Oder: Die russische Durchmarsch-Achse in die Schweiz
Krieg in Europa? Die jüngsten Entwicklungen lassen ein bisher unvorstellbares Szenario plötzlich als Tatsache erscheinen. Waldmeyer überlegte, was er tun würde, wenn sich das ganze Drama noch ausweiten würde. Aber dazu später.
Vorab malte er sich aus, wie ein russisches Drehbuch für einen weiteren Einmarsch Richtung Westen aussehen könnte. Waldmeyer studierte Google Maps: Unter der Annahme, dass die Ukraine doch noch komplett eingenommen würde, stünde Putin bereits an der ungarischen Grenze. Viktor Orban, ein grosser Putin-Verehrer, würde die Russen vielleicht willkommen heissen; Ungarn würde also fallen. Weiter westlich dann liegt bereits Österreich – aber dieses Rumpfimperium einstiger Grösse und Grandezza verfügt heute nur noch über eine kümmerliche Armee. Die Österreicher sind zudem nicht in der Nato; diese würde also nicht eingreifen. Putin würde folglich auch hier gleich durchmarschieren – falls das überhaupt nötig wäre. Denn er könnte alternativ direkt von Lwiw aus in der Ukraine (dem schönen alten Lemberg Österreich-Ungarns) Hyperschall-Raketen über 1‘500 km abschiessen, also locker beispielsweise bis nach Meisterschwanden.
Die mit hoher Wahrscheinlichkeit einfachste und logischste Einmarschachse der Russen ist somit klar: Ukraine – Ungarn – Österreich – Schweiz. Damit stünde der wahnsinnig gewordene Kremlherr im Herzen Europas, an den Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Italien. Und Liechtenstein. Aber vor allem stünde er nun erst mal im Vorarlberg. Ein Szenario, das Waldmeyer bereits vor bald 40 Jahren in der Rekrutenschule als Übungsanlage vorgesetzt bekam: „Feind Rot überquert den Rhein“. Die Welt hat sich inzwischen also, kriegstechnologisch, doch nicht weiterentwickelt?
Bis zu diesem Zeitpunkt, dem abgeschlossenen Aufmarsch nach Vorarlberg, könnten wir in der Tat gar nichts tun. Das verbietet uns die Neutralität. Oder sollten wir schon vorher, vielleicht heute schon, den Ukrainern helfen, damit die Russen nicht näher an uns ranrücken? Die Deutschen z.B. hatten sich ja offiziell mit der Ukraine solidarisch erklärt und schon frühzeitig 5‘000 Helme geschickt. Sie versprechen auch heute noch täglich neue Waffen, vielleicht liefern sie tatsächlich noch welche.
Aber zurück zu Waldmeyers Szenario: Was ist, wenn Putin nun in der Tat im Vorarlberg lauert, wie die Katze vor dem Mauseloch und nur darauf wartet, dass die Schweiz etwas tut? „Ruki wwerch!“ hatte Waldmeyer einst bei der Armee gelernt (ja, so lautet „Hände hoch!“ auf Russisch). Eine allerdings wenig hilfreiche Kenntnis in einem solchen Fall.
Würde Frau Amherd in dieser doch etwas brenzligen Situation unsere alten Flieger volltanken lassen? Gäbe es eine Mobilmachung? Diese würde allerdings zu spät erfolgen, denn der Bundesrat würde zuerst eine 14-tägige Vernehmlassung bei den Kantonen durchführen. Während dieser Reflexionsphase hätten die Russen allerdings mittels Cyberangriffen schon längst unsere Stromversorgung lahmgelegt. Der Bundesrat müsste in der Folge eine Doppelkrise bewältigen: Frau Amherd müsste sich um die Flieger kümmern, und Frau Sommaruga, unsere ausgebildete Konzertpianistin, müsste den Blackout managen. Unsere Soldaten wären, bedauerlicherweise, zudem nur bedingt kampftauglich, denn einen Teil der Rekrutenschule hatten sie, wie wir wissen, im Homeoffice absolviert. Und die Nato dürfte uns auch nicht helfen, da die Schweiz a) nicht Clubmitglied ist und b) wir eh neutral bleiben wollen. Im zweiten Weltkrieg hatte der Trick mit der Neutralität doch wunderbar funktioniert – also vielleicht auch heute …?
Doch Waldmeyer wäre nicht Waldmeyer, wenn er für diesen Fall (Russe in Vorarlberg) nicht einen Plan B hätte. Es sollte ein ganz persönlicher Plan B werden. Angesichts einer gewissen Vorlaufzeit (die Anfahrtstrecke durch Ungarn und Österreich darf trotz allem nicht unterschätzt werden), könnte Waldmeyer in Ruhe seinen Fluchtplan aktivieren. Er würde nämlich mit seinem Porsche Cayenne (schwarz, innen auch), beladen mit ein paar Benzinkanistern und anderen nützlichen Dingen direkt nach Rotterdam fahren; dort würde dann die zeitnahe Verschiffung nach Kanada erfolgen. Ja, genau Kanada, weil Kanada erstens genügend weit weg liegt und zweitens, weil Kanada trotzdem etwas europäisch ist. Zumindest europäischer als die USA. Ausserdem würde in den USA die Tachoanzeige seines Fahrzeuges nicht stimmen, rechnen die Amis doch noch in Meilen, Kanada hingegen in Kilometer. Kommt hinzu, dass bereits 40‘000 Auslandschweizer in Kanada leben. Und pro memoria: Erst 1957 hatte der Schweizer Bundesrat konkrete Notfallpläne und Staatsverträge entwickelt, in einem Krisenfall den Sitz von Schweizer Firmen kurzerhand nach Kanada zu verlegen.
Charlotte meinte zu dem Vorarlberg-Szenario nur: „Wir sollten es gar nicht so weit kommen lassen. Wir sollten besser schon heute den Ukrainern richtig helfen. Nicht nur hier bei uns, mit den Flüchtlingen, sondern auch vor Ort!“
Also doch. Charlotte hatte recht, reflektierte Waldmeyer. Die Deutschen gingen wirklich schon früh mit einem guten Beispiel voran, vor allem mit diesen Helmen. Die Schweiz ist allerdings neutral, wir dürfen nichts tun. Wir könnten jedoch den Ukrainern zumindest etwas Neutrales schicken, nicht nur Decken und Medikamente, sondern echte Verteidigungshilfe. Allerdings liegen da nicht einmal „Dual-Use-Güter“ drin, z.B. Pilatus Porter oder Notstrom-Generatoren (zumal letztere Sommaruga selber brauchen würde). Dual-Use-Güter sind bekanntlich Geräte und Produkte, die einerseits zivil verwendet, andererseits auch militärisch „missbraucht“ werden könnten. So wurde kürzlich der Vorschlag, Schutzwesten zu schicken, bereits abgelehnt, denn diese könnten auch einen ukrainischen Soldaten schützen. Es bleiben somit nur wenige Hilfsmaterialien übrig, welche unseren Neutralitätsansprüchen gerecht würden. Selbst ein altes Zelt könnte missbraucht werden, weil hier nicht nur Flüchtlinge, sondern auch ukrainische Kampftruppen reinhocken könnten. Auch ein ebenso altes Funkgerät läge nicht drin, da damit die Übermittlung von Guerillaplänen erfolgen könnte.
„Charlotte, wir sollten vielleicht 100’000 Gamellen schicken. Die haben wir eh bis heute noch nie gebraucht!“
Charlotte antwortete nicht. Sie schaute gebannt auf ihren PC. Waldmeyer blickte ihr über die Schulter und war entsetzt: Kanada!