Waldmeyer und wie man die Wirtschaft runterfährt

Waldmeyer beobachtet die deutsche Wirtschaftspolitik seit Jahren. Nur schon, weil diese eben direkten Einfluss auf die Schweiz hat. Sehenden Auges scheint unser nördlicher Nachbar mit zahlreichen Fehlanreizen und Fehlentscheiden auf einen teutonischen Crash hinzulaufen.

Schuld an diesem ökonomischen Niedergang auf Raten ist nicht nur die pitoyable Bilanz des Nichtstuns in der Ära Angela Merkel, die fatale Abhängigkeitsstrategie von Russlands Energielieferungen oder die hektische und zum Teil unbedarfte Wirtschaftspolitik der neuen Ampelregierung. Schuld ist nämlich auch die ehemalige Kinderärztin Ursula von der Leyen, welche heute als Präsidentin der EU-Kommission ziemlich weltfremde und unrealistische Klimaziele – und damit zum Beispiel die Entwicklungsstrategie der deutschen Autoindustrie – vorgibt.

Waldmeyer versuchte Gegensteuer zu geben, indem er bisher keinen Vollelektrischen kaufte. Er wollte ja nicht mit einem Auto durch Meisterschwanden schleichen, welches die Energie zum Teil aus dreckigem Kohlestrom aus Deutschland bezog.

Erst kürzlich entdeckte Waldmeyer in einer Tiefgarage, welche er, auf der verzweifelten Suche nach seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), systematisch durchkämmen musste, etwas, was ihn tatsächlich perplex machte: ein unbekanntes Modell, auch schwarz, auch SUV, sehr schön geformt. Er tigerte mehrmals um das rätselhafte Fahrzeug rum. Und da stand es dann, bescheiden am Heck: „Lynk & Co.“ 

„Ich habe heute den Porsche nicht mehr gefunden. Aber die Chinesen kommen“, stellte Waldmeyer beim Abendessen gegenüber Charlotte vielsagend fest. Charlotte suchte vergeblich nach dem Kausalzusammenhang, antwortete aber trotzdem: „Aber die Chinesen sind doch schon überall. Auch in deinem Porsche, nur schon mit den Seltenen Erden.“ Stimmt, China kontrolliert diese edlen Rohstoffe global zu 80% und wird uns so einmal erpressen damit, wie Putin uns jetzt mit seinem Gas drangsaliert.

Lynk & Co ist eine Automarke, die jetzt auch auf den europäischen Markt drängt. Sie gehört zum chinesischen Geely Konzern (welcher sich auch Volvo geschnappt hatte). Die Chinesen sind clever genug, nicht nur auf elektrische Antriebe zu setzen. Sie wissen genau, dass es dafür auf dem Weltmarkt gar nicht genügend Strom gibt – und schon gar nicht sauberen Strom, welcher nicht aus fossiler Energie produziert wird. Sie sind also „technologieoffen“, wie auch die USA oder Japan.

Für die Europäer, aber insbesondere die Deutschen, welche blind auf eine Elektrifizierung des Privatverkehrs setzen, brechen damit strube Zeiten an. Die Vorgabe, dass ab 2035 produzierte Fahrzeuge keine Abgase mehr ausstossen dürfen (gemessen wird dabei groteskerweise nur am Auspuff, nicht bei der Produktion des Fahrzeuges oder bei der Stromgewinnung) führt zu einer fatalen einseitigen Ausrichtung der Autoindustrie. In die Entwicklung sauberer Verbrennerfahrzeuge wird so nämlich nicht mehr investiert, und Deutschland wird sich damit den Weltmarkt verbauen.

Das Problem ist, dass die deutsche Autoindustrie nun mal das Herz der gesamten Wirtschaft des Landes darstellt. Und wenn man am Herzen operiert, wird’s brenzlig. Andere Länder mussten das auch schon bitter erfahren.

Waldmeyer dachte kurz an die venezolanische Wirtschaft: Das Land mit den weltgrössten Erdölreserven schaffte es, dank einer völlig verqueren Wirtschaftspolitik, in nur zehn Jahren 90% seines Bruttoinlandproduktes zu vernichten und eine Inflation von mehreren tausend Prozent hinzulegen. Oder an Simbabwe. Oder Libanon. Oder an Russland, welches seinen ökonomischen Niedergang vielleicht genau am 24. Februar 2022 einläutete.

Aber bleiben wir in Europa und blenden wir zurück: Die Industrienation England brachte es fertig, eine einst blühende Fahrzeugindustrie dank Schlendrian, Arroganz und Dauerstreiks niederzumachen. Das war in den 70er Jahren. Seither wird nicht mehr viel produziert im Königreich, und die erfolgreichen Marken Jaguar oder Land Rover gehören den Indern. Waldmeyer findet es ganz amüsant, dass es früher gerade die Inder in den heruntergekommenen britischen Produktionsstätten waren, welche die Fahrzeuge zusammenschraubten. Die Kontraktion der Autoindustrie hat zu einem langanhaltenden Rückgang der industriellen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes geführt. Dass nun ein indischstämmiger Premierminister das Land aus dem Sumpf holen muss, findet Waldmeyer übrigens ebenso amüsant.

Auch Frankreich wurde von diesem Phänomen nicht verschont: In den 50er und 60er Jahren lieferte la Grande Nation einst Spitzentechnologie und liess die französische Autoindustrie auf Erfolgswellen reiten. Scheibenbremsen für die Serienproduktion, hydropneumatische Federungen, etc. waren wegweisende und brillante Innovationen. Der 2CV (Döschwo) war ein Vorreiter des Leichtbaus, mit nur 500 kg Fahrzeuggewicht konnten die französischen Bauern damit auch mal mit einem Korb Eier unbeschadet über einen Acker segeln. Die Fahrzeuge verkauften sich in alle Welt. Bis auch hier der Schlendrian einsetzte, die Franzosen wollten plötzlich nur noch 35 Stunden arbeiten, die Produktionskosten stiegen. Zuweilen setzte sich gar der Staat ans Steuer, indem er sich bei der Autoindustrie zwangsbeteiligte. Das Resultat entsprach demjenigen Grossbritanniens: Nicht nur die Fahrzeugindustrie selbst, sondern der ganze riesige Zulieferbereich kränkelte sehr rasch, und Zug um Zug de-industrialisierte sich Frankreich. Ein Jammer. Und heute? „Einen Renault würde ich nie und nimmer kaufen. Kennst du jemanden, der einen Renault hat?“, fragte Waldmeyer. Charlotte war froh, nicht mehr über die Chinesen debattieren zu müssen, und ein Lächeln fuhr ihr über das Antlitz: “Mein erster Freund hatte einen R4, wir fuhren bis nach Italien runter, ans Meer!“

„Aber die Italiener haben es auch nicht besser gemacht“, meinte Waldmeyer und war froh um den Hinweis betreffend das Bel Paese. „Ein Alfasud beispielsweise rostete schon auf dem Prospekt.“ 

In der Tat liess auch Italien seine Autoindustrie verrotten. Sanierungen scheiterten, die Produktionsqualität wurde immer schlechter, und die italienische Autoindustrie vernichtete sich sozusagen von selbst. Auch hier: Die ganze italienische Industrie, zu einem grossen Teil abhängig von dem einst blühenden Automobilzweig (mit den schönen Lancias, Alfa Romeos, usw.), musste mitleiden und einen selbstverschuldeten Niedergang verzeichnen. Heute erfreut uns einzig noch dieser knuffige Cinquecento von Fiat. Die ganze Autoindustrie ist ein Schatten ihrer selbst und gehört jetzt dem nicht sehr erfolgreichen Weltkonzern Stellantis. „Sollten wir einen Stellantis kaufen, Charlotte?“ Charlotte liess sich nicht provozieren und antwortete nicht.

Aber zurück zu Deutschland: Die von der EU vorgegebene Ausrichtung für die Autoindustrie wird sich wohl als folgenschwerer Fehler erweisen. In Europa am schwersten davon betroffen wird die deutsche Autoindustrie sein, die einzige verbliebene, erfolgreiche des Kontinentes. Weltweit wird die Innovationsreise jedoch weitergehen, nur in Europa meint man, den globalen Klimawandel aufhalten zu können, indem jetzt elektrisch zwangsgefahren und elektrisch zwangsproduziert wird. Woher der Strom kommt und wie fossil und dreckig er ist, bleibt sekundär. Das Herz der deutschen Industrie wird damit langsamer schlagen, und das der weitverzweigten, koronar zusammenhängenden Betriebe ebenso. 

Waldmeyer stellte sich plastisch vor, wie wir dann irgendwann einmal, vielleicht in der Schweiz, in einem chinesischen, modernen Fahrzeug hocken, und unsere armen deutschen Nachbarn auf ein bisschen Sonnenlicht am wolkenverhangenen Himmel warten, um die Batterie ihres Fahrzeuges – für einmal ganz sauber – aufladen zu können. Ja, und dann müsste Charlotte allenfalls diese Nahrungspakete nach Deutschland schicken, wo ein Heer von Arbeitslosen, welche keine Anstellung mehr in der Industrie findet, darben. Allerdings wird er selbstverschuldet sein, dieser Niedergang. Vielleicht würde Waldmeyer dann sogar etwas Mitleid aufbringen.

Waldmeyer und die Neutralität

Die Politik und der Bundesrat hecheln hinter dem Verlauf der Gegenwart hinterher. Erstarrt in der Geschichte, wird die Neutralität nicht nur überzeichnet, sondern auch falsch interpretiert. Waldmeyer wird dem Bundesrat nun unter die Arme greifen.

Die aktuelle militärische Krisenlage in Europa hat überhaupt nichts mit jener der früheren zu tun: Im Zweiten Weltkrieg war das mit der Neutralität noch ganz praktisch. Zwischen direkten grossen Nachbarländern eingeklemmt, wollten wir keine Fehler begehen und entschlossen uns deshalb – richtigerweise – „neutral“ zu bleiben. Allerdings verhielten wir uns überhaupt nicht neutral. Das war nämlich unser Geheimnis: Wir taten nur so. Noch bis 1944 liessen wir ungehindert deutsche Transporte mit Waffen und Munition durch die Schweiz passieren. Erst 1945, als das Scheitern der deutschen Wehrmacht voraussehbar war, wurde die Schweiz etwas restriktiver – nicht zuletzt aufgrund des erhöhten Drucks der Alliierten auf die Schweiz. Unsere „Neutralität“ im Zweiten Weltkrieg war letztlich somit keine echte, es handelte sich eher um ein opportunistisches und wechselhaftes Abseitsstehen. Das war durchaus erfolgreich – aber nicht ehrlich, und unsere damalige Positionierung darf schon gar nicht mit hehrer und friedensstiftender Neutralität beweihräuchert werden.

Dass sich Christoph Blocher heute der armen jungen Russensoldaten erbarmt, die in der ukrainischen „Sonderoperation“ sterben, zeugt nicht von Empathie, sondern von einer perversen einseitigen Wahrnehmung. Die schrecklichen Gegebenheiten rund um den russischen Angriffskrieg sollten nämlich auch dem alten und rückwärtsgewandten Populisten bekannt sein, wird in den westlichen freien Medien doch täglich darüber berichtet. Die Gruselliste der Vergehen ist nur schwer verdaulich, der Leser darf sie auch überspringen: 

Es handelt sich um vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausbombung ganzer Städte, detaillierte Zerstörung von Siedlungen, gezielte Angriffe auf Schulen, Spitäler und andere zivile Infrastrukturen, Folter und Erschiessen von ukrainischen Soldaten, aber auch von Zivilpersonen, geplante sexuelle Missbräuche von Männern, Frauen und Kindern, Verschleppung von Zivilpersonen und insbesondere Kindern nach Russland, Geiselnahmen und Vertreibung von Millionen von Bürgern, Einsatz von geächteten Waffen (wie Streubomben), Verminung und Vernichtung von Getreidefeldern, Diebstahl von Millionen Tonnen von Getreide, Plünderungen, etc.

Kurzum: Verstösse gegen alle Regeln der Menschenrechte und Menschlichkeit. Es sind tausende von einzelnen Kriegsverbrechen. Den Haag müsste die Juristische Infrastruktur bedeutend ausweiten, um allen diesen Verbrechen nachzugehen und sie zu ahnden. Waldmeyer ist der Meinung, dass nun unverzüglich man mit dem Bau eines neuen grossen Traktes mit Gefängniszellen begonnen werden sollte.

Fazit: Das Neutralitätsverständnis von vielen Bürgern und Politikern ist nicht nur überzeichnet, sondern wird ganz einfach fehlinterpretiert. Irgendwo hört es nämlich auf, „neutral“ zu bleiben. Darf man, wenn solche Vergehen mitten in Europa stattfinden, wirklich „neutral“ bleiben? Nein, man darf nicht. Eine falsch verstandene „Neutralität“ würde uns sogar schuldig machen.

Neutralität darf es nur im Rahmen zivilisatorischer Grenzen geben. Russland hat diese überschritten und ist jetzt ein Pariastaat.

Die Wahrheit betreffend der Neutralitätsdiskussion ist eine andere, so Waldmeyers Zwischenbilanz, die er sofort mit Charlotte teilte: „Tatsächlich geht es um die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz, und die Neutralität war und ist immer nur ein Werkzeug dafür.“ 

Stellen sich denn Magdalena und Christoph – und auch Roger Köppel – in der Tat vor, dass, wenn wir die Sanktionen gegen Putins autokratisch regiertes Unregime nicht mittragen würden, Gas und Strom wieder ungehindert und günstiger nach Helvetien fliessen würden?

Letztlich sollten wir uns der Spieltheorie bedienen, wie es Waldmeyer schon früher tat, als es um die Erklärung des Phänomens des Toilettenpapier-Mangels ging. Wie beim Schachspiel müssen die nächsten Züge immer antizipiert werden. Was wäre also, Zug um Zug, passiert, wenn wir die Sanktionen nicht unterstützt hätten? Als erstes wäre der Druck der EU und der USA auf uns gestiegen. Bei Mangellagen hätten wir, so der nächste Zug, mit Bestimmtheit keine grosse Unterstützung aus Europa erhalten. Wir sind nämlich, dies im Gegensatz zu vielen Ansichten im Volk (befeuert von unseren bekannten populistischen Einpeitschern) ein kleines Mosaiksteinchen nur in einem grossen Ganzen. Das betrifft Güter, Dienstleistungen, Energie, Sicherheit, etc. Unser Land ist heute, im 21. Jahrhundert, ein Land der kompletten Vernetzung und Abhängigkeit – und nicht mehr ein Land der Autarkie. 

Doch zurück zur Spieltheorie: Die USA hätten unser Finanzwesen mit Strafbestimmungen überziehen können. Und Gas wäre immer noch keines geflossen. 

Doch wie stehen denn Länder da, die keine klare Position gegen Russlands krassen Bruch mit dem Völkerrecht bezogen haben? So die Türkei, Serbien, Indien oder Südafrika? Die Antwort ist klar: Sie stehen nicht gut da und geraten unter westlichen Druck. Diese Staaten tragen die Sanktionen allerdings nicht mit, weil sie schon immer mit Russland sympathisierten – und nicht, weil sie sich „neutral“ verhalten wollen. Hätte die Schweiz nicht Position bezogen, würde sie sich jetzt in die Phalanx dieses zweifelhaften Clubs einreihen.

Wieso öffnen gewisse Politiker denn nicht die Augen? Waldmeyer meinte erst: Seelig die Dummen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er reflektierte aber nochmals und erkannte, dass dem nicht so ist, zumindest nicht, was die führenden Rechtsaussen-Politiker betrifft. Dort herrscht nicht verzeihbare Dummheit, sondern raffinierter Populismus. Neutralität, stammtischabgestimmt, verkauft sich gut. Und bei grösseren Problemen hätte man, gegenüber dem Ausland, immer noch einen grossen Trumpf auszuspielen: Man könnte doch einfach den Gotthard sperren!

Waldmeyer stellte fest: Unsere Neutralitätspolitik ist offenbar Innenpolitik – und nicht Aussenpolitik. Die Aussenpolitik wird nur vorgeschoben: Glauben denn unsere Rechtsaussen-Protagonisten tatsächlich, nicht Position beziehen zu müssen, um Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien führen zu können? Waldmeyer nimmt diesen Putinverstehern schlichtweg nicht ab, dass sie an solchen hehren Friedensmissionen tatsächlich interessiert wären.

Wenn es schon darum ginge, Sicherheitspolitik für das Land zu betreiben, so müsste man sich klugerweise eh auf die Seite der Stärkeren schlagen. Und die Stärkeren sind nun mal die westlichen Staaten, mit denen wir moralisch, kulturell und wirtschaftlich verbunden sind. Gerade auch das Letztere müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen: Dieser drastisch überschätzte russische Staat erzielt doch tatsächlich nur ein Bruttoinlandprodukt (in USD), welches kaum mehr als doppelt so gross ist wie das der Schweiz! Waldmeyer weiss, dass dieser verbliebene riesige Staat der Sowjetunion eigentlich nur Gas, Öl und Hackerdienstleistungen exportiert, wir hingegen feinen Käse, leckere Schokolade und edle Uhren. Ja, natürlich auch Maschinen und vor allem chemische und pharmazeutische Produkte, aber die sind für unser Image weniger von Belang. Die Konsequenz also: Russland ist ein lächerlich kleiner Absatzmarkt, nur noch ein zur Tankstelle Chinas verkommener Staat, und wenn wir die Energieabhängigkeit von Putins Reich einmal ganz abgeschüttelt haben, müssen wir gar nicht mehr so tun, als ob wir neutral sind!

Der Bundesrat ist einmal mehr überfordert. Er möchte es allen recht machen – insbesondere allen politischen Parteien, und er möchte in so delikaten Dingen wie „Neutralität“ am liebsten gar nicht Position beziehen. Leider kann der Bundesrat dieses ärgerliche Thema nicht an die Kantone delegieren. Er versuchte es bei der Pandemiebekämpfung, zurzeit wieder im Management von möglichen Strommangellagen. In Sachen Ukraineüberfall funktioniert das leider nicht. Also wurstelt er sich durch, getrieben von allerlei Druck von der Innenpolitik und von der EU und den USA. Kein Wunder, sind da vor allem die zuständigen Bundesratsdepartemente, vertreten durch den Winzer aus der Westschweiz und den Onkologen aus dem Tessin, heillos überfordert.

„Also wenn die Chinesen Taiwan überfallen, wäre ich klar für Taiwan“, so Waldmeyers Statement gegenüber Charlotte, welche er nun wiederholt bei der Lektüre irgendeines dicken Buches störte. „Das geht aber nicht, Max, wir müssten neutral bleiben!“, entgegnete Charlotte – meinte es allerdings eher sarkastisch.

„Stimmt“, entgegnete Waldmeyer, „der Blocher wäre dann auch wieder gegen Sanktionen, weil Magdalena sonst vielleicht irgendwelche Produkte nicht mehr von China erhielte.“

Ja, so läuft das eben mit dem Vehikel „Neutralität“: Es geht nicht um politische und moralische Positionsbezüge – sondern nur um ziemlich kurzfristig gedachte Handelspolitik, verpackt in volksnahe Stammtischsprache.

Wie sollte denn unsere Neutralität künftig definiert werden? Waldmeyer macht dem Bundesrat hier und jetzt einen Vorschlag: Die Schweiz sollte hinter einer strengen „westlichen Neutralität“ stehen. So einfach und zielführend ist das! Das Adjektiv „westlich“ ist der Schlüssel. So kann die Schweiz unverfänglich Position beziehen gegenüber allem, was „nicht-westlich“ ist. 

„Ja, schreib das dem Cassis, Max!“, meinte Charlotte und hoffte, das Thema so nun abschliessen zu können.

Waldmeyer und die kulturelle Selbstfindung

Eigentlich hatte Waldmeyer das Thema um die „kulturelle Aneignung“ schon abgehakt. Aber plötzlich entdeckte er, dass es dabei tatsächlich nur um kulturelle Selbstfindung geht. Waldmeyer schreckt nicht davor zurück, sich selbst diesbezüglich zu analysieren.

Waldmeyer hatte den ganzen Hype um die kulturelle Aneignung eben doch noch nicht ganz verdaut. Bei mehreren Gläsern Cognac und im Austausch mit Charlotte hatte er kürzlich immerhin festgestellt, dass wir in der Schweiz, da historisch nicht sehr kulturreich, einfach etwas Kulturbeimischung brauchen. Deshalb sind solche kulturellen Aneignungen fast ein Gebot der Stunde. Zweitens hatte er erkannt, dass man in einem Indianerkostüm durchaus die Bahnhofstrasse rauf- und runterschlendern dürfte, sofern man nicht wie Winnetou aussieht. Denn Winnetou wurde nun nicht nur in deutschen Bibliotheken aussortiert und von ZDF und ARD geächtet, sondern wurde auch von SRF in die ewigen Jagdgründe verbannt und wird nicht mehr ausgestrahlt. Winnetou ist offenbar für das heranwachsende Volk ähnlich schädlich wie der Struwwelpeter – welchen Waldmeyer jedoch bis heute als durchaus edukativ beurteilt.

Waldmeyer amüsierte sich auch über die Debatte, ob man für Textilien mit Leopardenmuster, da kulturell geklaut, eine Lizenzgebühr an die Leoparden (oder irgendwelche Tierschutzverbände) abliefern sollte.

Bei einem weiteren längeren Abend der Reflexion und wiederum bei einem Glas Cognac entwickelte Waldmeyer nun ein weiteres Theorem: Eigene Kulturarmut könnte zu einer überzeichneten Suche nach eigener kultureller Selbstfindung führen.

Also, vereinfacht: Aufgrund unserer allgegenwärtigen Wohlstandsverwahrlosung, genährt von dieser historisch bedingten bescheidenen Kulturbasis, entsteht die verzweifelte Fahndung nach der eigenen Identität. Daraus erklärt sich die Suche vieler Individuen nach kultureller Selbstfindung. Ja, mangelndes kulturelles Selbstverständnis ist es nur, weshalb wir nach Neuem suchen, dabei aber von panischer Angst umtrieben sind, uns etwas anzueignen, das uns nicht gehören darf. Stundenlange Yogaübungen etwa könnten auf solche individuellen Defizite hinweisen. Oder regelmässige Reisen nach Indien. Aufgrund des unausgelasteten Lebens im Homeoffice könnte sich der Wunsch entwickeln, das Fussmalen zu perfektionieren oder endlich Makramee zu lernen. Die mangelnde berufliche Auslastung – viele möchten ja nicht mehr fulltime arbeiten und suchen verzweifelt nach der optimalen Work-Life-Balance – könnte in der Belegung eines Kurses für Ausdruckstanz kulminieren. Bei all diesen Übersprunghandlungen geht es nicht zuletzt um die Aussenwirkung des persönlichen kulturellen Habitus, welcher sich dann auch in so profanen, aber starken Signalen manifestiert wie veganer Ernährung oder in der Anschaffung eines Lastenrads (ein Thema übrigens, dem sich Waldmeyer bereits kürzlich fundiert gewidmet hatte).

Waldmeyer schenkte sich nochmals Cognac ein und machte sich ernsthaft Gedanken über seine soziale – und damit kulturelle – Aussenwirkung. Es ist nämlich überhaupt nicht mehr cool heute, ein ganz normaler Bürger oder, schlimmer noch, wie im Falle Waldmeyers, Ex-Unternehmer zu sein. So wäre es sicher angesehener, sich als Influencer oder Blogger an einem angesagten Ort, am besten in der Form eines Digitalen Nomaden, zu betätigen, Philanthrop oder Schauspieler zu werden oder sich als Gründer einer Kryptowährung zu profilieren. Das kommt viel besser an. Oder, ein brandaktueller Ansatz, einfach auszusteigen und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu beziehen. Oder einfach doch hier zu bleiben, sich wenigstens den Körper tätowieren zu lassen und sich dergestalt eine coolere Identität zuzulegen. Die Suche nach dem kulturellen Gegenteil also?

Alle diese Aspekte finden sich dann zusammen in einer neuen kulturellen Selbstfindung. Genau: Die ganze Dreadlock-Thematik ist gar keine der kulturellen Aneignungen – sondern wohl eher Ausdruck des mangelnden eigenen Kulturverständnisses, und das „Unwohlsein“, welches verunsicherte Bürger aus der links-alternativen Ecke beim Betrachten eines weissen Reggae-Musikers befällt, ist nur ein Prozess der kulturellen Selbstfindung.

Waldmeyer traf einen Entscheid: Er füllte sein Cognac-Glas nun nicht noch ein viertes Mal. Aber er beschloss für den Moment, zumindest was ihn und seine Aussenwirkung anbelangt, gar nichts zu ändern. Er entschied auch, sich demnächst kulturell nichts anzueignen. Er nahm sich vor, einfach Waldmeyer zu bleiben.

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