funktioniert eben so gerade nicht in unserem Land.

 

Karin Keller-Sutter ist die bestangezogene Frau in diesem Siebner-Club. Sie trägt Akris. Sie spricht auch ein paar Sprachen, wenn auch nicht die eventuellen Landessprachen der nahen Zukunft (unter anderem vielleicht albanisch?). Sie gibt sich echt Mühe, lächelt etwas wenig, führt aber zumindest ganz leidlich. Sie hatte letztes Jahr die Finanzen übernommen. Waldmeyer weiss, dass dies vermutlich das wichtigste Fachgebiet im Bundesrat ist – also müsste eine ausgewiesene Finanzkraft dieses Departement führen. Ein Studium der Nationalökonomie, Finanz- und Rechnungswesen oder ähnlich und mehrere Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet würden da nicht schaden. Karin ist indessen ausgebildete Dolmetscherin, sie wird sich also noch während ein paar Jahren einarbeiten müssen. Kein Wunder, hatte sie an jenem Wochenende im März die CS für ein Apfel und ein Ei an die UBS verschenkt, alles andere wäre zu kompliziert gewesen.

Elisabeth Baume-Schneider ist ausgebildete Sozialhelferin, kommt aus dem Jura, hält Schwarznasenschafe, und ihr Mann ist Taxifahrer. Das muss nicht schlecht sein, denn so repräsentiert sie vermutlich die ländliche Arbeiterklasse. Ihre Besetzung mit dem Justizdepartement vor einem Jahr war indessen doch etwas vermessen. Da man sich bei Bedarf und Wechseln im Club etwas Neues aussuchen darf, hat die frühere bekennende Marxistin nun das Departement des Inneren gewählt. Waldmeyer weiss natürlich, dass das die schlechtestmögliche Besetzung sein wird, um die letzten Faxgeräte aus dem BAG zu entfernen, die Digitalisierung dort voranzutreiben, die völlig aus dem Ruder gelaufenen Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen und unsere Demografie-Probleme zu lösen. Sie ist eine grosse Anhängerin der 13. AHV-Rente, vielleicht wird sie die Refinanzierung der AHV so angehen?

Beat Jans ist der Neue. Und der Neue hat bei der Verteilung der Jobs immer die A-Karte zu ziehen. Also musste Ex-Landwirt Beat das ungeliebte Justiz- und Polizeidepartement übernehmen. Baume-Schneider, Keller-Sutter, Sommaruga: Alles Vorgängerinnen, alle relativ glücklos, zufälligerweise alles Nicht-Juristen, alle hatten sich hier die Zähne ausgebissen. Wirklich nicht zu beneiden, der Beat. Aber er strahlt immer. Und er ist Basler. Ja, das war ganz wichtig, denn jetzt waren die Basler wieder mal dran.

Unser Guy Parmelin führt das Wirtschaftsdepartement. Hier ergibt sich insofern eine positive Korrelation zwischen Beruf und Verantwortung, als er als ehemaliger Winzer bestimmt einen Link zur Gastronomie, also zur «Wirtschaft», gefunden hat. Natürlich ist er kein echter Wirtschaftsfachmann. Er versteht die Ökonomie auch nicht im Sinne des Managements einer Volkswirtschaft – sondern vielleicht eher als Önologie und im Sinne der «Ökonomie der Kräfte» betreffend sein Engagement. Aber er ist Westschweizer. Und Landwirt. Und verfügte damals über das richtige Parteibuch. Dann darf man eben auch mal Bundesrat sein.

Ignazio Cassis ist (nebst Elisabeth aus dem Jura) eigentlich die Lieblingsfigur Waldmeyers. Ignazio ist Arzt, Fachgebiet Onkologie. Er macht immer alles ein bisschen falsch, und grundsätzlich haben alle Bedauern mit ihm. Dass er das Aussendepartment führt, hat sich eben auch so ergeben. Was man ihm zugutehalten muss: Er ist absolut harmlos, denn er befindet sich, gefühlt, in einem Wachkoma. Natürlich erreicht er so auch nichts. So schaffte er es bis heute nicht, die Hamas-Schlächter als Terrororganisation zu klassifizieren. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass man den Beruf des Aussenministers nicht einfach so erlernen kann. Es gibt keine Aussenministerschule. Oder einen Master in Aussenministersein. Man muss es einfach können, meistens weil man etwas polyglott ist, die globalen Zusammenhänge versteht, über ein gutes weltumspannendes Netzwerk verfügt und im Verhandlungspoker ein Ass ist. Also nicht ein «ass» im englischen Sinne, sondern einfach ein Crack bei diesen kosmopolitischen Spielen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch das Bedauern erklären, denn Ignazio konnte das alles beim besten Willen nicht mitbringen.

Albert Rösti ist einer der Neuen. Durchs Band früher ein relativ glückloser Politiker, hat er nun vielleicht seine Rolle gefunden. Er verwaltet Energie und Umwelt. Da man die damit zusammenhängenden Probleme in unserem basisdemokratischen Land eigentlich gar nie lösen kann, kann er auch gar nichts falsch machen. Als ausgebildeter Agraringenieur hat er sich leidlich eingearbeitet in die vertrackte Materie. Die grossen Solaranlagen und die Erhöhung der Staumauern dürfen nicht gebaut werden, aber es ist wirklich nicht seine Schuld. Und wenn die Energie teurer wird, auch nicht. Er kümmert sich jetzt vor allem um die Wölfe. Beziehungsweise um deren Abschüsse. Auch da kann man eigentlich fast alles nur falsch machen, weil die Umstände etwas kompliziert sind, also fallen allfällige Misserfolge nie auf einen zurück. Vielleicht ein Traumjob?

Waldmeyer ist leider keine Fachkraft

In der Summe, so meinte Waldmeyer gegenüber Charlotte, ist eigentlich nicht nur Ignazio harmlos. Alle sind harmlos. Und alle können nichts dafür, dass sie einen Job gefasst haben, von dem sie wenig verstehen. Es ist systemimmanent. Deshalb müssen wir sie entschuldigen. Diese Leute sind nun einfach wegen der Schnittmenge da.

Nun müssen sich aber diese glorreichen Sieben mit einigen der ganz grossen Probleme unseres Landes auseinandersetzen: Der Überalterung, der Einwanderung, dem Fachkräftemangel, der sinkenden Motivation zu arbeiten (ja, wegen der Work-Life-Balance)  etc. Um solche Probleme zu lösen, braucht es Fachkräfte als Entscheidungsträger. Aber wie soll das Fachkräfteproblem im Bundesrat von Nicht-Fachkräften gelöst werden?

Charlotte meinte, einmal mehr, Waldmeyer solle sich doch zur Verfügung stellen. Aber Waldmeyer weiss: Er ist keine Fachkraft. Er ist nur Beobachter.

Waldmeyer und die Rückabwicklung der Geschichte

 

Bis wann darf die Geschichte zurückreichen, um eine Rückabwicklung zu fordern? Darf Frankreich die helvetische Republik zurückfordern? Dürfte in 50 Jahren die Ukraine dannzumal noch Anspruch auf die verlorene Krim erheben? Sollten wir Diepoldsau an Österreich zurückgeben? Waldmeyer ringt um eine Einordnung.

 

Waldmeyer schickt gleich eine Warnung voraus: Sein Beitrag heute ist etwas länger. Und nicht alles ist lustig – das ist eben der Geschichte, vielleicht auch der besinnlichen Zeit um die Jahreswende, geschuldet. Wer durchhält mit dieser anspruchsvollen Lektüre wird vermutlich mit ein paar wertvollen geopolitischen Erkenntnissen belohnt!

Waldmeyer meint: Man muss Geschichte verstehen können, sie geht wohl über das Wissen betreffend die Schlacht in Morgarten (1315) hinaus. Wir haben öfter ein Problem, die Gegenwart zu verstehen, weil wir die Geschichte nicht korrekt lesen können. Vermutlich haben wir in der Schule einfach das Falsche gelernt. Es begann mit der Steinzeit, behandelte ein bisschen die Römer und die Griechen und konzentrierte sich dann auf wichtige helvetische Schlachten. Auch die Rütli-Geschichte von 1291 wurde abgehandelt, obwohl sie so vermutlich gar nie stattgefunden hat.

Eigentlich sind wir Franzosen

1798 gehörte unser Land zu Frankreich. Zwar nicht sehr lange, nur bis 1803, als Napoleon uns entnervt wieder unserem eigenen Schicksal überliess. Sollte Frankreich nun einen Gebietsanspruch aufgrund dieser Historie ableiten, wäre dieses Vorhaben wohl zum Scheitern verurteilt. Nur: Wie lange zurück gilt ein Anspruch? Darf die Ukraine auch in 50 oder 100 Jahren noch die verlorene Krim zurückfordern? Waldmeyer möchte seinen eigenen Analysen nicht vorgreifen, aber offenbar geht es um so etwas wie die Halbwertszeit der Geschichte. Irgendwann ist sie verwirkt. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht ewig zurückdrehen.

Die Krux mit der Verjährung

Könnte die Betrachtung von Verjährungsfristen bei unserer völkerrechtlichen Causa vielleicht etwas weiterhelfen? Beginge Waldmeyer ein Verkehrsdelikt – was selbstredend nie vorkommen würde – könnte die Verjährung bis zu sieben Jahre dauern. Würde er beim Fentanylhandel erwischt, wäre das weniger schlimm, die Verjährung für Drogendelikte beträgt nur fünf Jahre. Geldforderungen, auch Steuerschulden, verjähren nach zehn Jahren. Ein Mord nach 30, ein tüchtiger Raubüberfall nach maximal 20 Jahren. Viele andere Länder kennen, so für Mord, keine Verjährungsfristen. Hier kommen wir der Sache schon näher. Völkermorde beispielsweise verjähren nie. Was indessen unklar bleibt ist die Frage, wer denn ein Land ahnden sollte, das Völkermord beging. Wie war das doch noch mit der Türkei und den Armeniern (das war vor gut 100 Jahren)?

Ebenso weiter im Nebel stochern wir mit der Frage, bis wann ein Anspruch auf die Rückabwicklung einer Gebietsannexion besteht. Unsere Krimfrage bleibt also im Dunkeln.

Probleme mit der Geschichte

Die weltpolitische Situation zeigt nun, dass auch andere mit der Geschichte ein Problem haben. Der türkische Präsident Erdogan z.B. kann den längst stattgefundenen Niedergang des Osmanischen Reiches partout nicht verkraften. Das Osmanische Reich umfasste einst eine Vielzahl von Ländern, so auch Syrien, Jordanien, Israel und Palästina. Kein Wunder, zündelt dieser neue türkische Autokrat in der Region. Leider löste sich das Osmanische Reich vor gut 100 Jahren endgültig auf. Erdogans Anspruch ist also doch etwas vermessen.

Kaiser Putin hat ein ähnliches Problem. Dummerweise war 1991 der Zerfall der Sowjetunion ein freiwilliger, die Separation der Ostblockstaaten erfolgte in demokratischer Manier und folglich auch die Wiedergewinnung der eigenen Staatlichkeit. Rumänien, Aserbaidschan oder die Ukraine etwa waren damit wieder eigenständige Staaten. Ein neuer Status quo wurde auf legitime Weise definiert. Leider kann sich Wladimir und seine merkwürdige Entourage damit nicht abfinden. Ihr Big Picture reicht sogar weiter: Sie wünschen sich das Zarenreich zurück (da gehörte beispielsweise auch Finnland dazu). Ex-Präsident Medwedew denkt aber noch etwas polyglotter, denn seine neue Sowjetunion sollte „von Wladiwostok bis Lissabon“ reichen. In einem ersten Schritt arbeitet man sich deshalb schon mal an der Ukraine ab.

Wann ist die Zeit um…?

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vor bald 80 Jahren, wurde so etwas wie die Konstitution einer neuen Weltordnung definiert. Waldmeyer verglich auf Google Maps kurz die Landesgrenzen von heute mit denen von 1945. Er erschrak. Da hatte sich doch einiges getan! Allerdings, und das muss man der Menschheit zugestehen, erfolgte sehr viel freiwillig und oft schön demokratisch.

1948, also vor gut 75 Jahren, entschieden die Siegermächte und die UNO, wie es mit einem jüdischen und einem palästinensischen Gebiet weitergehen sollte. Die beiden Volksgruppen erhielten je ein Staatsgebiet. Beide waren damit nicht ganz einverstanden – aber zumindest war mal entschieden worden. Wie wir wissen, gab es in der Folge zahlreiche Grenzverletzungen, Übergriffe, Kriege – letztere von den Nachbarstaaten Israels inszeniert. Israel konnte sich verteidigen, erzielte in zwei Kriegen 1967 und 1973 Landgewinne, gab diese indessen zum Grossteil wieder ab. Welche Landesgrenzen gelten nun? Dürfen „Zugewinne“ im Verteidigungsfall behalten werden? Das Völkerrecht ist sich hier nicht einig.

Die Briten sind die Schlausten

Die Briten, sozusagen die Chef-Kolonialisten der Weltgeschichte, waren wohl die intelligentesten Staatsführer. Sie gaben immer rechtzeitig ab, wenn’s brenzlig wurde. Sie würden heute auch Schottland opfern oder Nordirland. Die beiden Anhängsel kosten eh nur.

Sie gaben nicht nur viele Kolonien ab, sondern auch Protektorate. An eine Rückforderung ist selbstredend nicht zu denken, obwohl das zum Teil nur gut 50 Jahre zurückliegt. Denn die Abgabe erfolgte freiwillig. Hier gilt: too late to cry.

Aber die Briten waren so schlau, einen neuen Club mit vielen abgetretenen Gebieten zu gründen, den Commonwealth. So konnten sie ihren Einfluss bewahren und das erst noch ohne grosse Kosten. Die Briten waren schon immer raffinierte Piraten und intelligent genug, sich zurückzuziehen, wenn der Kittel brennt. Oder wenn’s zu teuer wird.

Die Hochkulturen müssen als verloren gelten

Mayas, Römer, Griechen: Alle sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Mayas gibt es kaum mehr, und die Römer und Griechen unterhalten heute nur noch bankrotte Rumpfstaaten.

Und ja, da gab’s auch noch die Perser. Könnten die Perser von einst ihren Staat von vor dem Sturz des Shahs (1979) und der iranischen Revolution, die sie heute wohl bitter bereuen, zurückfordern? Ihre Regierung verbreitet Terror im ganzen Mittleren Osten und auch gegen das eigene Volk, ihre Frauen müssen Kopftücher tragen und werden gegebenenfalls gesteinigt. Ein Jammer. Nein, das Rad der Geschichte kann hier kaum zurückgedreht werden. Nicht aufgrund eines Rechtsanspruchs, sondern weil das Volk, obwohl es vielleicht wollte, sich einfach nicht durchsetzen kann.

Kriegen die Wikinger ihre Rebberge zurück?

Die Wikinger expandierten einst bis Neufundland. Dort pflanzten sie sogar Trauben an. Seltsamerweise gab es damals, vor rund 1000 Jahren, schon eine Periode mit einer Klimaerwärmung – und offenbar mit einer darauffolgenden Abkühlung. Der Gebietsanspruch scheint aber ziemlich verwirkt zu sein, denn sie zogen damals wieder ab, freiwillig. Vielleicht wegen der unterkühlten Reben? Eine Rückabwicklung erübrigt sich hier, weil die Isländer heute ganz andere Sorgen haben. So müssen sie beispielsweise ihre Vulkane in den Griff bekommen.

Waldmeyer pflegt Charlotte aufgrund ihrer deutschen Wurzeln manchmal damit zu ärgern und bezeichnet sie als „kleine Russin“. Ihre Vorfahren stammen teilweise aus Ostpreussen, dem früheren Königsberg. Tatsächlich umfasste das Deutsche Reich bis 1945 einst Gebiete, die weit über das aktuelle Polen, bis nach Königsberg reichten – der heutigen russischen Exklave Kaliningrad. Ein Anspruch Deutschlands auf diese Gebiete würde zurzeit allerdings wohl schlecht goutiert werden. Man stelle sich Bundeskanzler Scholz vor, wie er an diesem furchtbar langen Tisch in Moskau dem Kollegen Putin seine Gebietsansprüche formulieren würde – klar und deutlich, ganz der Staatsmann, so wie er immer auftritt.

Waldmeyer fällt sein Verdikt

Waldmeyer, nun versichert mit einer „75-Jahre-Regel“, würde seine weiteren Verdikte wie folgt fällen:

  • Das Recht der Franzosen auf Helvetien ist verwirkt (75-Jahre-Regelung).
  • Die Österreicher dürfen die Wiederherstellung des Habsburgerreiches nicht fordern. Eine Expansion müsste freiwillig erfolgen. Nur eine Schweizer Urabstimmung könnte, sollte sie positiv ausfallen, den Anschluss an Neu-Habsburg einleiten.
  • Für die Spanier (und auch für die Portugiesen) gilt Südamerika als definitiv verloren. Sie hatten sich freiwillig zurückgezogen. Sie hatten den Inkas vorher noch das Silber geklaut, vergassen aber die Küchenrezepte (ein Grund, warum wir heute in Peru besser essen als in Spanien).
  • China hat keinen Anspruch auf Taiwan. Die Insel gehörte nämlich noch nie zu China, sie war eine japanische Kolonie! Aber auch ein allfälliger Anspruch der Japaner ist verwirkt (75-Jahre-Regel).
  • Der Grundgedanke der Staatenbildung Israels und Palästinas von 1948 sollte nicht in Frage gestellt werden. Also sollen sich die beiden Staaten doch bitte mal daran halten. Leider scheint die UNO ihrem Entscheid vor 75 Jahren nicht mit Nachdruck nachzukommen.
  • Lombardei, Elsass, Savoyen, Indonesien, Kambodscha, Namibia etc.: Es bleibt jetzt alles so, wie es ist.
  • Die Deutschen haben ihren Anspruch auf Ostpreussen verwirkt. Charlotte bleibt deshalb teilweise russisch.
  • Diepoldsau bleibt bei der Schweiz. Waldmeyer hatte nämlich entdeckt, dass die Österreicher den Flecken noch gar nie besessen hatten, vor über tausend Jahren gehörte er zum deutschen Reich. Aber vielleicht möchte das Dörfchen ennet dem Rhein heute tatsächlich zu Österreich gehen? Reisende müsste man ziehen lassen.

Waldmeyer und sein Geschichtswissen

Das Wissen um die Geschichte ist eben doch hilfreich. Waldmeyer weiss nicht nur um die Schlacht bei Morgarten, er kennt auch Sempach (1386) oder Marignano (1515). Aber Charlotte tat dies immer als „unnützes Wissen“ ab. Vielleicht hat sie recht. Die Schulkenntnisse sind einfach zu einseitig, ein bisschen Wissen über die Steinzeit und die Römer reicht wohl nicht.

Mehr Wissen über geopolitische Geschichte wäre schon hilfreich, um die komplizierte Gegenwart – und die noch kompliziertere Zukunft – zu verstehen.

Wichtig ist, dass wir das Wissen um diese historischen Halbwertszeiten weitergeben. Also fragte Waldmeyer seine Tochter: „Lara, wann war doch gleich die Schlacht bei Sempach?”

Lara war konsterniert: „Sempach what…?“

„Eben. Wir müssen reden“, meinte Waldmeyer und dozierte anschliessend über seinen 75-Jahre-Ansatz. Ja, je mehr Wissen wir vereinen um ein bisschen geopolitische Geschichte, desto mehr können wir den Alltag begreifen.

Laras Forderung nach Rückabwicklung

Seit Lara in Basel studiert, also seit etwa fünf Jahren (gefühlt, für Waldmeyer, seit Lehman Brothers), benutzen die Waldmeyers das ehemalige Jugendzimmer Laras auch als Gästezimmer. Und nun geschah es: Lara forderte ihr Zimmer zur Alleinnutzung zurück. Es handle sich um eine „Annexion“, einen „unfriendly takeover“, meinte sie. Und nun bestehe ein Recht auf Rückgabe. “Die 75 Jahre sind noch nicht um, Dad.”

Diese verflixten Halbwertszeiten scheinen sehr relativ zu sein, erkannte Waldmeyer.