Waldmeyer stellte sich vor, wie es wäre, wenn er sich von all den Sozialen Medien fernhalten würde. Stattdessen würde er wieder vermehrt die klassische Kommunikation wählen: also Briefe schreiben, telefonieren. Allenfalls das persönliche Gespräch suchen. Man könnte alle wichtigen Sachen, die man ins Netz stellt, persönlich rüberbringen.
Nicht alles wollte Waldmeyer canceln. Im Laufe der medialen Entwicklung hatten sich auch ein paar ganz praktische Dinge entwickelt. So wurde der Brief durch E-Mail ersetzt und das Faxgerät, beispielsweise, durch WhatsApp. Heute verfügen bedeutend mehr Leute über ein WhatsApp Account als über ein Faxgerät. Ausser in Alain Bersets Krankheitsdepartement.
Waldmeyers Fazit nun: Briefpost ist heute nicht mehr lebensnotwendig, E-Mail aber schon. Und WhatsApp auch.
Nachrichten via sms indessen verschickt heute niemand mehr, ausser Banken und Kreditkartenfirmen in Form von Pins. Und ausser Waldmeyers Freund Ruedi Arnold aus der Innerschweiz.
Waldmeyer überlegte nun, wie eine lebensnotwendige Triage aussehen könnte und beschloss, vorerst auf alle Sozialen Medien wie Facebook, Instagramm, TikTok, Pinterest oder gar LinkedIn zu verzichten. LinkedIn war für Waldmeyer ohnedies nicht mehr relevant, weil er sich als aussteigender Unternehmer nie mehr bewerben wollte oder müsste. Die restlichen genannten Sozialen Medien könnte er einfach als unnötig qualifizieren – denn es geht auch ohne sie. Auf die geposteten unwichtigen Inhalte an eine nicht zu kontrollierende Zahl von Empfängern könnte er versuchsweise verzichten.
Zudem hatte es ihn schon länger gestört, bei Facebook so etwas wie eine freiwillige persönliche Stasiakte anzulegen, transparent für die ganze Öffentlichkeit.
Man könnte gar, so Waldmeyers singuläres Brainstorming weiter, der öffentlichen Kommunikation komplett entsagen und sich die neue virtuelle Brille von Apple zulegen. Er könnte durch Meisterschwanden wandeln mit dieser läppischen Skibrille auf dem Kopf, für ebenso läppische 3‘500 US-Dollar erstanden, und die Welt nur noch virtuell und animiert, auf Bestellung sozusagen, wahrnehmen. Aber dieser Plan kommt zu früh, das merkwürdige Ding gibt es erst in einem Jahr.
Damit zurück zu den heute verfügbaren Optionen, um frei zu kommunizieren, ohne die Sozialen Medien zu nutzen:
Es müssten echte Alternativen her. Also beschloss Waldmeyer, ab sofort alle wichtigen Informationen, mit denen er bisher sein Umfeld quälte, persönlich mitzuteilen. Einerseits telefonisch, andererseits auch im öffentlichen Raum. So nicht nur an der Bushaltestelle in Meisterschwanden, sondern auch an der Bahnhofstrasse in Zürich, in der Freie Strasse in Basel, an der Hertensteinstrasse in Luzern oder in der Multergasse in St. Gallen. An den Schweizer Hotspots sozusagen, um eine maximale Anzahl von Adressaten zu finden, welche sich gar nicht für seine Mitteilungen interessierten. Heureka! Das war eine Übungsanlage, die genau dem analogen Pendant zu den Sozialen Medien entsprach. Die meisten Leute wären unbekannt, man würde ein qualitativ ähnliches Informationsziel erreichen.
Und dann wollte er eben die telefonischen Kontakte wieder mehr pflegen. Diese waren immer schon wertvoller, denn das Gegenüber kann den Auslassungen kaum entrinnen, ohne unanständig zu wirken. Es herrscht, so im Marketing-Jargon, eine Situation der „Captive Audience“. Waldmeyer könnte also aus seinen über 2‘000 Kontakten auf dem Handy jede halbe Stunde random-mässig eine Nummer wählen und dann etwas Wichtiges mitteilen. Z.B. eine Schilderung der gelungenen Geburtstagsparty seiner Tochter Lara, das Umrechnungsverhältnis von CS in UBS-Aktien oder einfach „My Way“ von Franky Sinatra ins Handy flöten.
Effizienter allerdings ist schon die Strasse. Die lässt sich am ehesten mit Facebook vergleichen. Waldmeyer wollte aber auch nicht mehr auf TikTok sein. Weniger, weil Xi Jinping täglich die TikTok Meldungen weltweit überprüft (und so mit Sicherheit auch Waldmeyers Account), sondern weil die Beiträge in der Regel ausgesprochen infantil und unnütz sind. Wirklich selten lustig.
Ohne Facebook, Instagram, Linkedin und ohne TikTok wäre Waldmeyer digital befreit. Charlotte würde sich um die täglich notwendigen Logins kümmern, welche ihm beinahe schon den digitalen Nahtod beschert hatten. Er würde sich auf die Strasse konzentrieren und die Leute würden ihn cool finden. Er könnte wildfremden Leuten über seine Katze berichten, ein Foto mit der eingebundenen verletzten Pfote von Felix zeigen und zustimmende verbale Likes erhalten. Er würde Charlottes neuen Lippenstift vorführen (sie wechselte kürzlich von YSL auf Chanel, wirklich!), er würde zeigen, wie man ein Fahrrad aufpumpt. Und anstatt allen ein Foto von sich mit seinem neuen Fahrradhelm zu verschicken, würde er diesen Helm einfach tragen. In der Fussgängerzone. Er könnte auch Winnetou spielen und mit Federschmuck die Bahnhofstrasse runtertanzen, als Antiperformance zum gehypten Thema der kulturellen Aneignung – und beobachten, ob er Likes in Form von direkter Zustimmung vor Ort oder in Form von Stinkefingern erhält.
Nur: Die Leute würden ihn vielleicht verfolgen. Till Eulenspiegel würde vor Neid erblassen. Unter den Followern wären allerdings auch ein paar Psychiater, Sozialhelfer, Randständige oder wütende, bildungsferne Anhänger der jungen SVP, welche das konservative Leben gestört sähen.
Also verwarf Waldmeyer den Gedanken wieder. Neugierig schaute er auf sein Handy, was inzwischen reingekommen war.