Waldmeyer und die Luftschutzkeller

Krieg mitten in Europa: Ein Szenario, dass bis vor Kurzem undenkbar war. Aber wir sind vorbereitet in der Schweiz. Die Sturmgewehre warten im Schrank, man rückt regelmässig zur Übung in den WK ein. In mehreren Jahren kommen auch die neuen Flieger, etwas später die neue Flugabwehr. Aber vor allem: Wir haben Bunker. 

Deutschland zählt seit Monaten seine Luftschutzbunker. Schon Christine Lamprecht, die vormalige Verteidigungsministerin, Typ Handarbeitslehrerin, hatte mit diesem wichtigen Projekt begonnen. Der Neue, Pistorius, etwas forscher, zählt weiter. Man wird vielleicht Ende Jahr wissen, wo man steht. Das ist wichtig, denn verteidigen kann sich Deutschland kaum mehr selbst. Die einigermassen einsatzbereiten Geräte und Waffen wurden in die Ukraine geliefert und werden nun dort verheizt. Etwas neue Ausrüstung ist bestellt, ist aber noch nicht eingetroffen. Der Iron Dome zum Beispiel, die neue Luftabwehr aus Israel. Sie soll 2025 kommen. Das ist wichtig, denn eine Rakete aus dem russischen Kaliningrad braucht nur fünf Minuten, um beim Scholz in Berlin einzuschlagen. Deutschland wusste das schon immer, aber erst mit dem Ukrainekrieg fiel es unseren Nachbarn wie Schuppen von den Augen, dass hier plötzlich eine nicht unrealistische Bedrohung besteht. In der Not setzt Deutschland nun einfach auf die Nato. Und die Bunker. Wenn man sie denn findet und einen Überblick kriegt.

In der Schweiz sieht es nicht viel besser aus in Sachen Gesamtverteidigung. Wir setzen auf die Gamellenpolitik: Unsere Wehrkraft ist, wenn wir ehrlich sind, mehr oder weniger nur Nostalgie. Unsere Sturmgewehre und die Gefechtspackungen liegen zwar bereit (inklusive der Gamelle), wir wissen auch genau, wohin wir bei einer Mobilmachung einrücken müssen, in der Regel zu einem Gehöft auf dem Land oder in eine Turnhalle, von wo aus wir dann in der nahen Kaserne das 50-jährige Kriegsgerät holen. Dem Marschbefehl wird ein SBB-Billet beiliegen. So hat alles seine Ordnung.

Leider finden Kriege heute jedoch kaum mehr an der Grenze statt, sondern mit kontinentalen und interkontinentalen ballistischen Mitteln, mit Cyber-Waffen, Trolls und politischer Unterminierung. Rein numerisch verfügen wir zwar über eine der grössten Armeen in Europa. Unglücklicherweise zum Teil indessen ausgerüstet mit Uraltgerät, worüber sich ein Ukrainer heute totlachen würde. Über eine brauchbare Luftwaffe werden wir leider erst 2030 verfügen, etwas später dann über eine einigermassen wirksame Luftabwehr. Ein „Iron Dome“ ist nicht geplant. Im Notfall könnte aber unser Bundespräsident mit dem Scholz telefonieren, der würde dann vielleicht helfen. Der Anruf müsste indessen rasch erfolgen, die Rakete braucht zwar etwas länger zum Bundeshaus in Bern anstatt nach Berlin, aber es werden auch nicht mehr als neun Minuten sein. Tatsache ist: Heute und auch auf absehbare Zeit könnten wir uns tatsächlich nur beschränkt verteidigen. Deshalb hegen und pflegen wir unsere Neutralität, dann passiert uns nichts.

Es war ein ganz normaler Samstagmorgen, als sich Waldmeyer für den Rest des Tages verabschiedete: „Charlotte, ich bin dann mal im Luftschutzkeller“. Endlich wird da mal aufgeräumt, dachte Charlotte. Die Pritschen stehen seit Jahren in der Ecke, noch in der Originalverpackung und nicht zusammengebaut. Ebenso das Trocken-WC. Und die Vorräte liegen irgendwo dazwischen. Höchste Zeit also, den Luftschutzkeller neu einzurichten.

Die Schweiz ist wohl der einzige Staat auf der Welt, der bei den meisten Bauvorhaben zwingend die Erstellung von Luftschutzkellern vorschreibt. Das Land ist in der Folge flächendeckend mit Atombunkern überzogen. Vor einigen Jahren wurde eine Lockerung dieses vermeintlichen Anachronismus verworfen. Nicht zuletzt war es die Bauindustrie, die hervorragend lobbyiert hatte, um die teuren Einbauten weiter vorzuschreiben. Wie dem auch sei: Wir Schweizer können uns nun sicher fühlen. 

Deutsche haben immerhin U-Bahnen, in deren Stollen man Zuflucht suchen kann. In Kiew hat sich eine halbe Stadt dort mehr oder weniger häuslich eingerichtet – so gut es eben geht.

Die minuziöse teutonische Zählung der Bunker in unserem Nachbarland macht also Sinn. Vermutlich wird man auch die U-Bahn-Stollen dazurechnen, das hilft bei der Zählung, braucht aber wohl nochmals etwas mehr Zeit. Viele deutsche Städte haben U-Bahnen. Dieses horrende Tempo der Schutzplatz-Erfassung kann uns indessen gleich sein. Denn was Deutsche nicht wissen: Wir Schweizer müssen gar nicht erst zählen. Wir haben unsere Plätze. Fast jedes Haus verfügt über einen Luftschutzkeller. Wirklich, fast jede Immobilie. Im Notfall nehmen wir die Tunnels dazu – davon gibt es viele, denn das Mittelland und die Alpen sehen heute, verkehrstechnisch, wie Emmentalerkäse aus: nur noch Löcher. Aber das sind Tunnels, in denen wir überleben können. Allerdings sind wir Schweizer nicht sehr kollektiv denkende Menschen, wir sind eher Individualisten. Deshalb schätzt jeder seinen eigenen Luftschutzbunker. Der Tunnel wäre nur ein Notfall-Zufluchtsort. Für Ausländer, Asylanten vielleicht, oder grüne Hausbesetzer. Der „normale“ Schweizer verfügt über einen persönlichen Ort des Schutzes, mit Proviant, Notschlafstelle und Trocken-WC. Jeder. Tatsächlich, und das wissen wir eben bereits (im Vergleich zu den Deutschen), verfügen wir über neun Millionen Schutzplätze – etwas mehr also, als die Bevölkerung zählt. Im Notfall hätte es so noch etwas Platz für ein paar versprengte und gut zahlende Touristen.

Wandmeier kam, pünktlich zur Apérozeit, abgekämpft wieder aus dem Keller hoch. „Alles erledigt, alles neu eingerichtet!“

„Was hast du denn so alles gemacht, Max?“, fragte Charlotte skeptisch – im Wissen darum, dass sie selbst inzwischen Einkaufen war, das Dinner vorbereitet, zwei Ladungen Wäsche erledigt, die Garageneinfahrt gekehrt, Zahlungen gemacht und einem Kunden die Offerte über das neue Interior Design für die Büros in Zürich-West geschickt hatte (inklusive Gym-, Still- und gendergerechtem Begegnungsraum).

„Also“, erklärte Waldmeyer, „alles ist neu eingerichtet. Die Bordeaux sind an der Wand ganz hinten, sortiert nach Trinkreife. Die Riservas aus der Toscana alle links, die Chilenen und Argentinier für die Gäste hinten rechts, aber Achtung, nur die unteren Regale für die Gäste. Die Spanier sind vorne rechts. Der Terre Brune ist gleich beim Eingang links auf Griffhöhe.“ 

Charlotte erwiderte nichts. Immerhin hatte Max einen realistischen Überlebensplan entworfen.

Waldmeyer, der Städtebau und der Organhandel

Die Lage spitzt sich zu in der Schweiz: Wir haben zu wenig Wohnraum – und dieser ist erst noch zu teuer. Der grosse Wurf fehlt eben, wir blockieren uns selbst. Waldmeyer stellt einen Zusammenhang her mit der längsten Stadt der Welt und dem Organhandel.

Es war wieder einmal eines dieser Sonntagmorgengespräche, am späten Frühstückstisch. Waldmeyers Sohn Noa brachte die Augen kaum auf, offensichtlich war er intensiv daran, den Restalkohol vom gestrigen Abend zu verarbeiten. Lara sah auch nicht viel fitter aus. Trotzdem schnitten sie ein Problem an: Wohnraum.

Tatsächlich ist die Misere mit Händen zu greifen, denn ohne etwas «Old Money» werden junge Generationen kaum je ein Eigenheim besitzen können. Selbst für ordentlich verdienende und gut ausgebildete junge Menschen wird die herangesparte Eigenkapitalbasis nicht ausreichen, binnen nützlicher Frist die Finanzierung für eine eigene Immobilie sicherzustellen. Ohne eine Anschubleistung von aussen wird das zur Makulatur. Auch zehn Jahre lang netto jährlich CHF 20’000.- zu sparen, also CHF 200’000 auf die Seite zu legen, wird in unseren Ballungsräumen kaum für ein adäquates eigenes Zuhause reichen.

Noa meinte, mit Sparen würde man nur alt werden, aber kaum je eine eigene Hütte besitzen. Da müsste man schon gescheit in Kryptowährungen investieren, Zuhälter werden oder in den Drogenhandel einsteigen. Vor allem mit synthetischen Drogen. Noa empfahl Flakka. Das bringt Marge.

Lara (sie studiert neu Ethnologie in Basel) meinte, Human Trafficking bringe auch was ein. Besser noch der internationale Organhandel. Da könne man echt Kohle verdienen.

Charlotte sagte nichts. Waldmeyer rollte nur die Augen und verkniff sich die Bemerkung, dass man mit Ethnologie bestenfalls mal ein Asylantenheim führen, aber nie eine Wohnung kaufen könnte.

Aber die Kids hatten schon recht: Es gibt zu wenig erschwinglicher Wohnraum. Die linksgerichteten Stadtregierungen in der Schweiz suchen die Lösung daher in der Förderung von sozialem Wohnungsbau. Städte wie Basel oder Genf beginnen, die Mieten zu plafonieren, Berlin plant gar die Enteignung von Wohnraum in grossem Stil. Investoren treten bei all diesen Massnahmen die Flucht an und die Probleme verstärken sich noch.

Gründe für die Misere kennen wir: Zwar wächst die Bevölkerung leicht (nämlich um rund 1% pro Jahr) und der individuelle Bedarf an Wohnquadratmeter steigt kontinuierlich. Doch der wahre Grund des Mankos an Wohnraum liegt bei der mangelnden Produktion. Die Auflagen und Behinderungen mit einem Dickicht an Gesetzen und Verordnungen verhindern rascheres Bauen. Die teure Bauweise in der Schweiz, diverse Abschottungen und Kartelle, plus das bereits bestehende Missverhältnis von Angebot und Nachfrage treiben die Preise in die Höhe – kein Wunder. 

Kommt hinzu, dass viele Industriebrachen unberührt in den Agglomerationen liegen, aber nicht umgezont werden dürfen. Und ein immenses Überangebot an Büroflächen ziert die meisten grossen Städte. Aber dort ist Wohnen nicht vorgesehen, Umnutzungen dauern oft Dezennien.

Waldmeyer überlegte weiter: Auch in der Gegend um Payerne oder Porrentruy, oder auch im Thurgau, wäre noch viel Platz zum Bauen vorhanden. Man müsste einfach auf ein bisschen Landwirtschaft verzichten (welche eh nur defizitär und nicht nachhaltig ist).

«Wir sind einfach zu langsam», warf Charlotte ein. Stimmt. Für ein neues Schulhaus braucht es 20 Jahre. Der Ausbau des Gubrist brauchte länger. Waldmeyer wird auch kaum mehr durch die neuen Gotthardröhren rauschen können. Bis der neue Tunnel fertig und der alte renoviert ist, wird er über 80 Jahre alt sein. Vielleicht darf er dann eh nur noch mit dem Lastenrad rumkurven. Mit dem Timing von grossen Wohnsiedlungen ist es genau gleich, alles geht eine Ewigkeit.

Ja, Politik und Regierung sollten mal ihre Komfortzone verlassen und grössere Würfe wagen!

Wie sagte doch Churchill: Never waste a good crisis. Man sollte also über den Tellerrand hinausschauen und studieren, was andere Länder so machen. China beispielsweise realisierte ganz grosse Würfe, komplett neue, riesige Städte wurden ins Land gestellt. Auch Despotenstaaten lancieren oft Grossprojekte; sie bauen z.B. eine neue Hauptstadt in den Dschungel. Oder auch Athen, um ein realistischeres Bespiel zu nennen: Athens Riviera ist ein ganz neuer, riesiger Stadtteil, er wurde in den letzten Jahren richtiggehend aus dem Boden gestampft. Und das in einem EU-Land mit einer demokratisch legitimierten Regierung. Es geht also doch?

„Kennt ihr Neom?“ warf Waldmeyer in die sonntägliche Runde, um etwas vom Lamentieren über den Schweizer Wohnraum abzulenken. In der Tat ist es interessant, was Saudi-Arabien so plant: nämlich eine komplett neue Stadt in der Wüste. Neom soll sie heissen, auch The LINE genannt. Sie soll vom Ort Neom aus am Roten Meer quer durch die Wüste führen, 170 Kilometer lang und 200 Meter breit. Da soll Wohn- und Arbeitsraum für neun Millionen Menschen entstehen. Und dies alles mit einer Ausdehnung von nur 34 Quadratkilometern – was ungefähr der bescheidenen Fläche des Zugersees entspricht. Drei unterirdische Ebenen für den motorisierten Verkehr, für eine U-Bahn und für die Fussgänger sind geplant. Ein begrüntes Atrium über der Siedlung dient als Naherholungsraum und sorgt für angenehme Kühlung. Energetisch soll die Stadt eh CO2-frei sein. Wasserstoff, produziert aus Sonnenergie, wird die nötige Energie liefern. Alles nur eine Vision? Nein. Denn Tausende von Bauarbeitern buddeln bereits den Sand auf. Der Spass wird bis zu 500 Millarden kosten, allein für den ersten Abschnitt. Aber diese Zahl muss relativiert werden, denn die Credit Suisse war alleine einmal 100 Milliarden wert. 

„Ja, wir sollten uns mal eine Scheibe von den saudischen Projekten abschneiden», meinte Waldmeyer zum Frühstückstisch.

„Wir haben in der Schweiz bereits eine längere Stadt als die Saudis“, warf Charlotte ein. „Unsere Stadt beginnt in St. Margrethen und führt bis Genf. Entlang der Autobahn ist alles bebaut, wir haben vielleicht die längste Wurmstadt der Welt. Es sind genau 384 Kilometer. Wir schlagen die Saudis bei weitem.“

Stimmt. Aber leider ist unsere Wurmstadt nicht so gelungen. Linke Aktivisten werden zum Beispiel bemängeln, dass sie nicht verkehrsfrei ist. Es können auch nur beschränkt Lastenräder zirkulieren. Der Wurm wird vorab mit elektrischer Energie betrieben, die zu einem Gutteil aus deutschen Kohlekraftwerken stammt. Und vielleicht ist diese helvetische LINE auch nicht gendergerecht. Öffentliche Bauten sollten künftig nämlich gendergerecht geplant werden, so die politischen Vorstösse in der Stadt Zürich. Noch ist nicht klar, was das genau bedeuten soll, die Initianten waren auch noch nicht imstande, es zu formulieren.

„Diese Wurmstadt zählt nicht, Charlotte“, warf Waldmeyer ein, „die ist nicht genderkonform.“ Damit war die Diskussion betreffend eine bessere Stadtplanung vorerst beendet. Waldmeyer musste auch eingestehen, dass Neom nur dank sprudelnder Erdölquellen gebaut werden kann und der Bevölkerung stark subventioniert hingestellt wird. Rahmenbedingungen, von denen die Schweiz nur träumen kann. Die Saudis müssen sich auch nicht gegen die Fallstricke der direkten Demokratie wehren und eine Unzahl von bürokratischen Hindernissen überwinden. Und ob es in Neom dann Alkohol gibt, steht in den Sternen.

Neom dient also nicht als Vorzeigemodell für die Schweiz, stellte Waldmeyer ernüchtert fest. Wir müssten das Problem selbst lösen oder eben individuelle Strategien festlegen, um an ein Eigenheim zu kommen. «Ich hätte Verständnis dafür, wenn Lara in den Organhandel einsteigt», meinte Waldmeyer zu Charlotte. Charlotte antwortete nicht. Lara auch nicht, zumal sie den Tisch schon ab der Sequenz Neom verlassen hatte.