Waldmeyer überfällt die Credit Suisse

Max Waldmeyer hatte kürzlich wieder einer dieser Albträume. Er betraf die Credit Suisse. Er hatte die Agonie der Grossbank schon lange beobachtet. Diese hatte es geschafft, dank Missmanagement ihren Aktienkurs von einst stolzen 90 Franken auf lächerliche 3 Franken runterzuwirtschaften. Und nun verfolgte Waldmeyer diese Misere auch noch in der Nacht.

Der Vorteil des Albträumens besteht darin, dass man dabei gleichzeitig reflektieren kann. Man kann auch mathematisch anspruchsvolle Aufgaben lösen, innovative Ideen entwickeln – oder ganz einfach in die Zukunft blicken. Zum Beispiel in die Zukunft der Credit Suisse.

Waldmeyer befand sich schon tief in seinem REM-Schlaf, als vor seinem virtuellen Auge die Bilanz der Credit Suisse auftauchte. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter – ja, im Schlaf: Die goldenen Bilanzregeln, die Waldmeyer vor gut 40 Jahren während seinen ersten Buchhaltungslektionen gelernt hatte, wurden massiv verletzt. Diese Regeln definieren unter anderem, dass das kurzfristige Umlaufvermögen die kurzfristigen Fremdkapitalien nicht unterschreiten darf. Bei einer Bank bedeutet das, etwas rudimentär, dass die Casheinlagen der Kunden die kurzfristigen Kredite, die die Bank vergibt, immer decken müssen. Wenn also ein Grossteil der Kunden plötzlich ihr Guthaben abzieht (z.B. mit eleganten online Überweisungen binnen Tagen), könnte die Bank nicht imstande sein, kurzfristig für genügend Liquiditätsnachschub so sorgen.

Und genau so geschah es bei der CS, an jenem trüben Novembermorgen 2023: Die Kunden hatten zwar durchgehalten, auch als im Frühling 2023 die Saudis ihre Beteiligung an der CS nochmals aufstockten und die Mehrheit übernahmen. Aber als Cornelia Bösch, die Tagesschausprecherin, verkündete, die Nationalbank müsse die Credit Suisse vorübergehend mit Liquidität versorgen (mit 3.5 Milliarden, gesichert durch einen raffinierten Subprimevertrag auf dem Schweizer Hypothekengeschäft), kippte die Stimmung. Bekanntlich schützt die Eidgenossenschaft nur Einlagen bis 100‘000 Franken, alles darüber kann flöten gehen. Das weiss jeder Schweizer Bankkunde. Deshalb trat nun genau dieser Gau ein, dass über Nacht gewaltige Summen abgehoben, bzw. überwiesen wurden. 

Waldmeyer erinnerte sich – ja, im Traum – an die Situation während der Griechenlandkrise. Die Bezüge an den Bankomaten wurden damals auf 60 Euro beschränkt. Er erinnerte sich ebenso an die Berichte aus dem Libanon; schon 2022 war das Land de facto bankrott, das Finanzsystem erodierte, und die Bankkunden konnten monatlich nur noch 400 USD von ihrem Konto abheben. Zahlreiche Kunden überfielen in der Folge ihre Bank, um ihr eigenes Konto zu plündern. Dieser Bassam Hassein beispielsweise erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil er unter Waffengewalt die Herausgabe seiner 210‘000 USD verlangte. Nach langen Verhandlungen mit dem Bankdirektor konnte er dann immerhin 35‘000 USD nach Hause tragen, den Rest erhielt er gestaffelt über die nächsten Tage und Monate. Er ging straffrei aus, denn das etwas nachdrückliche Abheben des eigenen Geldes entbehrt ja nicht einem legitimen Grundrecht.

Waldmeyer sass, immer noch im tiefsten Albtraum, nun bereits vor seinem PC. Sein Konto war blockiert. Der Online-Zugang funktionierte zwar tadellos, aber es erschien ein blinkender Hinweis, in Rot: „Leider ist es aus technischen Gründen zurzeit nicht möglich, Überweisungen zu tätigen. Bitte setzen Sie sich mit ihrem Bankberater in Verbindung.“ Waldmeyer versuchte sofort, Pierin Caduff zu erreichen. Erfolglos. Der wusste wohl schon warum. Also probierte er es bei Svetlana Petrović, diese war seit einiger Zeit eh für ihn zuständig. „Ja, weisch, im Moment ist das schwierig, das mit den grossen Beträgen. Ich kann Dir aber Bitcoins auszahlen“, meldete Svetlana.

Waldmeyer stürzte zu seinem Kleiderschrank und schnappte sich seine alte Dienstwaffe. Beim Raushetzen warf er Charlotte noch seine Bankomatkarte zu und schrie: “Geh du zu den Bankomaten und versuch überall so viel wie möglich abzuheben!“

In der Schalterhalle der CS stellte Waldmeyer unvermittelt fest, dass sich vor jedem Schalter bereits eine lange Schlange gebildet hatte, zum Teil bis zum Paradeplatz hinaus. Das war’s: Der sogenannte „Bank Run“ war in vollem Gange! Er schoss zweimal in die Luft und verschaffte sich so Zugang zu Schalter 4, zu Albana Jovanović. „Ich möchte bissoguet alles abheben, 210‘000 Franken!“, flüsterte Waldmeyer der eingeschüchterten Mitarbeiterin zu.

Charlotte meldete inzwischen, dass sie in der Region schon einige Bankomaten abgegrast hätte, sie sei nun von Meisterschwanden bereits bis nach Aarau vorgedrungen, es gäbe aber nur immer 60 Franken. Und auch mit der zweiten Bankomatkarte sei bald das Tageslimit erreicht. „Mach weiter, Charlotte“, raunte Waldmeyer ins Handy und beobachtete Albana, wie sie im Zeitlupentempo Geld rauszählte. Aber bei 35‘000 stoppte sie jäh. „Mehr darf ich nicht, sonst muss ich in Riad bei den Saudis nachfragen.“ Nun verlor Waldmeyer seine Contenance, schoss nochmals in die Luft und schrie: „Mein Name ist Hassein, Bassam Hassein, und ich möchte meine 210‘000!“

Waldmeyer wachte schweissgebadet auf. Er stürzte zu seinem PC und überwies sogleich einen grösseren Betrag auf die Kantonalbank. Es funktionierte. Beim Frühstück fragte Charlotte: „Wieso sollte ich gestern Nacht eigentlich zu diesen blöden Bankomaten rennen?“ Waldmeyer, erschöpft und mit roten Augen, murmelte nur: „Vielleicht muss ich nach Riad.“