Waldmeyer und die Lieferkette

Die Welt ist heute nicht mehr dieselbe wie vor der Pandemie. Oder vor der Ukrainekrise. Plötzlich fehlt es an allem, Lieferungen stocken, die Preise gehen rauf. Max Waldmeyer überlegte sich, wie er persönlich reagieren sollte.

Just-in-time-Lieferungen waren bis vor kurzem noch das Mantra aller Betriebswirtschafter und CEOs auf dem Globus: Man sollte nicht so blöd sein und Lager halten, wenn man die Ware doch gerade rechtzeitig anliefern lassen kann. Outsourcing war der Trick, die Verantwortung für die Anlieferung von allerlei Produkten und Dienstleistungen überträgt man kurzerhand an andere. So sieht intelligentes „Supply Chain Management aus“. Ein Teil des „Lean Managements“ – das leuchtete jedem ein.

Was sich nun aber gezeigt hat: Die Abhängigkeit von einem einzigen oder wenigen Lieferanten ist fatal.

„Wir können ja froh sein, gibt es nicht nur die Migros in der Schweiz“, meinte Waldmeyer zu Charlotte. Charlotte antwortete nicht. Waldmeyer wollte nur verdeutlichen, dass auch für seinen Haushalt in Meisterschwanden – nicht nur für alle Firmen auf dieser Welt – Lieferketten-Überlegungen angestellt werden sollten. Wenn man auf Coop, notfalls auf Denner, Lidl, Aldi, etc. ausweichen kann, ist das angenehm. Oder unter verschiedenen Tankstellen wählen kann. Allerdings: Wenn es bei der Grundproduktion stockt (also beispielsweise generell bei der Erdölproduktion oder -lieferung), nützt alles nichts: Dann gibt es an allen Tankstellen keinen Sprit mehr, bzw. nur noch sauteuer. Oder es gibt nirgends mehr Toilettenpapier (vgl. Waldmeyers Analyse vom Frühjahr 2020). Die Lagerhaltung zu erhöhen, funktioniert zudem auch nicht immer – Waldmeyer möchte z.B. kein eigenes Treibstoff-Tanklager betreiben.

Just-in-time war also einmal. „Die Resilienz muss erhöht werden“, meinen nun gescheite Ökonomen. Waldmeyer versuchte, es weniger gestelzt auszudrücken: Jetzt müssen einfach mehr Lager aufgebaut und die Lieferantenabhängigkeit reduziert werden. Dumm ist nur, dass das meistens etwas Zeit in Anspruch nimmt. Dass Deutschland fast seinen gesamten Gasbedarf von einem einzigen Lieferanten bezogen hat, war natürlich ein sträflicher Fehler, der sich kurzfristig nicht korrigieren lässt. Die Japaner beispielsweise machen es da schon besser, denn sie hatten das Glück, von Fukushima zu profitieren: Aus der damals stockenden Industrieproduktion und Versorgungsengpässen hatte man gelernt, die Lieferanten zu diversifizieren und sie einzubinden in ein engmaschiges Kontroll- und Coaching-System. Toyota produzierte letztes Jahr als fast einziger Automobilhersteller munter weiter, kaum etwas fehlte. VW und andere deutsche Hersteller dagegen brachten die Autos nicht raus, weil unter anderem beispielsweise die Kabelbäume fehlten (fatalerweise kamen sie allesamt von einem einzigen ukrainischen Hersteller). 

Also wieder die Deutschen. Was ist nur mit den Deutschen los …? Die Germanen, so Waldmeyers Eindruck, verkörpern doch quasi die Inkarnation der Organisation. Die sind durchgetaktet, funktionieren perfekt top-down. Der deutsche Arbeitnehmer arbeitet zu 80% zwar nicht gerne (der Schweizer offenbar nur zu 20% nicht), aber er tut es trotzdem. Die teutonische Obrigkeitshörigkeit ist legendär. Allerdings laufen sie dann wie Lemminge hinter allem her. „Das mit dem Gas oder dem Kabelbaum wäre mir nie passiert“, meinte Waldmeyer zu Charlotte. „Du warst eben weder Kanzler Deutschlands noch CEO bei VW, lieber Max!“ Stimmt. 

Lieferkettenprobleme und/oder generell Krisen haben natürlich auch Vorteile, reflektierte Waldmeyer weiter. Siehe Fukushima und Toyota. Denn Veränderungen bringen immer auch Gewinne für bestimmte Marktteilnehmer. Irgendjemand kann immer aus Verwerfungen profitieren – z.B. die Banken. Ob die Zinsen rauf- oder runtergehen: Die Boni der Banker bleiben immer gleich. Auch in der Industrie gibt es Vorteilsnehmer in Krisen, denn neue Lieferanten kommen zum Handkuss, weil die alten nicht liefern können. Die Frage, die Waldmeyer nun umtrieb, war die: Wie könnte er nun persönlich von der jetzigen Lieferketten-Krise profitieren? Sollte er in Lagerräume investieren? Oder in Lagerkonzepte? Oder in Firmen, welche Logistik-Dienstleistungen anbieten? Oder einfach einen Toyota kaufen und dann gleich wieder an den Nachbarn verkaufen, weil der seit sechs Monaten auf seinen BMW wartet (sein schon lange gebuchtes Fahrzeug steht nämlich unfertig in irgendeiner Werkhalle und wartet auf ein elektronisches Teil, dass immer noch im Hafen von Shanghai liegt). 

Die Kunst des Geldverdienens besteht also darin, genau dort zu sitzen, wo sich etwas verändert. Wenn die Häuserpreise raufgehen, verdient der Makler weiter. Wenn sie runtergehen, ebenso. Der ökonomische Trick könnte, ganz lapidar, nämlich sein, so Waldmeyers Analyse, Veränderungen zu antizipieren – und dann genau dort einzuhaken, wo etwas in Bewegung gerät. 

„Wir sollten besser unsere eigene Versorgungslage in Ordnung bringen, bevor wir jetzt von Mangellagen profitieren, Max“, fasste Charlotte zusammen. Stimmt, dachte nun auch Waldmeyer: Es ging nicht nur um den Kühlschrank-Nachschub, sondern auch um so profane Dinge wie Toilettenpapier. Oder generell um intelligentes Lagermanagement. Konsequenz: Die Lagerhaltung müsste erhöht werden. Wie lautete das Sprichwort schon wieder? Kaufe jetzt, so hast du in der Not …?

Plötzlich lief Waldmeyer ein kalter Schauer über den Rücken. Was ist mit dem Weinkeller? Ein Lieferketten-Problem beim Weinnachschub wäre wirklich sehr ärgerlich. Die Reblaus beispielsweise könnte die Weinstöcke in ganz Europa vernichten – so wie vor 150 Jahren. Oder die Klimaerwärmung und der Wassermangel die Ernten einbrechen lassen. Waldmeyer nahm sich vor, noch besser zu diversifizieren: Man kann, beispielsweise, nicht nur auf Terre Brune setzen. Spanien, Italien und Frankreich sind zwar gut vertreten in seiner Bodega in Meisterschwanden. Aber er wollte nun noch ein paar Bestellungen aus ganz anderen Regionen aufgeben, so Australien, Argentinien oder Kalifornien. Gleichzeitig plante er, die ganze Lagerhaltung massiv hochzufahren. Waldmeyer war zufrieden: Ja, so sieht Resilienz in Meisterschwanden aus! 

Waldmeyer und der Fluch des Erdöls

Waldmeyer steuerte seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) über die Autobahn. Nur kurz zuvor hatte er für eine Tankfüllung ein kleines Vermögen bezahlt. Erdöl scheint niemandem Glück gebracht zu haben, ging es ihm durch den Kopf – weder den Erdöl produzierenden Ländern noch ihm selbst.  

«Wieviel?», fragte Charlotte, als Waldmeyer wieder in den schweren Wagen kletterte. «200 Stutz!». Charlotte grinste. Waldmeyer meinte nur: «Schono blöd, hatten wir 2020 nicht in Erdöl investiert.»

Ja, im Frühjahr 2020 lag der Erdölpreis kurzfristig sogar unter null. Natürlich hätte er damals in Ölkontrakte oder einfach in Rohstofffonds investieren sollen. Er hätte seine CS-Aktien verkaufen und das Geld so intelligenter parkieren sollen. Und dann einfach warten … Ja, hätte …

Aber auch den Erdöl produzierenden Ländern hatten die vielen Barrels während den letzten Dezennien kaum Glück gebracht:

In Venezuela, mithin das Land mit den grössten Erdöl-Reserven der Welt, konnte sich dank den hohen Exporteinnahmen ein korruptes Regime am Ruder halten. Der ehemalige Busfahrer Maduro plündert und knebelt sein Volk gnadenlos. Ohne Öl wäre er – bestenfalls – noch immer Busfahrer und würde wohl seine lotterige Karre zwischen den Schlaglöchern auf den kaputten Strassen von Caracas durchzirkeln. Vielleicht wäre er und das Volk glücklicher. Vielleicht. 

Libyen würde ohne die munter sprudelnden Erdölquellen heute kaum von Warlords regiert, welche sich nur um dieses Öl streiten, und ein Aufstieg Gaddafis wäre gar nie möglich gewesen. Vielleicht würde Gaddafi noch heute auf einem Kamel, Dattel kauend und umgeben von glücklichen Eingeborenen in weissen Gewändern, über die Dünen reiten.

In Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten halten sich islamisch verbrämte Regime nur dank Erdöl an der Macht; die immensen Einkommen hatten jegliche Entwicklung einer «normalen» wirtschaftlichen Produktion blockiert. Nun werden Mega-Projekte in der Wüste geplant, um dem einfachen Volk die Grandezza des Staates zu erklären. Waldmeyer nahm sich vor, später darüber speziell zu berichten.

Nur die Vereinigten Arabischen Emirate scheinen es verstanden zu haben, den Erdölsegen einigermassen gescheit zu verteilen und zumindest in Handel, Finanzen und Tourismus zu investieren.

Die einzige echte Ausnahme, welche das Erdöl-Privileg richtig verstanden hat, scheint Norwegen zu sein: Die cleveren Skandinavier verprassen das Manna des Öls nicht, sondern legen es tunlichst in einem Fonds für spätere Generationen an. 

Ob KasachstanNigeria oder viele andere Länder mit Erdölsegen: In der Regel profitieren nur immer eine Nomenklatur oder einzelne Familien mit ihrem kleptokratischen Umfeld von den Rohstoffeinkommen. Und immer wieder verhindert der unkontrollierte Geldsegen die natürliche Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Schwer lastet der Fluch des Erdöls auch auf dem Iran: Der Gottesstaat mit seinem irrlichternden Klerus kann sich nur dank Erdöleinkommen an der Macht halten, und das schwarze Gold hat inzwischen auch die letzten Spuren des alten persischen Intellekts verwischt.

Die USA sind das Land mit der weltgrössten Erdölproduktion. Die Amerikaner haben sich heute das Leben mit der billigen Energie ganz bequem eingerichtet. Die Bevölkerung bewegt sich durchs Band fast nur in benzinfressenden Ungetümen, heizt und kühlt auf Teufel komm raus, und bei steigenden Preisen für die Gallone droht fast ein Regierungssturz. Immerhin stellt die Erdölproduktion nur ein geringer Teil der Wirtschaftsleistung dar, sodass der ökonomischen Entwicklung nichts im Wege stand. Die «Vergiftung» mit dem Erdöl fand also nur partiell statt, reflektierte Waldmeyer. Es geht wohl um die «letale Dosis», die in diesem Fall nicht ausreichte, um genügend Fluch über das Land zu bringen.

Ganz anders indessen in Russland: Der heutige Despoten-Staat exportiert, nebst Gewalt, nur Rohstoffe. Der zweitgrösste Ölproduzent der Welt würde wohl ohne die exportierten Barrels und andere Ressourcen nur aus Bauern bestehen, die der Taiga mühsam ein paar landwirtschaftliche Erzeugnisse abringen. Putin hätte nicht mal seine KGB-Schule besuchen können, er würde heute wohl mit Rheuma in einer kärglichen und kalten Datscha hocken und um ein Gnadenbrot betteln. Zuvor hätte er sich vielleicht als Hilfskoch in einer Kolchose verdingt (was nur der historischen Logik entsprechen würde, arbeitete sein Grossvater doch in der Küche Stalins).

Waldmeyer kann sich nicht daran erinnern, je ein Produkt mit dem Label „Made in Russia“ gesehen zu haben. Tatsächlich ist das BIP des alten Sowjetstaates nur gut doppelt so hoch wie jenes der Schweiz, gerade einmal vergleichbar mit jenem Spaniens. Das kriegsführende Land wird massiv überschätzt. Ausser Krieg, Waffen, Rohstoffe und Trolls scheint das Land tatsächlich nichts exportieren zu können. Und auch hier gilt: Das Erdöl hat letztlich nur Wenigen Segen gebracht und das Land nicht wirklich weitergebracht – weder wirtschaftlich noch politisch noch moralisch.

Und jetzt dieses Drama mit den steigenden Energiepreisen bei uns. Hätte er doch nur diese Terminkontrakte gekauft, schoss es Waldmeyer nochmals durch den Kopf. Er steuerte sein SUV weiter über die Autobahn und wiederholte sein Mantra: «Schono blöd, hatten wir 2020 nicht in Erdöl investiert!» Charlotte antwortete nur lakonisch: «Ich habe an Ostern 2020 in Rohstoff-Fonds investiert. Du hattest doch gesagt, es könne nur noch aufwärts gehen mit den Rohstoffen! Mein Fonds hat sich nun verdreifacht.»

Waldmeyer schien das Blut in den Adern zu gefrieren. Er bremste abrupt ab, brachte den schweren Wagen auf dem Pannenstreifen zum Stehen und starrte entgeistert Charlotte an. Er atmete tief durch. Der Fluch des Erdöls hatte nun auch Waldmeyer eingeholt.

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