Waldmeyer und der Strom

Oder: Wie künftig Blackouts vermieden werden

Es ist der 27. Februar 2038. In Waldmeyers Garage steht ein Elektrofahrzeug. Trotzdem wird er heute sein Lastenrad nehmen, um die Einkäufe im Dorf unten in Meisterschwanden zu besorgen. Es ist Teil eines Konzeptes.

Waldmeyers Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) gab es schon lange nicht mehr. Das war weiter nicht tragisch, denn ins Büro nach Zürich musste Waldmeyer seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr. Erstens hatte er die operative Führung seiner Firma schon vor Jahren abgegeben, zweitens hockten eh wieder einmal alle im Homeoffice, Covid-36 grassierte, jetzt schon in der elften Welle. Warum er nun aber im Schneeregen mit dem elektrifizierten (und subventionierten) Lastenrad behände ins Dorf runterschlitterte, hatte einen anderen Grund. Doch alles der Reihe nach.

Blenden wir zurück: Schon in den 20er Jahren hatte es mit den Blackouts begonnen. In ganz Europa wurde ein Grossteil der Kernkraftwerke abgeschaltet, Kohlekraftwerke waren verboten, und der Bedarf an Elektrizität war enorm gestiegen. Auch Rasenmäher waren verboten – soweit sie nicht elektrisch betrieben wurden. Freddy Honegger, Waldmeyers Nachbar, wurde trotzdem einmal verhaftet. Zwar hatte er einen elektrischen Rasenmäher, aber es fehlte ihm das Zertifikat (der Beweis, dass sein Strom vollkommen grün war). 

Die Schweiz hatte zwar vorgesorgt: Mit einem verblüffenden Hauruck-Entscheid hatte sich das Parlament durchgerungen, 29 neue riesige Stauseen in den Alpen anzulegen, verbunden mit Pumpspeicherkraftwerken. 29-mal Grande-Dixence etwa. Diese produzierten allein dreimal so viel Strom wie früher die letzten vier Kernkraftwerke. Der Rückgang der Gletscher hatte sich ab 2026 dermassen akzentuiert, dass es eh keine Rolle mehr spielte, wenn die schroffen und versteckten neuen Täler geflutet wurden. Die Schweiz hatte damit ein geniales neues Geschäftsmodell entwickelt: Das kleine Land konnte zu gewissen Zeiten auch ganz Deutschland mit Strom versorgen. Insbesondere in der Nacht, wenn die Germanen regelmässig in der Dunkelflaute verkümmerten (wenn weder die Solarpanels noch die Windräder Strom produzieren konnten). 

Tagsüber gab es europaweit inzwischen genügend Strom. Insbesondere aus Deutschland. Zwei Prozent der Staatsfläche waren seit 2029 mit Windrädern überzogen, weitere zwei Prozent mit Solarpanels – ein hässlicher Anblick. Insbesondere bei schlechtem Wetter, wenn diese Anlagen nutzlos in der Landschaft rumstanden. Tagsüber und wenn die Sonne schien, konnte der Strom allerdings gar nicht vollständig genutzt werden. Aber genau dann half eben die Eidgenossenschaft: Sie nahm den Strom gratis oder gar zu Negativpreisen ab und pumpte mit dieser Günstig-Energie das Wasser aus dem Unterland wieder in die Stauseen rauf – um es dann bei Bedarf durch die Turbinen runterrauschen zu lassen. Mit dem so erzeugten und sauteuer verkauften Strom konnte sichergestellt werden, dass die Deutschen nachts wenigstens ihre Radwege beleuchten konnten. In der Schweiz selbst versuchte man, nachts möglichst wenig Strom zu verbrauchen – das Geschäftsmodell sah richtigerweise vor, in der Nacht zu sparen und besser von den sehr hohen Exportpreisen zu profitieren.

Aber das war nur die eine Seite des neuen mitteleuropäischen Energiekonzeptes. Branka Jovanovic, die neue Bundesrätin und Energieministerin aus der Genderfraktion, hatte bereits 2031 durchgesetzt, dass Privatverkehr fast nur noch in elektrifizierter Form erlaubt war. Mehr oder weniger auf jedem Parkplatz stand deshalb ein Elektrofahrzeug. Dieses allerdings, so die neue Verordnung, durfte am Tag gar nicht benutzt werden. Denn die Fahrzeugbatterien mussten tagsüber mit dem billigen und zu viel produzierten Solarstrom aufgeladen werden, um in der Nacht dann als Batteriespeicher zu dienen. Die „Fahrzeuge“ waren damit de facto nur noch „bidirektionale“ mobile Batteriespeicher, millionenfach verteilt über das Land. In den Garagen standen allerdings nicht immer Fahrzeuge – den Platz hatte oft eine riesige Hausbatterie eingenommen, so gross wie ein Fahrzeug eben. (Anm. der Red.: „bidirektionale“ Elektrofahrzeuge können sowohl Strom aufnehmen als auch abgeben.)

Nun zurück zu Waldmeyers Fuhrpark. Der Porsche Cayenne war, wie gemeldet, schon lange weg. Waldmeyer mag sich erinnern, wie ihn ein Weissrusse an einem schönen Julitag im Jahre 2024 für den Export abholte. Seither stand ein bidirektionales, charmeloses Gefährt in der Garage in Meisterschwanden. Aber es durfte eben nur nachts bewegt werden, am Tag musste es ja den Solarstrom vom Hausdach (und auch von den Deutschen) übernehmen. Deshalb kam tagsüber nur das Lastenrad zum Einsatz.

Waldmeyer zirkelte also mit seinem schweren Lastenrad und mit steifen Fingern wieder den Hang rauf zu seiner Villa. Den letzten Kilometer musste er keuchend fertig pedalen, die Maske nun am Kinn unten. Die Batterie war alle. Aber nächste Woche sollte das Wetter wieder besser werden, dann könnte er vielleicht auch das Lastenrad wieder aufladen.

Waldmeyer fasste nun einen typischen Managemententscheid: Er beschloss, Einkäufe künftig nur noch nachts zu tätigen. Mit dem blöden Elektroauto eben. Wo auch immer man dann einkaufen konnte. Vielleicht hatte Waldmeyers Frau Charlotte recht, als sie bereits in den 20er Jahren bemerkte, dass in Sachen Energie die Zeichen auf Sturm stehen – und dass ein Strom-Desaster eintreten würde. Waldmeyer wollte damals nicht zuhören. Und ja, jetzt bezahlt er es mit diesem Lastenrad.

Waldmeyer, Pierin und das Lehrstück

Der grösste Schweizer Wirtschaftsprozess seit Jahren fesselte auch Waldmeyer. Schade, gibt es wenig Bilder, denn die Argumentationsketten der Kontrahenten präsentieren sich wie in der Netflix-Serie „Suites“ – nur findet das Ganze hier bei uns in der Schweiz statt! Waldmeyer überlegte, was er daraus lernen könnte.

Der Prozess rund um Pierin Vincenz, ex CEO der Raiffeisenbank, erlaubt es uns, in gewisse Abgründe von systematischen Verfehlungen einzelner Wirtschaftsführer fast persönlich reinzuschauen. Natürlich weiss Waldmeyer, dass das mit Voyeurismus zu tun hat. Aber es ist eben auch ganz informativ. Interessant sind zum Beispiel diese raffinierten Bereicherungen, aber auch die Spesenexzesse, diese vielen Nightclubs, die bizarre Tour de Suisse Pierins durch die Rotlichtlokale.

Ebenso beeindruckend sind die Argumentationen der Angeklagten und ihrer Verteidiger: „Es ist nicht so, wie es aussieht.“ In diesen Füdlibars sitzen nämlich auch potenzielle Raiffeisenkunden, oder: Gewisse Kunden erwarten eben, dass man an solchen Orten Geschäftsabschlüsse tätigt. Nun wissen wir auch, dass bei grossen Banken Bewerbungsgespräche mit auf Tinder rekrutierten Kandidatinnen in feinen Restaurants stattfinden. Auch gut: Die Ehefrau musste den wichtigen CEO auf längeren Flugreisen nur begleiten, weil der wichtige CEO vorübergehend an Sehstörungen litt. Und Australien musste nicht ferienhalber besucht werden, sondern nur, um eine Schalterhalle einer fernen Bank zu studieren. 

Einerseits gemahnten die Ausführungen in diesem Prozess an eine Komödie, andererseits waren sie auch ein Lehrstück in Taktik und Unverfrorenheit. Wie in „Suites“ eben – nur durften wir diesmal hautnah dabei sein!

Pierin seine Freunde konnten aufzeigen, wie einfach und raffiniert es ist, sich frühzeitig für einen Apfel und ein Ei an Firmen zu beteiligen, um diese nachher vom eigenen Arbeitgeber aufkaufen zu lassen. Das ist weder „Korruption“ noch „Betrug“, denn der Käuferin – in diesem Fall der Raiffeisen – ist kaum ein nachweisbarer Schaden entstanden. 

Waldmeyer konstatierte: Gilt es etwas abzustreiten, muss die eigene Darstellung einfach konsequent durchgezogen werden. Ein roter Faden der Stringenz sollte sich durch die Argumente ziehen. „Wir können alles erklären.“ Schon früher hatten wir dies von Donald Trump gelernt, dem Erfinder der „Alternative Facts“. Oder von Putin, der bis heute abstreitet, dass es die Russen waren, die verdeckt in die Krim infiltrierten oder heute konsequent behauptet, Truppen rund um die Ukraine nur zusammenziehen, weil sich Russland von der Nato, hunderte von Kilometern weiter westlich, bedroht fühlt.

Ja, dieser Vincenz zieht die Sache einfach konsequent durch, reflektierte Waldmeyer. Er mag den moralischen Kompass dabei aus den Augen verloren haben, aber schliesslich muss er seine Haut retten, und er macht das wirklich gut, so unbeschwert und souverän. Eines muss man ihm lassen, meinte Waldmeyer: Das ist ein brillanter Verkäufer, mit Stehvermögen, Charisma und Kraft.

Die meisten öffentlichen Prozesse in der Schweiz waren bis heute von Langeweile durchtränkt. Entweder wurde einfach kalt abgestritten, oder die Angeklagten zeigten Reue und kamen so mit einem blauen Auge davon. Pierin Vincenz gebührt deshalb Respekt: Er unterhält uns nicht nur bestens, er könnte, mit seinem Lehrstück, gar einen ganzen Reigen an neuen Prozesskulturen eröffnen! Danke, Pierin, dachte sich Waldmeyer, du bringst endlich etwas mehr Drive und Farbe in unsere Kommunikationskultur. Pierin setzt einen Contrapunkt zu unserem hochanständigen, devoten und mit „Exgüsi“ und „Bissoguet“ gepflasterten helvetischen Habitus. „Also dieser Pierin, der macht das schono guet!“, meldete Waldmeyer aus seinem Eames Chair zu seiner Frau Charlotte rüber. Charlotte antwortete nicht.

Natürlich bleibt da die moralische Verurteilung, welche nichts mit der juristischen Wertung der Causa zu tun hat. Obwohl dieser plakative Prozessvorgang vordergründig doch etwas neu ist für uns (auch weil so offensiv und frech verteidigt wird), ist der Vorgang für die Eidgenossenschaft ziemlich systemimmanent. Es gibt nun einmal viel Filz in unserem kleinen Land. Oft als lauteres Netzwerk getarnt, werden Interessen in unserem Milizsystem oft grosszügig vermischt. Da gibt es eine Vielzahl von übergreifenden Verwaltungsratsposten, kombiniert mit Exekutivämtern in Regierung, Verwaltung und Gesellschaft, da zählen wichtige Seilschaften aus Vereinen, Sport und Armee. Wir lassen uns dabei immer wieder überzeugen, dass das alles nichts mit Interessenkonflikten, geschweige denn mit Korruption zu tun hat.

Aber zurück zu Pierin, unserem neuen Lehrmeister in Sachen angriffiger Kommunikation und Gesprächstaktik: Waldmeyer, der sich angesichts dieses frivolen Schwankes am Gericht fast als Bünzli sah, überlegte sich, was er nun abkupfern könnte. Ja, etwas mehr offensives Verhandlungsgeschick könnte er sich vielleicht aneignen, so beispielsweise bei seinen grossen Kunden in der Firma. Ein bisschen weniger Anstand – dafür eine Note mehr überzeugende Nonchalance. 

Das mit den Füdlibars irritierte Waldmeyer jedoch nach wie vor, seine Erfahrung beschränkte sich diesbezüglich auf ein paar Expeditionen während den militärischen Wiederholungskursen. Vielleicht sollte man da trotzdem wieder mal reinschauen?

„Charlotte, die Verwaltungsratssitzung morgen Abend wird im King’s Club stattfinden. Es werden alle kommen. Ausser Elisabeth, sie hat sich aus persönlichen Gründen entschuldigt.“

Charlotte antwortete, gefühlt binnen einer Millisekunde: „Das trifft sich gut, Max, ich habe hier nämlich unsere Frauentennisrunde eingeladen. Und die Chippendales kommen.“

Für einmal war es Waldmeyer, der nicht antwortete.