Waldmeyer las mit einiger Faszination von der „virtuellen Umkleidekabine“ der Onlineshops. Mit genauen Angaben von Body-Massen und Fotos wird eine persönliche Database erstellt, welche zur besseren Treffsicherheit der Grössenbestellungen führt. Aber die Sache hat einen Haken.
Eigentlich eine ganz patente Sache, so eine virtuelle Anprobe. Bisher bestellte Charlotte einfach immer drei verschiedene Grössen für Schuhe oder Kleider; die unpassenden wurden dann kurzerhand retourniert. Kein Wunder, verzeichnen Onlineshops zum Teil Retourenquoten von weit über 50%. Das geht insbesondere bei den Schweizer Kunden und Firmen tüchtig ins Geld, weil wir hierzulande, in dem Ministaat Helvetien, aus unerklärlichen Gründen die welthöchsten Versandkosten haben.
Mit dem soll nun Schluss sein: Die virtuelle Umkleidekabine kann dem Käufer zuhause auf dem Bildschirm aufzeigen, ob die (meist unnützen) Sachen auch passen – und gefallen.
Waldmeyer gönnte sich früher, mit der gleichen virtuellen Anprobe-Methodik, auch schon mal eine coole Brille von Mr. Spex. Allerdings musste er sich vorher bei einem von Mr. Spex benannten Optiker den Kopf vermessen lassen. Die beiden später bestellten Brillen hatte er gar nie aufgesetzt – Charlotte fand sie unpassend, ja gar „affig“. Vielleicht eben zu cool für den Mittfünfziger.
Merke also: Der Partner muss mit in die Umkleidekabine. Und hier stockte der Atem Waldmeyers. Es könnte glatt ein ganzer Sonntag vergehen, bis Charlotte ihre Hosen, Blusen und Jacken (und Schuhe) am Bildschirm durchprobiert hätte. Waldmeyer beschloss in der Folge, Charlotte vorerst noch nicht in seinen Wissensvorsprung in Sachen digitaler Spiegel einzuweihen. Der Kelch könnte so an ihm vorübergehen – zumindest noch für die nächsten Monate. Bis nämlich Waldmeyers jüngere, digital gestählte Schwester Gabi (Zürich, Single, ÖV, Mobility, Co-working-Space) die Sache entdecken und Charlotte umgehend infizieren würde.
Aber Waldmeyer freute sich dennoch über den kleinen Technologiesprung im Onlinehandel. Er ortete nämlich eine Ersparnis: Wenn Charlotte nur genügend lang Klamotten virtuell anprobieren würde, würde sie diese vielleicht gar nicht bestellen, sondern eben nur virtuell konsumieren. Deshalb die vermutlich nicht unerhebliche Entlastung des Kleiderbudgets.
Diese Weiterentwicklung des Konsumverhaltens entsprach eigentlich nur der Logik, überlegte Waldmeyer weiter. Inzwischen handeln wir mit virtuellem Geld, das keinem Staat zuzuordnen ist, und wir können im Netz sogar virtuell Land und Liegenschaften kaufen. Wir tun so, als ob wir etwas besitzen, wir sollten es dann allerdings rechtzeitig weiterverkaufen. Denn die Letzten beissen die Hunde. Das ist nicht nur so bei dem virtuellen Land auf dem Mars oder den coolen Kryptowährungen, sondern auch bei so virtuellen Werten wie einer CS-Aktie, deren Preis sich quasi sublimierte, von einst über 90 Franken zu lächerlichen 3 Franken. Und nun also auch die virtuellen Kleider.
Waldmeyer reflektierte weiter: Vielleicht wäre das die Lösung für alle Umwelt- und Klimaprobleme? Nur so tun, als ob, belastet unseren Planeten weniger. Allerdings: Amazon, Zalando & Co. werden sich mit diesen Gadgets vielleicht ihr eigenes Grab graben. Wenn nur noch virtuell konsumiert wird, gibt es leider keinen Umsatz. Vielleicht sollte er nun alle Amazon-Aktien verkaufen? Aber auch nur virtuell, er besass ja gar keine. Er hätte aber virtuell welche besitzen können.