Anfangs 2022 rückten die neuen Rekruten nur virtuell ein, denn es war Homeoffice angesagt. Kombattante Verteidigung lernt man nun also allein und von zuhause aus. Von diesem irren Vorgang war nun plötzlich auch Max Waldmeyer, Jahrgang 1966, betroffen!
Wie die Schweizer Armeeführung auf diese aberwitzige Idee kam, ist schleierhaft. Es gibt einfach Berufe und Vorgänge, die lassen sich schlecht von zuhause aus erledigen. Ein Coiffeur oder ein Metzger beispielsweise kann seinen Job einfach unmöglich im Homeoffice verrichten. Eigentlich wäre das auch bei einer Soldatenausbildung so: Da geht es, vor allem in den ersten Wochen, um Disziplin, Ordnung, kontrolliertes Verhalten. Führung muss gefühlt, Teambildung andererseits erlernt werden. Eine kafkaeske Vorstellung also, dass 20-jährige Boys das alles von zuhause aus selbst in sich reinprügeln.
Hoffentlich erfährt das der Putin nie, dachte sich Waldmeyer, er würde einen Lachanfall kriegen ob dieser belustigenden Nachricht aus dem kleinen und fernen Helvetien. Und Waldmeyer überlegte noch: Ob die tapferen Ukrainer wohl auch im Homeoffice ausgebildet wurden? Oder gar die Navy Seals …?
Andererseits, so reflektierte Waldmeyer weiter, könnten wir dergestalt, auch längerfristig, viel Geld einsparen. Man könnte doch gleich auch die Wiederholungskurse künftig im Homeoffice absolvieren! Alles mit Distance Learning. Dazu braucht es nur diese gescheiten E-Learning-Programme der Armee. Bis jetzt liefen sie noch nicht so richtig, es gab zu viele Pannen. Aber binnen einem Jahr würde unsere digital gestählte Armeeführung das vielleicht hinkriegen. Allerdings bestünde vielleicht Gefahr, dass diverse Mütter eine Sammelklage gegen die Armee einreichen könnten (es ginge um eine Kompensation für die Landschäden, die die vielen Gefechtsparcours anrichten, die in den Gärten angelegt werden).
Überhaupt: Konflikte wie in der Ukraine liegen weit weg; ein richtiger Krieg in der Schweiz ist sehr unwahrscheinlich. Also könnte man doch die ganze Armee nur virtuell aufstellen. Auf jeden Fall liesse sich ein grosser Teil der fast 6 Milliarden Franken, die wir jährlich für die Armee ausgeben, hervorragend einsparen. Über 10 Jahre ergäbe sich ein Einsparungspotential von vielleicht 50 Milliarden – das entspräche rund der Hälfte der Schweizer Staatsverschuldung. Ab 2032 könnten wir dann auf Normalbetrieb umschalten und wieder klassisch Armee und somit auch RS spielen. Das Timing wäre ideal, denn dann wären vielleicht die neuen Flieger und die neue Luftabwehr eingetroffen – vorher könnten wir uns so oder so kaum verteidigen. Sofern diese Geräte unsere Viola tatsächlich bestellen darf. Waldmeyer fragte sich, ob er einfach Nachsicht üben sollte mit diesem Zeitlupen-Konzept. Wie meinte doch Korporal Mosimann, damals, 1986 in der RS: „Numme nid gsprängt!“
Nun also dieser RS-Marschbefehl für Noa. Waldmeyers Sohn hatte allerdings überhaupt keine Lust, in eine Homeoffice-RS einzurücken. Noa wollte noch dringend in die Stadt, hatte Diverses schon mit Bekime (seine albanische Freundin) geplant, und es befanden sich bereits verschiedene Partys – mit entsprechenden Erholungsphasen – in der Pipeline. Er wollte auch die Reifen an seinem alten BMW wechseln. Also schlichtweg keine Zeit. Noa provozierte Waldmeyer zudem mit der Idee, vorübergehend formell sein Geschlecht zu ändern – was jetzt bei den Behörden spielend leicht geht und ihn sofort von einer Armeepflicht befreien würde.
Das war zu viel für Waldmeyer. Und so geschah es, dass er sich tatsächlich erweichen liess: Rekrut Max Waldmeyer rückte an Noas Stelle in die RS ein! Das heisst, in diese Homeoffice-RS. Waldmeyer setzte noch als ultimative Bedingung durch, dass er dafür auch den Sold einstreichen durfte.
Noa machte also sein Ding, und Waldmeyer hockte sich an den PC mit den komischen Armee-Programmen. Vorher zog er noch seine alte Uniform an (obwohl sie etwas gar eng geworden war). Charlotte zuliebe liess er seine Armeewaffe im Schrank. Bei den Lernprogrammen war allerlei Lustiges dabei. So zum Beispiel ein Tutorial zum Kravattenbinden, eine Tetris-Anleitung zum Zerlegen und wieder Zusammensetzen von allerlei Waffen und Geräten. Waldmeyer frischte seine Kenntnisse im Erkennen von wichtigen Armeeabzeichen auf (Grad, Waffengattungen, etc.). Er legt auch einen ersten Marsch in seinen alten Militärschuhen im Garten zurück. Gekonnt scannte er den QR-Code für das Erlernen der Nationalhymne und lud die verschiedenen absolvierten Tests virtuos in die Militärwolke rauf.
Charlotte wunderte sich, wieviel Knie- und Rumpfbeugen Waldmeyer plötzlich in seinem Büro machte. Auf die Frage, warum er dafür in seiner alten Uniform stecke, meinte Waldmeyer nur: «Manchmal darf man nicht den einfachsten Weg gehen.» Für den Moment reichte das, und Charlotte liess ihn kopfschüttelnd allein.
Die Homeoffice-Periode verstrich im Nu. Nach deren Ablauf drückte allerdings die Frage, wie jetzt Noa – völlig unvorbereitet – physisch einrücken sollte.
«Dad, du musst gehen! Ich hab diesen Scheiss überhaupt nicht intus.» Stimmt, Noa wäre der Situation gar nicht gewachsen – auch mental nicht. Es fehlte eindeutig die Disziplin, der Drill.
Waldmeyer stellte sich in der Folge vor, dass er tatsächlich einrücken würde. Mit Noas Dienstbüchlein und der zuvor im Zeughaus bezogenen Ausrüstung.
Aber was, wenn der Korporal ihn dann nach dem Jahrgang fragen würde? «Rekrut Waldmeyer: Mütze weg!». Waldmeyer stellte sich vor, dass er dann allerlei Begründungen parat haben müsste. Zum Beispiel: «Ich kann alles erklären!» oder «Es ist nicht so, wie es aussieht.» Oder ganz einfach die nackte Wahrheit: «Ich habe schon immer älter ausgesehen». Dann, als situative Vorbereitung, sollte der Korporal (vielleicht ein Soziologiestudent) etwas intellektueller rüberkommen: «Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nur ein Darwin’scher Querschläger».
Waldmeyer wusste nicht mehr, wie die Geschichte weiterging – oder besser: wie sie weitergegangen wäre. Auf jeden Fall wäre der Ausgang vermutlich nicht so spektakulär gewesen. Vielleicht hätte er einfach ein ÖV-Billett zweiter Klasse erhalten, Kaserne Bülach-Meisterschwanden einfach.
Oberleutnant a.D. Waldmeyer, immer lösungsorientiert, entschied sich anders: Er würde eine Home-Kaserne errichten und Noa armeetauglich machen!
Charlotte schaute entsetzt aus ihrem Bürofenster in den Garten und sah Waldmeyer in Uniform und Stiefeln. Er hielt ein kleines rotes Buch in der Hand, und sie hörte ihn brüllen: «Noa, wir haben nun noch ein langes Wochenende vor uns. Zeit genug, um alles nachzuholen! Also, Rekrut Waldmeyer: Jetzt ist vorbei mit Digital. Beginnen Sie schon mal mit den Liegestützen. Ich bereite den Gefechtsparcours vor!»