Waldmeyer und die helvetische Zeitlupe (Teil I)

Waren es doch die Eidgenossen – und nicht die Spanier – die das «Mañana» erfunden hatten? Warum nur herrscht in unserer Staatsführung und auf Behördenstufe ein dermassen langsames Tempo? Waldmeyer ist verzweifelt. 

Passiert irgendetwas auf der Welt, das entschiedenes Handeln erfordert, braucht die Schweiz erst mal viel Zeit. Wenn Nachbarländer bereits Massnahmen ergriffen oder entschieden haben, wird hierzulande sofort und mit Inbrunst reagiert: Aber nur, indem erst mal Reflexion und Diskussion gefordert wird. Und in der Hoffnung, von den äusseren Einflüssen eh verschont zu bleiben, wird eingangs nichts getan. Dieses Konzept funktionierte über viele Jahre. Leider ist nun weltweit ein anderes Tempo angesagt. 

Insbesondere auf der internationalen Ebene wird die Schweiz eingeholt. Wenn es beispielsweise darum geht, eine funktionierende Taskforce für die Verfolgung russischer Korruptionsgelder zu bilden, verweisen wir in erster Linie mal auf die Zuständigkeit der Kantone. Der bei uns verantwortliche ehemalige Winzer Guy Parmelin braucht eben ein bisschen Zeit, um die Brisanz der Lage zu erkennen. Wenn es darum geht, der Taskforce der G7 beizutreten, wird erst einmal gebockt. Inhaltlich gibt es keinen Grund, hier nicht mitzumachen. Im Gegenteil, es würde unserem Ansehen dienen. Aber dieses von Rechtsaussen überzeichnete Bild der „fremden Richter“ verfängt immer wieder und dominiert unsere Entscheide. Oder eben Nicht-Entscheide. Also erst mal abwarten. Wir werden dann so oder so nachgeben müssen, einfach etwas später. 

Das war auch so mit den Sanktionen gegen Russland: Erst mal, mit dem Vorwand der „Neutralität“, nichts tun. Unser netter Onkologe aus dem Tessin, zurzeit Aussenminister der Eidgenossenschaft, meinte, er könnte sich mit Abwarten durchschummeln. Ökonomische Interessen sprachen ja für eine solche Strategie. Dann aber, nur zwei Tage später, schwoll der Druck aus dem Ausland an, und wir mussten nachgeben. Hatte man plötzlich gemerkt, dass wir zum Westen gehören? Nun, es war weniger diese Reflexion als die Erkenntnis, dass ein Abseitsstehen uns diplomatische „Grande Merde“ eingebracht hätte.

Und wie ist es denn mit den Waffenlieferungen? Ein ganz unangenehmes Thema. Also besser mal Aussitzen und schauen, wer wieviel Druck, national und international, ausübt. Waldmeyer hat zumindest erkannt: Waffen und Munition dürfen in der Schweiz zwar produziert, vor allem auch verkauft werden, indessen sollten diese Erzeugnisse möglichst nicht genutzt werden. Also Umsatz ja, aber keine Verwendung und keine Weitergabe an einen Drittstaat – auch dann nicht, wenn dieser überfallen worden ist und die ganze westliche Welt einhelliger Meinung betreffend seinem Verteidigungsrecht ist. Diese Haltung, so meint Waldmeyer, ist ein gefährlicher Cocktail aus pazifistischer Denke und falsch verstandener oder populistischer Interpretation von „Neutralität“. Inzwischen haben wir uns nach Monaten durchgerungen, ein paar brachliegende kaputte Panzer, die zu unserem grossen Erstaunen noch gar nie in der Schweiz waren, an Deutschland weiterzugeben. Nach langem internem Gezänke – aber selbstredend erst unter Druck von aussen. 

Immerhin wollten wir schon 2022 ein bisschen Medikamente an die Ukraine liefern. Swissmedic stellte eine „Prüfung der Ausfuhr“ in Aussicht, es brauche indessen 6 bis 18 Monate. Diese Behörde sollte sich schämen. Wer diese Antwort wohl gegeben hat? Ein subalterner Sachbearbeiter? Oder die Spitze? Tatsache ist: Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf. Zuständig für dieses Debakel ist unser Krankheitsdepartement, geleitet von Chef-Lavierer Alain Berset.

Waldmeyer kennt unzählige Beispiele, die unser Langsamkonzept belegen. Hier ein weiteres: Der ganze Westen, Europa und die USA haben die Hamas richtigerweise als Terrororganisation eingestuft. Die Schweizer Haltung, sich hier „neutral“ zu verhalten, ist nun über Nacht zu einem schlechten Witz verkommen. Die Meinung, das „neutrale“ Abseitsstehen der Schweiz diene dem Image unseres Landes, ist eine doch sehr merkwürdige Vorstellung. Noch merkwürdiger ist, dass der Bundesrat immer noch daran glaubt, die Schweiz so als eloquente Vermittlerin zwischen Israel und der Hamas zu positionieren. Diese Selbstüberschätzung, immer noch angeführt von unserem netten Onkologen, ist bemerkenswert. 

Einen meuchlerischen Aggressor auf die gleiche Stufe zu stellen wie einen Angreifer, ist gerade nicht neutral. Die Kunst besteht aber offenbar darin, möglichst nie Stellung zu beziehen. Aber langsam zeichnet es sich ab: Die Schweiz schadet sich damit.

Doch wenn die Schweiz unter Druck ist, handelt sie. In der Regel mit einem Ablenkungsmanöver. Die Antwort also, ob wir die Hamas nun doch als Terrororganisation einstufen sollten (oder doch besser als NGO?) wird deshalb zurzeit „geprüft“. Der Term „Prüfen“ ist sehr beliebt in unserem Land. Damit signalisieren wir, dass wir das Problem erkannt haben und daran arbeiten. So gewinnt man wunderbar Zeit und muss trotzdem nicht entscheiden. Steigt der Druck, wird – mit vorgetäuschtem Führungsanspruch – sofort eine Kommission ins Leben gerufen. Kommissionen brauchen Zeit, deren Output liegt dann bestenfalls vor, wenn sich das Problem bereits von selbst erledigt hat. Andernfalls gibt man die heisse Kartoffel ans Parlament weiter. Ja, raffiniert, dieses Verzögerungskonzept. Aber letztlich weder der Sache, noch unserem Image dienlich. 

Inzwischen hat allerdings unser neuer Bundesrat, Albert Rösti, reagiert. Die ganze internationale Gemeinschaft hatte auf sein Statement gewartet. Und es kam – halleluja. Albert Rösti verurteilte die Gewalt in diesem Konflikt. Ja, er war klar dagegen! Ein Raunen ging durch die internationale Medienwelt. Breaking News: Switzerland against violence! Was darauf folgte in der Schweiz, betreffend Reaktionen oder Handlungen, löste ebenso ein diplomatisches Erdbeben aus: Es geschah nämlich nichts. Die ganze Welt wird jetzt auf die Schweiz schauen. Wow. Der Bundesrat bekennt Farbe!

In unserem Parlament gibt es einige offene Hamas-Unterstützer. Da scheinen sich ein paar irrlichternde Politiker in einer obskuren Parallelwelt zu bewegen. Zu ihrer Entschuldigung möchte Waldmeyer allerdings anführen, dass sie in der Regel eh schon alle am Trog des Staates hängen und die Welt draussen – auch die reale Arbeitswelt – oft noch nie gesehen haben. Sie wollen sie auch nicht sehen, denn das würde ihr surreales Weltbild beschädigen. Ihre Einbringungen lähmen indessen unsere Entscheidungen im Staat. Sie verlangsamen sie eben, sie befeuern quasi unser Zeitlupenkonzept. Sie tragen dazu bei, dass wir nicht entschlossen handeln können.

Seit 1985 wird mit der EU über einen gescheiten Vertrag verhandelt, der festlegen sollte, wie wir uns unter Nachbarn organisieren könnten. 1991 wurde der EWR-Vertrag unterschrieben, anschliessend aber gleich wieder versenkt. Die Nachteile eines quasi vertragslosen Zustandes werden nun langsam lästig, Abkommen in Sachen Forschung, Bildung oder Energie fehlen. Natürlich werden wir deshalb irgendwann einlenken – der Grad der Nachteile ist im Moment allerdings noch zu wenig ausgeprägt. Also wird bis auf weiteres alles verschoben.

Waldmeyer fand gleich noch ein weiteres Beispiel für robustes und entschlossenes eidgenössisches Handeln: Seit Monaten ist bekannt, dass es in der Schweiz nachweislich 80 russische Spione gibt. Ein guter Teil der in Europa akkreditierten Diplomaten, die nachweislich klandestin für Putins Reich arbeiten, schätzen den Standort Schweiz. Da wird man in Ruhe gelassen. Und was tut unsere Regierung? Nichts. Natürlich befürchtet sie Gegenmassnahmen, vielleicht sogar wirtschaftlicher Natur – das wäre das Schlimmste.

Sanktionen gegen China? Nein, das soll die EU machen. Das ist soweit in Ordnung, wir sind ja ein souveräner Staat. Aber: Bringt uns das wirklich weiter? Geht es etwa um das zweifelhafte Freihandelsabkommen, das wir mit China abschliessen konnten? Dieses stellte so etwas wie einen Nebenarm der Belt and Road Initiative unseres grossen gelben Mannes dar, Meister Xi Jinping. 

Waldmeyer fragt sich also: Ist unsere Demokratie ein Auslaufmodell? Nein, die Führung ist einfach schwach. Die Verhandlungsführungen, auch die Führung der Departemente, die kommunikative Führung des Landes ebenso. Waldmeyer gibt dem Bundesrat die Note 3.5. Also ungenügend.

Da sind die grünen und linken Politiker schon schneller. Im Sinne eines Mikromanagements wird die Welt gerettet. Sie beschränken sich oft auf die Schweiz, glücklicherweise. (Waldmeyer wird sich in einer späteren Reflexion betreffend die Zeitlupe in Sachen nationaler Entscheidungen äussern.)            

Die Welt draussen könnte untergehen, und wir hätten immer noch den Glauben daran, dass es uns nicht betreffen würde. Wie meinte doch Waldmeyers Korporal in der Rekrutenschule: „Numme nid gsprängt!“ 

Es ist historisch verbrieft, dass es die Spanier waren, welche das Mañana erfunden hatten. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht hatten die Spanier dieses praktische Langsamkonzept einfach bei den Eidgenossen abgekupfert? 

Waldmeyer übernimmt Land auf dem Mars

Die Wohnungsnot in der Schweiz ist mit Händen zu greifen. Die Politik verspricht dauernd Abhilfe, aber es geschieht nichts. Und die Nachfrage wird laufend grösser: Der persönliche Bedarf an Wohnfläche steigt und die Bevölkerung wächst. Waldmeyer entwickelt innovative Ideen. 

Politiker linker und grüner Couleur versuchen Abhilfe gegen die Wohnungsnot zu leisten, indem sie noch mehr Vorschriften oder Eingriffe in den Markt propagieren. Damit geht der Schuss in der Regel gegen hinten los. Oder sie schlagen vermehrt sozialen Wohnungsbau vor, der dann allerdings gar nie gebaut wird. Bürgerliche Politiker andererseits scheinen das Problem einfach zu meiden. Oder Rechtsaussen-Vertreter poltern gegen eine 10-Millionen-Schweiz und meinen, in naiv-populistischer Manier, mittels einem Einwanderungsstopp das Problem lösen zu können. 

Angesichts dieser Wohnungsmalaise erscheinen die Metaverse-Ideen da geradezu erfrischend. Ja, warum denn über zu wenig Wohnraum lamentieren, wenn es diesen à discrétion in der virtuellen Welt gibt!

Tatsächlich boomt der Markt mit virtuellen Immobilien. Diese Metaversen haben Namen wie „The Sandbox“ „Second Live“ oder „Decentraland“. Private und Firmen haben schon Milliarden in Boden und Immobilien investiert. Viele dieser Projekt kann man mit gut aufgemachten Renderings „besuchen“. Es werden ganze Lifestyle-Modelle entwickelt, mit Freizeitmöglichkeiten, Shoppingcentern und Einkaufsstrassen. Louis Vuitton soll sich kürzlich in einem Laden in „Axie Infinity“ eingemietet haben, und Adidas hat sogar eine aktive Partnerschaft mit The Sandbox bekanntgegeben.

Schön an den virtuellen Immobilien ist, dass man diese nicht real liefern muss. Die Nagelprobe erfolgt somit gar nie, es bleibt eben immer bei der Kunstimmobilie. Für den Immobilienentwickler ganz angenehm – Mängelrügen zum Beispiel sind damit zum Vornherein ausgeschlossen. Und noch ein Vorteil von virtuellem Land: Eine CS-Aktie kann den Wert verlieren oder eine sozialistische Landreform kann eine individuelle Investition pulverisieren; ein Metaverse indessen bleibt – weil es gar nichts Reelles zum Vernichten gibt.

Waldmeyer hatte sich schon über Elon Musk mokiert: Der geniale, aber etwas irre Unternehmer möchte ja unbedingt den Mars bevölkern. Das Vorhaben wird natürlich noch eine Weile dauern – deshalb besteht auch hier kaum je das Risiko der Nagelprobe. 

Interessant fände Waldmeyer nun, bereits jetzt schon Land zu sichern auf dem Mars. Es müsste ja nur ein kleiner, virtueller Abschnitt sein. Dieser lässt sich dann in einer Metawelt – da ja nie geliefert werden muss – elegant entwickeln. Wie wir gesehen haben, ist die Qualität dieser virtuellen Immobilien entscheidend, sie bestimmt den Preis. Die Gestaltung der Landschaft, die Verkehrsverbindungen, das ganze Umfeld, die Nachbarn und vieles mehr definieren den Wert dieses virtuellen Besitzes. Es lag also auf der Hand, etwas auf dem Meta-Mars abzubilden, dass bereits zu Beginn an Perfektion grenzt. 

Heureka! Waldmeyer hatte die Lösung: Man könnte doch einfach die Schweiz abbilden! Alle interessanten Landstriche und alle Gemeinden fänden genügend Raum auf dem kleinen Planeten. Nicht alle Staaten hätten natürlich Platz, aber Gebiete wie Russland, China oder grosse Teile Afrikas könnte man so oder so vergessen. Auch Nordkorea, den Iran oder den Gazastreifen, und die Ukraine müsste mit dem Hinweis „under development“ versehen werden, vielleicht auch die Innerschweiz. Der grosse Unterschied zu anderen Metaversen wäre nun, dass der Mars tatsächlich existiert. Er gehört niemandem, also kann man sich etwas davon nehmen. Das war bei den Siedlern im Wilden Westen auch so. Und auf dem Mars müsste man nicht einmal erst Indianer vertreiben, das Land wäre einfach hier, leer. 

Natürlich, in vielen Jahren, vielleicht, würden andere auch Anteile am Mars reklamieren. Aber man sollte sich nicht darüber aufhalten, was viel später ist. Das machen die Politiker auch nicht. Staaten verschulden sich heute bis über beide Ohren; man verschiebt das brisante Thema einfach auf den Sankt Nimmerleinstag. Das macht die deutsche Regierung auch, sie beschliesst zudem ohnehin immer, nicht zu beschliessen – oder sie beschliesst und liefert nachher nicht. Der grosse Digitalisierungsschub beispielsweise wurde schon vor über zehn Jahren beschlossen, passiert ist noch nichts. Ja, wie wir mit der Bauerei in der Schweiz.

Doch zurück zum Mars. Das Risiko, je einmal reell liefern zu müssen, beurteilte Waldmeyer als vernachlässigbar. Charlotte meinte nur, eher spöttisch: „Dann gründe doch gleich Meisterschwanden auf dem Mars, wenn du schon daran glaubst!“ Nun erlebte Waldmeyer indessen sein zweites Heureka: Ja, warum denn mit der viel zu grossen Kelle anrühren, Meisterschwanden wäre perfekt. Natürlich bräuchte es noch ein paar Finetunings, für diesen Klon auf dem Mars. Waldmeyer würde beispielsweise die lästige Verkehrsberuhigung auf gewissen Strassen rückgängig machen. Und den Steuerfuss senken. Und die Ladenöffnungszeiten verlängern, auch etwas gegen die Überschussgeburten gewisser Neuzuzüger machen, usw. 

Am Samstagnachmittag grüsste Waldmeyer beim Rausgehen wie immer seinen Nachbarn Freddy Honegger. Er war am Rasenmähen, wie üblicherweise samstags. Freddy ist insofern eine interessante Causa, als er gerne Verschwörungstheorien nachhängt. Früher war er mal bei den Zeugen Jehovas (weshalb er auch nie in den WK musste). Covid-19 wurde von Bill Gates und dem alten Soros orchestriert, usw. Honegger sitzt gerne immer falschen Informationen auf. Er glaubt auch, dass der Elektro-Golf seiner Bettina sauber ist (obwohl u.a. mit Kohlestrom aus Deutschland betrieben, via unsere Steckdose). Ja, Freddy würde sich sicher für Waldmeyers Marsprojekt interessieren!

„Freddy, ich habe Meisterschwanden übernommen. Metamars, weisst du.“

„Scheisse, das hätte ich auch gerne gekauft“, erwiderte Honegger wie aus der Pistole geschossen. 

„Sorry, tut mir leid“, meinte Waldmeyer, supponierte sofort einen Telefonanruf und liess Honegger stehen. „No, no, I don‘t sell Meisterschwanden. No, really not.“ Honegger stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. Er hatte schon vorher seinen mit Kohlestrom betriebenen sauberen Elektrorasenmäher abgestellt. Hatte er Meta-Meisterschwanden etwa verpasst?

„Tut mir leid, Freddy, ich wusste nicht, dass du auch interessiert gewesen wärst. Ich kann dir aber vielleicht einen Teil im Norden abtreten, aber ohne Seeanstoss. Für den Süden, dort bei der Seerose, du weisst schon, habe ich bereits einen Interessenten. Du, ich muss jetzt weg!“ Waldmeyer entfernte sich hektisch und erinnerte sich an den Kurs „Tactics in Corporate Sales“, den er vor 20 Jahren mal belegt hatte. Ja, so läuft Verkauf.

Am Sonntagmorgen wurden Waldmeyer und Honegger handelseinig. Honnegger kaufte 1/3 von Meisterschwanden, sogar inklusive dem alten Arbeiterstrandbad Tennwil im Norden. Der Preis war stolz, wenn auch einiges unter den derzeit bezahlten in der (reellen) Gemeinde. Waldmeyer versprach, binnen einer Woche ein professionelles Zertifikat zu liefern, und er lud Honegger gleich ein, für ein paar exekutive Funktionen dem Gemeinderat beizutreten (Waldmeyer dachte dabei an die geplante Gratisverteilung von Verhütungsmitteln an Immigranten).

„Siehst du, Charlotte, der Markt funktioniert!“, meinte Waldmeyer triumphierend. „Du darfst einfach nicht der Letzte sein.“

Was weder Honegger noch Charlotte wussten: Nächsten Monat wird Waldmeyer sein Immobilienprojekt „New Meisterschwanden“ im Metamars präsentieren. Hansueli Loosli wird dort vielleicht einen virtuellen Coop betreiben. Und Honegger wird mit Sicherheit eine Wohnung übernehmen. Waldmeyer wird dann, virtuell, mit seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) durch Meisterschwanden cruisen und sich an der Prosperität seiner Gemeinde erfreuen. Nur intelligente, schöne und freundliche Leute würden ihm zuwinken.

Waldmeyer reduziert seine Sterbewahrscheinlichkeit

Waldmeyer lag auf dem Sofa und weigerte sich standhaft, den Tisch abzuräumen. Charlotte wirbelte in der Küche. Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich? Wie gestaltete sich seine subjektive Gefährdung? Wie könnte er seine persönlichen Todesfallrisiken runterbringen? 

Unfälle durch Haushaltarbeit könnte Waldmeyer schon einmal ausklammern. Aber die Sache ist komplizierter. Waldmeyer hatte sich das anspruchsvolle Ziel gesetzt, erstens auf natürliche Weise alt zu werden und zweitens nicht schon vorher willkürlich zu sterben. Es galt nun, die beiden Ziele zusammenzuführen.

Dabei hilft natürlich der Staat: Mit allerlei Gesetzen, Vorschriften und Kampagnen verhindert er das vorzeitige Ableben des Bürgers. Und mit der richtigen Gesundheitsversorgung sorgt er auch für Lebensverlängerungen. Nur setzt der Staat an komischen Hebeln an, nämlich nicht dort, wo viel gestorben wird. Waldmeyer wollte deshalb die Sache selbst in die Hand nehmen und so dazu beitragen, ein verfrühtes Ableben zu verhindern. Also nahm er eine Auslegeordnung vor.

Als erstes wollte er Todesursachen ausschliessen, die für ihn nicht passen. Also fast nicht in Frage kommen. Zum Beispiel als russisches Kanonenfutter irgendwo im Ukrainekrieg zu sterben. Oder an einer Fentanyl-Überdosis im Drogenelend in San Francisco zu verenden. Überhaupt, die Amerikaner leben gefährlich, sie sterben viel öfter als wir an Autounfällen, an Fettleibigkeit oder an Schussverletzungen. Deren Lebenserwartung sinkt seit Jahren deutlich, insbesondere bei der schwarzen Bevölkerung – bald auf das Niveau eines Entwicklungslandes.

Insbesondere die Fettleibigkeit scheint ein grosses Todesfallrisiko in sich zu bergen. Mexiko hat diesbezüglich die USA überholt, Diabetes ist zur Todesursache Nummer 1 geworden. Kein Wunder, ein Mensch mit zum Beispiel 597 Kilogramm ist natürlich etwas gefährdet. In Europa leben wir da schön gesünder. Ausser die Deutschen, deren BMI ist der höchste in Europa. Deren Lebenserwartung verhält sich deshalb auch reziprok zu ihrem Gewicht.

Aber zurück in die USA, denn in Sachen Todesfälle sind sie eine besonders interessante Causa. Die meisten plötzlichen Todesfälle ereignen sich durch Waffengewalt. Fairerweise müssen wir den Amerikanern aber zugestehen, dass dies nur die natürliche Folge eines demokratischen Prozesses ist. Dieser sieht ja vor, dass Schusswaffen sogar im Supermarkt einfach erstanden werden können. Männer in den USA werden nur 73 Jahre alt. In Mississippi stirbt man im Schnitt etwa Mitte Sechzig, also rechtzeitig beim Eintritt ins Rentenalter.

In Asien stirbt man da schon an anderen Sachen. Rund 16’000 Menschen sind letztes Jahr bei Bahnunfällen gestorben, die meisten fallen dabei von den Zugdächern.

Sicherer sind da schon die Kreuzfahrtschiffe. Aber trotzdem fallen weltweit jährlich über 20 Menschen über Bord. Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt dabei bei nur 20%, denn meistens wird das Malheur nicht sofort entdeckt.

Mittels eines weiteren Ausschlussverfahrens überlegte sich Waldmeyer, woran er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht sterben würde. Er dachte dabei an einen Meteoriteneinschlag oder an ein abruptes Ausbrechen des Vesuvs, wenn er, auch nur beispielsweise, im nächsten Herbst in Neapel gerade einen Teller Spaghetti alle vongole geniessen würde. 

Überhaupt, das mit dem Essen: Waldmeyers Gedanken kreisten für einmal nicht um den BMI, sondern um die faszinierende Betrachtung der «letalen Dosis». Gift ist nämlich nur ein relatives Problem. Man kann an einer Pilzvergiftung sterben, aber auch an Brot. Die Menge ist auschlaggebend! Wenn man 100 kg Brot auf einmal verzehrt, ist eben auch Brot giftig, die letale Dosis ist dann überschritten. Beim Freitod muss man also genau auf die Art des Giftes achten, noch mehr aber auf die einzunehmende Menge. An Suizid stirbt man in der Schweiz übrigens relativ oft, rund 2’500-mal jährlich. In Grönland liegt die Selbstmordrate jedoch deutlich höher. Aber beide Daten sind unerheblich, denn Waldmeyer sieht sich nicht in der Zielgruppe.

Auch bei einem Motorradunfall ums Leben zu kommen, würde bei Waldmeyer an Wahrscheinlichkeit Null grenzen. Er hatte die Idee mit der Harley Davidson nämlich bereits im Frühling 2006 aufgegeben, nachdem er die Unfallwahrscheinlichkeit mit Todesfolge genauer studiert hatte (über 20-mal höher als beim Autofahren).

Fliegen ist, rein statistisch, wohl am sichersten. Aber auch Autofahren stellt heute überhaupt kein Risiko mehr dar. Die Anzahl der Verkehrstoten im Strassenverkehr sinkt seit Jahren. Anfangs der Siebziger Jahr betrug sie noch über 1’700 pro Jahr, heute sind es nur mehr rund 200 – und dies beim dreifachen Verkehrsaufkommen. Der Strassenverkehr ist damit rund 25-mal sicherer geworden. Erstaunlich, dass der Staat dermassen viel Energie aufwendet, den Verkehr zu überwachen, ihn einzuschränken, Bussen zu verteilen und die Fahrzeugsicherheit zu überprüfen. Daneben sterben jährlich 200 Personen an plötzlichen Sportunfällen, 3’500 an Blutvergiftungen, 2’000 an Haushaltunfällen (also zehnmal mehr als im Strassenverkehr!), weit über 100’000 an frühzeitigen Herzkreislaufproblemen, an Hirnschlägen oder an Krebs. Selbst an Grippe stirbt man deutlich öfter als an Verkehrsunfällen. Am Rauchen stirbt man offenbar in rund 10’000 Fällen, ausserdem lebt man als Raucher sieben Jahre weniger. Aus staatlicher Sicht ist das allerdings vorteilhaft, denn mit den Tabaksteuern nimmt der Staat ein Vermögen ein, und die reduzierte Lebenserwartung der Raucher spart bei der AHV.

An übermässigem Alkoholgenuss starben letztes Jahr 3’500 Personen – also wie an Blutvergiftung. Der Staat tut viel gegen den Alkoholkonsum (nimmt allerdings auch kräftig Steuern damit ein). Aber was tut er gegen Blutvergiftungen…?

Die meisten staatlichen Massnahmen und Millionen-Investitionen konzentrieren sich tatsächlich auf den Schutz des Bürgers vor Verkehrsunfällen – die es fast nicht mehr gibt. Allerdings häufen sich in letzter Zeit die Unfälle mit Elektrobikes und Lastenrädern. Letztere Todesursache (also Sterben an oder mit Lastenrad), würde Waldmeyer für sich ausschliessen. Ausser er würde als einfacher Fussgänger von einem Lastenrad mitten in der Stadt Zürich überrollt.

Waldmeyer entschied, seine Auslegeordnung hier nun abzubrechen. Er zog ein erstes Fazit: Sport ist gefährlicher als Autofahren. Ein Sofortentscheid könnte also sein, nicht übermässig Sport zu treiben. Ausserdem sollte man verhindern, ein übergewichtiger Deutscher, Mexikaner oder Amerikaner zu sein. Vor allem kein schwarzer Amerikaner. Die schlimmste Korrelation würde sich vermutlich dadurch ergeben, dass er als schwarzer Ami zudem homeless in San Francisco leben würde und Fentanyl-süchtig wäre. Die Einschränkung, nie in eine solche Situation zu geraten, fiel Waldmeyer relativ leicht. Er beschloss zudem, nicht mit dem Rauchen zu beginnen. Auch dieser Entscheid kostete ihn nichts.

Schon grössere Sorgen bereitete ihm eine mögliche Krebs- oder Kreislauferkrankung. Es ging einerseits um die Wahrscheinlichkeit, eine solche Krankheit überhaupt zu kriegen, andererseits um die Sterbewahrscheinlichkeit in einem solchen Fall. In der Schweiz sterben jährlich immerhin fast 40‘000 an Krebs – aber die meisten einfach im hohen Alter, was quasi einer natürlichen Todesursache gleichkommt. An Herzversagen sterben rund 8‘000 p.a. 

Interessant fand Waldmeyer, dass nur rund 400 p.a. an Leberzirrhose sterben. 

Sein Alkoholkonsum mochte in der Tat, aber nur subjektiv von aussen betrachtet, etwas überdurchschnittlich sein. Aber erstens hatte er gar keine Leberzirrhose eingeplant und zweitens, so reflektierte Waldmeyer, könnte man z.B. an Terre Brune unmöglich sterben. Auch hier geht es eben um die letale Dosis! Ausserdem hielt er sich an diese geniale Studie von französischen Ärzten, welche eine Dosis von zwei Glas Rotwein pro Tag als medizinisch wertvoll erachteten.

Waldmeyer räkelte sich weiter auf dem Sofa und fand nun zu einer Schlussfolgerung: Für ihn gab es überhaupt kein ausserordentliches Todesrisiko, vielleicht würde er einfach 100 werden und dann an Alter sterben!? 

Waldmeyer nahm sich trotzdem vor, nun etwas gesünder und vorsichtiger zu leben. Folgerichtig wollte er nur noch relativ sichere Tätigkeiten verrichten. Das mit dem Haushaltunfall hatte er zumindest schon mal ausgeschlossen.

«Charlotte, wir sollten ab sofort etwas faktenbasierter und vernünftiger leben – und so die grossen Risiken vermeiden. Wir sollten also mehr fliegen, mehr Autofahren und mehr trinken. Dafür wird das Bahnfahren in Indien ab sofort gestrichen, wir nehmen kein Fentanyl, werden nicht schwarz, hantieren weniger mit Schusswaffen, du wirst nicht fett, und das mit Neapel im Herbst sollten wir überdenken.»

Charlotte, wie so oft, antwortete nicht.