Eigentlich hatte Waldmeyer das Thema um die „kulturelle Aneignung“ schon abgehakt. Aber plötzlich entdeckte er, dass es dabei tatsächlich nur um kulturelle Selbstfindung geht. Waldmeyer schreckt nicht davor zurück, sich selbst diesbezüglich zu analysieren.
Waldmeyer hatte den ganzen Hype um die kulturelle Aneignung eben doch noch nicht ganz verdaut. Bei mehreren Gläsern Cognac und im Austausch mit Charlotte hatte er kürzlich immerhin festgestellt, dass wir in der Schweiz, da historisch nicht sehr kulturreich, einfach etwas Kulturbeimischung brauchen. Deshalb sind solche kulturellen Aneignungen fast ein Gebot der Stunde. Zweitens hatte er erkannt, dass man in einem Indianerkostüm durchaus die Bahnhofstrasse rauf- und runterschlendern dürfte, sofern man nicht wie Winnetou aussieht. Denn Winnetou wurde nun nicht nur in deutschen Bibliotheken aussortiert und von ZDF und ARD geächtet, sondern wurde auch von SRF in die ewigen Jagdgründe verbannt und wird nicht mehr ausgestrahlt. Winnetou ist offenbar für das heranwachsende Volk ähnlich schädlich wie der Struwwelpeter – welchen Waldmeyer jedoch bis heute als durchaus edukativ beurteilt.
Waldmeyer amüsierte sich auch über die Debatte, ob man für Textilien mit Leopardenmuster, da kulturell geklaut, eine Lizenzgebühr an die Leoparden (oder irgendwelche Tierschutzverbände) abliefern sollte.
Bei einem weiteren längeren Abend der Reflexion und wiederum bei einem Glas Cognac entwickelte Waldmeyer nun ein weiteres Theorem: Eigene Kulturarmut könnte zu einer überzeichneten Suche nach eigener kultureller Selbstfindung führen.
Also, vereinfacht: Aufgrund unserer allgegenwärtigen Wohlstandsverwahrlosung, genährt von dieser historisch bedingten bescheidenen Kulturbasis, entsteht die verzweifelte Fahndung nach der eigenen Identität. Daraus erklärt sich die Suche vieler Individuen nach kultureller Selbstfindung. Ja, mangelndes kulturelles Selbstverständnis ist es nur, weshalb wir nach Neuem suchen, dabei aber von panischer Angst umtrieben sind, uns etwas anzueignen, das uns nicht gehören darf. Stundenlange Yogaübungen etwa könnten auf solche individuellen Defizite hinweisen. Oder regelmässige Reisen nach Indien. Aufgrund des unausgelasteten Lebens im Homeoffice könnte sich der Wunsch entwickeln, das Fussmalen zu perfektionieren oder endlich Makramee zu lernen. Die mangelnde berufliche Auslastung – viele möchten ja nicht mehr fulltime arbeiten und suchen verzweifelt nach der optimalen Work-Life-Balance – könnte in der Belegung eines Kurses für Ausdruckstanz kulminieren. Bei all diesen Übersprunghandlungen geht es nicht zuletzt um die Aussenwirkung des persönlichen kulturellen Habitus, welcher sich dann auch in so profanen, aber starken Signalen manifestiert wie veganer Ernährung oder in der Anschaffung eines Lastenrads (ein Thema übrigens, dem sich Waldmeyer bereits kürzlich fundiert gewidmet hatte).
Waldmeyer schenkte sich nochmals Cognac ein und machte sich ernsthaft Gedanken über seine soziale – und damit kulturelle – Aussenwirkung. Es ist nämlich überhaupt nicht mehr cool heute, ein ganz normaler Bürger oder, schlimmer noch, wie im Falle Waldmeyers, Ex-Unternehmer zu sein. So wäre es sicher angesehener, sich als Influencer oder Blogger an einem angesagten Ort, am besten in der Form eines Digitalen Nomaden, zu betätigen, Philanthrop oder Schauspieler zu werden oder sich als Gründer einer Kryptowährung zu profilieren. Das kommt viel besser an. Oder, ein brandaktueller Ansatz, einfach auszusteigen und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu beziehen. Oder einfach doch hier zu bleiben, sich wenigstens den Körper tätowieren zu lassen und sich dergestalt eine coolere Identität zuzulegen. Die Suche nach dem kulturellen Gegenteil also?
Alle diese Aspekte finden sich dann zusammen in einer neuen kulturellen Selbstfindung. Genau: Die ganze Dreadlock-Thematik ist gar keine der kulturellen Aneignungen – sondern wohl eher Ausdruck des mangelnden eigenen Kulturverständnisses, und das „Unwohlsein“, welches verunsicherte Bürger aus der links-alternativen Ecke beim Betrachten eines weissen Reggae-Musikers befällt, ist nur ein Prozess der kulturellen Selbstfindung.
Waldmeyer traf einen Entscheid: Er füllte sein Cognac-Glas nun nicht noch ein viertes Mal. Aber er beschloss für den Moment, zumindest was ihn und seine Aussenwirkung anbelangt, gar nichts zu ändern. Er entschied auch, sich demnächst kulturell nichts anzueignen. Er nahm sich vor, einfach Waldmeyer zu bleiben.