Waldmeyer und das Nichtstun

Beim Wein ist es vielleicht so wie in der Politik: Durch Nichtstun wird das Ganze nur besser. Waldmeyer überlegte deshalb, ob er nun den Terre Brune in seinem Keller etwas länger lagern sollte. Oder doch besser trinken, und dann neuen bestellen? Vielleicht gar keinen jungen Jahrgang kaufen, sondern gleich einen älteren?

Politiker zerschlagen oft weniger Geschirr, wenn sie nichts tun. Das entspricht in der Regel auch dem Krisenmodus im Bundesrat: Wenn’s brenzlig wird und Entscheidungen und Tempo angesagt sind, tut er oft erst mal nichts. Angela Merkel hatte diese Taktik besonders ausgefeilt: Sie strahlte immer Ruhe aus, formierte erst einmal ihre unsägliche Raute mit den Händen und sagte und tat dann … nichts.

Das muss nicht immer falsch sein, denn Nichtstun verhindert oft grössere Fehler als ein Tun auslösen könnte – weil das Tun dann eben unüberlegt und falsch ist. Fatal ist, wenn beides zusammenkommt: Einerseits grossflächiges Nichtstun, andererseits, bei den raren Entscheiden dann, ein falsches Tun.

Mutti Merkel war eigentlich die Inkarnation der unglücklichen Paarung von Nichtstun und falschem Tun, resümierte Waldmeyer. Jetzt sitzt sie stumm zu Hause, kocht allenfalls ihre berühmte Kartoffelsuppe und macht wieder … nichts. Ihre Nicht-Entscheide oder die falschen Entscheide ziehen sich, einer politischen Blutspur gleich, durch 16 fatale Regierungsjahre.

Eine pazifistisch verbrämte Haltung – vielleicht bedingt durch ihre DDR-Vergangenheit – führte erst einmal zu einer Verkümmerung der Bundeswehr. „Da gibt es heute nur noch Warmduscher mit kaputten Waffen“, dachte Waldmeyer laut. „Wenigstens haben die keine Homeoffice-RS“, warf Charlotte ein. Stimmt.

Aber zurück zu Merkel: Gleichzeitig mit ihrem Regierungsbeginn wurde mit dem Bau der Nordstream 1 begonnen, welche aus russischer Sicht die Umgehung der Ukraine zum Ziel hatte und die Abhängigkeit des europäischen Westens von den Ressourcen des verblassten Sowjetreiches beschleunigte. Und Putin frische Finanzmittel in seinen korrupten Staatshaushalt spülte.

2008, im gleichen Jahr, als Georgien von Russland überfallen wurde, stand auch die Aufnahme der Ukraine in die Nato zur Diskussion. Merkel hatte sie verhindert, sie hatte sich am stärksten dagegen gewehrt. Hier dürfen wir ihr allerdings keine Bösartigkeit unterstellen – es war schlichtweg Naivität und die panische Angst vor dem Groll Putins.

2014 war das Jahr der Annexion der Krim. Spätestens jetzt hätte man die Glocken läuten hören sollen. Und wieder war es unter anderem Merkel, welche die Weichen falsch stellte: Sanktionen gegen Russland waren nur Feigenblätter. Im gleichen Jahr wurde gar mit der Detailplanung von Nordstream 2 begonnen. Der Ukraine wurde nach dem Überfall auf die Krim nur mit Lippenbekenntnissen und Nichtstun geholfen – obwohl es, angesichts der Geschichte, gerade an der Bundesrepublik gewesen wäre, hier Farbe zu bekennen. 

2015 folgte dann „Wir schaffen das“. Angela trat mit ihrer vollkommen falschen Beurteilung der Flüchtlingssituation in eine fatale politische Falle. Die Diskussion um die Personenfreizügigkeit und die Flüchtlingspolitik waren es letztlich, welche den Brexit befeuerte und den Austritt der Briten verursachte – und damit Europa als Ganzes schwächte. Leider erneut Merkels Schuld. Oder zumindest ihre Mitschuld.

Inzwischen wurde in Deutschland ziemlich unbedacht die Energiewende mit einer radikalen Abkehr von der Atomenergie eingeleitet, worauf die Abhängigkeit von Russland als Energielieferant noch weiter stieg. Diese gipfelte am Schluss sogar in der Erfindung der „Brückentechnologie“, wonach Gas plötzlich, „vorübergehend“, als grüne Energie deklariert wurde. So wollte sich Deutschland schneller von Kohle- und Atomstrom entledigen. Doch auch hier nur, schon wieder, mittels einer Steigerung der Energieabhängigkeit von Russland. Auch unsere Konzertpianistin (Simonetta Sommaruga) sprang auf diesen Zug auf. Nun ist es merkwürdig still geworden um die geplanten grossen Gaskraftwerke.

Das mit dem Nichtstun, welches Schlimmeres verhindert, stimmt wohl eben doch nicht, reflektierte Waldmeyer. Er sass vor dem Kaminfeuer und schenkte sich nochmals ein Glas Terre Brune ein. Das Holz im Kamin knisterte angenehm; es handelte sich um die Überreste des alten Apfelbaums, den Waldmeyer im März 2014, kurz nach der Krim-Annexion, eigenhändig gefällt hatte. So ein Feuer ist eben „sustainable“, überlegte er. Wie der Terre Brune.

„Hätte die Merkel anders gehandelt, hätte dieser irre Putin die Ukraine vielleicht nicht angegriffen“, meldete Waldmeyer zu seiner Frau rüber. 

„Wir haben auch dem Nichtstun gefrönt, Max. Hätten wir in der Schweiz nicht 200 Milliarden von kleptokratischen russischen Oligarchen entgegengenommen und würden wir nicht einen Grossteil des korrupten russischen Rohstoffhandels unbehelligt über die Schweiz abwickeln, hätte Putin vielleicht gar nicht die Mittel erhalten, die Ukraine zu überfallen“, meinte Charlotte lakonisch. Sie nippte nun, entgegen ihren Gepflogenheiten, ebenso an einem Glas Terre Brune.

Wenn das so weitergeht, wird der Terre Brune eventuell knapp, vielleicht sollte er etwas mehr bestellen, schoss es Waldmeyer durch den Kopf. Verknappung der Ressourcen, Lieferkettenprobleme, nun auch in Meisterschwanden …? Andererseits: Vielleicht sollte man nicht auf zu hohem Niveau lamentieren. Und vielleicht hatte Charlotte ganz einfach recht: Die Schweiz hat mit Nichtstun ebenso beigetragen zu diesem geopolitischen Desaster.

Waldmeyer fasste wieder einmal einen klassischen Management-Entscheid. Ohne zu zögern, eben nicht wie ein Politiker: Er nahm sich dringend vor, morgen als erstes gleich Terre Brune nachzubestellen.           

Waldmeyer und die Modewörter

2018 waren es noch Genderbegriffe. Max Waldmeyer hatte sich schon damals in die Nesseln gesetzt, als er anlässlich eines Schulbesuches diesen Peter Holenstein (Laras Lehrer) als „Lehrerin“ ansprach. Es kam nicht gut an. 

Waldmeyer hatte schon immer Probleme mit den plötzlich aufkommenden neuen Begriffen. Doch alle Rechtfertigungen nützten nichts, damals, in der Causa Holenstein. Dabei hatte Waldmeyer es nur gut und genderfreundlich gemeint. Seine Tochter Lara hat ihm das bis heute nicht verziehen und rächt sich seither mit ihren Schreibweisen – mit Sternen, Unterstrichen oder diesen dämlichen Wortkombinationen mit „Innen“. Immerhin schaffte es Waldmeyer seither, solche unästhetischen Schreibweisen nie selbst zu verwenden und Zeitungsartikel, welche durchwegs nur die feminine Form verwenden (es gibt dann tatsächlich nur „Lehrerinnen“, vielleicht auch nur „Mörderinnen“) sofort wegzulegen.

„Ich kümmere mich jetzt mal um den Garten“, meldete Waldmeyer zu Charlotte rüber. Es war ein trüber Samstagmorgen. Gartenarbeit hat den Vorteil, dass man dabei gleichzeitig Gescheites reflektieren kann, freute sich Waldmeyer.

Also stapfte er in seinen Garten in Meisterschwanden und spann seine Gedanken weiter. In Sachen Modewörter eben. Vorletztes Jahr ärgerte er sich über das Wort „Gentrifizierung“. Keine Ausgabe der Tageszeitung, kein gescheiter Aufsatz ohne dieses Wort. Zu Beginn googelte Waldmeyer noch: Mit Gentrifizierung war der sozioökonomische Strukturwandel einer Stadt oder eines Stadtviertels aufgrund allerlei Einflüsse von aussen gemeint. Soho in London beispielsweise produzierte eine ganz angenehme Ausprägung von Gentrifizierung, zumindest für Aussenstehende. Barcelona ist ebenso ein Beispiel für diesen Wandel, die Stadt besteht heute allerdings nur noch aus Touristen, welche Airbnb-Wohnungen suchen; die Einheimischen finden das gar nicht lustig. Zürich-West ist eine weitere – geplante – Gentrifizierungs-Geschichte: Hier versucht die Stadtverwaltung mit allen Mitteln, das bünzlige Aussenquartier in einen hippen Stadtteil zu verwandeln. Was bis heute allerdings nur im Ansatz gelang.

Wenn dann selbst Schweizer Lokalblätter von Gentrifizierung, so beispielsweise einer Agglomeration im Aargau, sprechen, ist der Begriff endgültig durch. Es ist so wie mit der Börse: Wenn die Putzfrau mit Spekulieren beginnt und das Gespräch diesbezüglich mit dir sucht, ist die Sache vorbei – gleichentags noch solltest du in diesem Fall sofort alles verkaufen. Das Gleichnis diente Waldmeyer zur Illustration von Modewörtern: Wenn ein Begriff inflationär gebraucht wird, ist er eben verbraucht. Dessen Verwendung grenzt dann schon fast an Peinlichkeit. 

Das Unwort des Jahres 2021 war „Pushback“, 2020 war es „Corona-Diktatur“. Interessanter 2017: „Alternative Fakten“. Das war immerhin etwas wirklich Einnehmendes, ein richtig starkes Wort: alternative facts. Trump sei Dank. Es läutete ein Zeitalter ein, in dem Fakten sich neu verwischen dürfen: Ab diesem Moment durfte man die Wahrheit umkrempeln und deren neue Darstellung als das Richtige präsentieren. PR-mässig eine Sonderleistung, moralisch etwas vom Verwerflichsten, was die „Zivilisation“ in den letzten Jahrzenten hervorgebracht hat. Der russische Aussenminister Lawrow verdient diesbezüglich auch einen Kaktus.

Und jetzt geht es täglich um das „Narrativ“. Alles ist ein Narrativ. In jeder Talksendung, in jedem Artikel wird jetzt ein Narrativ besprochen. Früher gab es offenbar keine Narrative, jetzt laufend. Eigentlich ist der Begriff nichts anderes als eine Abwandlung von Trumps alternative facts: Narrative sind erzählende und sich festhaftende Darstellungen. Clichés, die sich durchgesetzt haben und auf denen aufgebaut wird. „Syrier integrieren sich nicht“, „Franzosen denken nur ans Essen“, „Spanier handeln im Sinne des mañana“. „Der Westen ist selbst schuld, dass die Russen die Ukraine attackiert haben – wegen der Osterweiterung der Nato nämlich“. Das ist zurzeit das beliebteste Narrativ. Es wird von Russland verbreitet und hat sich an vielen Orten festgesetzt. Oder zumindest unterschwellig als Erklärungsteil etabliert. Der rechte Flügel der SVP und andere Putinversteher haben dieses Narrativ übernommen.

Die Fakten sind indessen anders, betreffend der Osterweiterung. Deshalb ärgert sich Waldmeyer besonders über dieses blöde „Narrativ“. Hatte es kürzlich tatsächlich eine Osterweiterung gegeben? Nein! Dass Montenegro etwa, das Exjugoslawienland mit einer Armee von 1‘600 Mann (wohl etwa so viel wie die Feuerwehr in Zürich), vor ein paar Jahren der Nato beigetreten ist, kann beim besten Willen nicht als Osterweiterung taxiert werden – zumal Montenegro südlich liegt. Vor 18 Jahren sind u.a. die baltischen Staaten der Nato beigetreten, aus nackter Angst vor dem post-sowjetischen Imperialismus. Freiwillig. Was wäre wohl geschehen, wenn diese Staaten heute nicht in der Nato wären? Hätte sie sich Putin noch vor dem Frühstück einverleibt? Im Frühjahr 2008 wurden die Nato-Beitrittsgesuche der Ukraine und Georgiens abgelehnt (Deutschland und Frankreich legten ihr Veto ein). Ein paar Monate später wurde Georgien von Russland attackiert und die Gebiete Südossetien und Abchasien erobert – die bis heute unter russischer Kontrolle sind. 2014 war dann die Ukraine an der Reihe, die Krim und der Donbass wurden überfallen und ebenso dem Putin-Reich angehängt. Und 2022 ist nun die ganze Ukraine an der Reihe. So sieht eine Westerweiterung aus. Eine Osterweiterung der Nato fand, seit 2004, nie statt. Aber eben: das Narrativ … Das Narrativ definiert, dass der Westen eine aggressive Osterweiterung der Nato vornimmt – oder plant –, Russland deshalb verärgert ist und es somit Verständnis für seine imperiale Reaktion braucht. Der selbstverliebte Weltwoche-Verleger und SVP-Rechtsaussen Roger Köppel z.B. ist ein Russland-Versteher in diesem Sinne. Aber auch andere irrlichternde Protagonisten bedienen unablässig dieses Narrativ – in kompletter Ausblendung der Geschichte, bis zurück ins Zarenreich. Medwedew, einer der wichtigsten Adlaten Putins, formulierte es kürzlich kristallklar: Er wünschte sich ein „freies Eurasien von Wladiwostok bis Lissabon“. Russland war immer, ist es und wird es leider auf absehbare Zeit bleiben: imperial. „Osterweiterungen“, sofern es diese denn überhaupt gab, hatten überhaupt keinen Einfluss. Narrative halten sich eben, wenn sie geschickt lanciert werden.

2022 wäre „Zeitenwende“ als Unwort angebracht. Nur schon, weil es insbesondere deutsche Politiker dauernd verwenden, ohne auch die Massnahmen konsequent einzuleiten, die eine Zeitenwende verdient hätte. Immerhin wurde ein Tankbonus verteilt (Kosten: drei Milliarden Euro, mittels Giesskannenprinzip verteilt), um die Wende kurzfristig abzuwenden. 

Wie dem auch sei: Waldmeyer versuchte, sich wieder seinem Garten zuzuwenden. Das Stück Land, das er nun zusätzlich vom Nachbarn abkaufen konnte, wird sein Grundstück in Meisterschwanden schön abrunden. Er arbeitete persönlich an der nötigen Humus-Aufschüttung auf der Morgenseite seines Grundstückes, im Osten also. Eine schöne Aufgabe, so sah man auf jeden Fall nach ein paar Stunden einen Effekt – in der Firma war das eher selten. Und gleichzeitig konnte man Narrative analysieren.

„Bist du jetzt fertig mit der Aufschüttung?“, fragte Charlotte gegen Abend.

„Du meinst die „Osterweiterung …?“, fragte Waldmeyer zurück und erschrak. Hatte er jetzt soeben ein Narrativ bedient?

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