Waldmeyers Reisepläne

Oder: Dürfen wir überhaupt noch fliegen?

Waldmeyer versuchte, seine Gedanken in Sachen Energieverbrauch kurz zu synchronisieren. Er stellte einmal mehr fest, dass der Aspekt der Umweltverträglichkeit in Sachen Fliegen zu sehr verpolitisiert wird. Nun wird für ihn das Thema plötzlich hoch-aktuell, da Charlotte und er beschlossen hatten, nach einem optimalen zweiten Lebensmittelpunkt (einem „2.LMP“) Ausschau zu halten. Aber die Sache ist tricky.

Wenn der Ort für ein «Second Home» nämlich zu weit weg zu liegen käme, könnte der ganze Plan unweigerlich zu einem heiklen Umweltthema werden. Waldmeyer wollte sich deshalb Argumente für eine kluge Verteidigungs-Strategie zurechtlegen – denn auch ferne Ziele sollten noch erreicht werden können. Ohne schlechtes Gewissen.

Waldmeyer dachte in der Causa Fliegen nicht zuletzt an seine ältere Schwester Claudia (früh-pensionierte Lehrerin, Otelfingen, SP, Kurzhaarfrisur, lustige farbige Brille, impfkritisch, altes Nokia, fliegt nie). Wie sie wohl reagieren würde, wenn sich die Waldmeyers nun plötzlich zeitweise nach Miami, Dubai oder Bali absetzen würden?

Jeder Flug wird heute als Sündenfall dargestellt. Fakt ist aber, so hatte Waldmeyer recherchiert, dass die Luftfahrt nur für rund 2% des weltweiten CO2-Ausstosses verantwortlich ist. Und die weltweite Digitalisierung produziert aufgrund ihres hohen Stromverbrauches allein so viel CO2 wie der ganze Flugverkehr. Fräulein Thunberg, so Waldmeyers Gedanke, sollte also vielleicht ein bisschen weniger streamen und posten – obwohl er ihr zugutehalten musste, dass es in letzter Zeit angenehm ruhig wurde um sie.

Die USA, China und Indien sind die Hauptverantwortlichen für die weltweite Luftverdreckung – und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für den Klimawandel. Die hiesigen Emissionen dagegen sind Pipifax und völlig unerheblich. Da helfen auch ein paar zusätzliche Lastenräder nicht, die unsere Autos ersetzen sollen.

Echte Sündenfälle finden wir bereits in unserer europäischen Nachbarschaft. Da sind zum Beispiel die Kreuzfahrten und die grossen Frachter. Die dicken Dampfer verbrennen tatsächlich noch schmutzigstes Schweröl, mit einem Verdreckungsgrad, welcher pro Liter Treibstoff 1500-mal höher liegt als der eines modernen Dieselfahrzeuges. 

Ganz schlimm sind auch die polnischen oder die deutschen Kohlekraftwerke. Zum Beispiel Neurath, die grösste deutsche CO2-Schleuder: Sie stösst genau zehnmal mehr Schadstoffe aus als der gesamte Schweizer Luftverkehr – nämlich über 50 Millionen Tonnen pro Jahr. Und das sind die Vorpandemie-Zahlen von 2018 und 2019, als noch tüchtig geflogen wurde. Pikant dabei ist ebenso, dass auch die Schweiz einen Teil dieses Dreckstroms aus Deutschland bezieht (Anm. der Redaktion: Die Schweiz importiert im Winter rund 40% ihres gesamten Strombedarfs). Die kontaminierte elektrische Energie wird anschliessend hier in unser Netz eingespeist, und Claudia, Waldmeyers Schwester, verbraucht dann vermutlich genau diesen schmutzigen Strom mit ihrem E-Bike. Vermutlich wird der Saft indessen vorher noch „gewaschen“: In der Nacht bezieht Helvetien bekanntlich billigen Überstrom aus diesen Kohle-Dreckschleudern, pumpt damit Wasser wieder in die Stauseen hoch und produziert am Tag darauf sauberen Stauwasser-Strom. Spätestens dann kommt Claudias E-Bike in den Genuss dieser cleanen, weil „gewaschenen“ Energie. Claudia hat bei ihrem Stromanbieter – in einer kafkaesken Entscheidungsfindung sozusagen – «grünen» Strom abonniert und bezahlt deshalb gerne ein bisschen mehr. Die Axpo hat Freude, der CEO von Neurath wird sich totlachen, und die Polen klatschen sich auf die Schenkel.

Waldmeyer versuchte ein Fazit zu formulieren: Im Vergleich zum Strombezug aus einem schmutzigen Kraftwerk oder dem Verzehr eines brasilianischen Steaks könnte Fliegen vielleicht doch nur ein Gentleman‘s-Delikt sein!?

Waldmeyer amüsierte sich zudem über eine interessante wissenschaftliche Abhandlung: Sogar der Entscheid, Kinder zu kriegen ist letztlich ein CO2-Entscheid! Jeder zusätzliche Mensch auf der Erde wird unsere Ressourcen- und Klimaprobleme vergrössern. Fünf Flüge im Jahr zu einem etwas weiter entfernt liegenden zweiten Ort, so rechnete Waldmeyer, würden jährlich dreimal weniger CO2 verbrauchen als ein einzelnes Kind. Ohne die täglichen Fahrten des Zöglings zur Schule gerechnet, welche die Mutter am Zürichberg mit dem SUV zurücklegen würde. Es stünde also 1 Kind in Konkurrenz zu 3 zusätzlichen fernen Second Homes, die es mit je 5 Flügen jährlich zu erreichen gälte – total also 15 Flüge. Contra 1 Kind eben.

Aber sollten wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen und allenfalls dieses komische Lastenrad anschaffen? Nun, damit würden wir bestimmt einen Chinesen in Shanghai oder einen Inder in Mumbai beeindrucken. Letzterer müht sich übrigens mit einem Lastenrad ab und träumt von einem SUV.

Waldmeyer ist sich absolut bewusst, dass seine arithmetischen Gedankenspiele heikel sind. Auch liegen seine Kinderentscheide schon weit zurück. Und er weiss durchaus, dass gewisse CO2-Vergleiche mitunter politisch nicht korrekt sind. Aber so sind eben die Fakten. Er darf also seine nächsten Flüge beruhigt buchen und auch seine Suche in Sachen Second Home ohne schlechtes Gewissen fortsetzen.

Allerdings behält Waldmeyer alle diese Gedanken vorerst mal für sich. Vor allem wird er seiner Schwester Claudia nichts davon erzählen. Es sind alles nur Reserve-Argumente.

Max Waldmeyer fährt 2034 nach Zürich

Meisterschwanden, November 2034. „Halleluja, wir haben einen Slot!“, jubilierte Charlotte und schaute von ihrer Tablet-Folie auf. Auch Max war erleichtert, hatten sie doch seit über 14 Tagen auf diese Nachricht gewartet. Es war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, als Individuum einfach so mal nach Zürich reinzufahren. Und was einen dann in der Stadt selbst erwartete, war auch nicht lustig. Aber dazu später.

Einiges hatte sich gewandelt in den letzten Jahren, vor allem in den grossen Städten. Und vor allem in Zürich. Die meisten Strassen in der City waren nun Grünflächen. Auch Dachgärten mussten begrünt werden (und sie mussten für alle frei begehbar sein). Selbst Baucontainer mussten bepflanzt werden – wenn es auch nur sehr wenige waren, denn gebaut wurde eigentlich kaum mehr.

Die Grün-Grün-Rot-Rote-Alternative-Regierung hatte einiges erreicht. Auch in ihrer Zusammensetzung, mussten doch seit 2028 – per Gesetz – alle LBGTQ+ Ausprägungen bei der Regierungszusammensetzung berücksichtigt werden. Gleichzeitig wurden übrigens alle Strassennamen „feminisiert“. Nur noch die weibliche Form der Namen war erlaubt – eine weitere Errungenschaft der aufgeschlossenen neuen Politiker-Generation. Die Gärtnerstrasse hiess nun „Gärtnerinnenstrasse“. Das führte nicht zuletzt zu einigen Komplikationen bei Google Maps.

In der Stadt durfte man sich, wenn nicht zu Fuss oder mit dem Fahrrad, nur noch elektrisch fortbewegen. Oder mit negativem CO2-Wert. Verbrennerfahrzeuge durften also nur verkehren, wenn sie CO2 vernichteten – es mussten quasi rollende Bäume sein. Und weil es dies noch nicht gab, durften diese Autos ganz einfach nicht mehr bewegt werden. 

Waldmeyer freute sich trotzdem auf den Abstecher nach Zürich. Er hätte ab Meisterschwanden natürlich erst den Bus, anschliessend die Bahn wählen können. Als alternder Individualist hatte er jedoch Mühe mit dieser Option und zog es vor, lieber als Automobilist zu leiden. 

Der Slot hatte extra gekostet, also galt es nun, diesen sofort zu nutzen. Max und Charlotte enterten also sofort ihren neuen Genesis E-4-u (Anm. der Redaktion betreffend Aussprache: „i-for-you“) und setzten sich in die veganen Sitze (Anm. der Redaktion: Ledersitze waren seit einigen Jahren nicht mehr sozialverträglich).

Das mit dem autonomen Fahren funktionierte immer noch nicht. Und wenn, dann nur auf den grossen Hauptachsen und nicht, wenn Schnee auf der Strasse lag. Im Moment war Schneeregen angesagt. Waldmeyer freute sich, denn so durfte er sich selbst ans Steuer setzen.

Beim Stadteingang wurde die Geschwindigkeit des Genesis abrupt und automatisch auf 20 km/h reduziert. Das war ganz praktisch, so musste man nicht mehr auf das Einhalten der Maximalgeschwindigkeit achten.

Bereits 2022 hatte es mit einer 30 km/h Limite begonnen, ab 2030 waren es nur noch 20 km/h.  Mila Perica, die neue Stadtpräsidentin aus der LBGTQ-Fraktion (serbisch, eingebürgert, Queer, platinblondes Kurzhaar, ausgebildete Traumatherapeutin) sprach bereits von einer weiteren Reduktion zwecks Verkehrsberuhigung. 

Es gab nicht viel Verkehr auf der Strasse. Der Grund lag unter anderem auch in der neuen Besteuerung seit 2030. Die Idee des Eigenmietwertes wurde im Kanton Zürich nämlich auf Privatfahrzeuge ausgedehnt: Nun wurde auch der Besitz eines Verkehrsmittels (ab vier Rädern) extra besteuert.

Die Begründungen für die drastischen Verkehrsmassnahmen in der Stadt waren vielfältig. Ursprünglich ging es nur um die Reduktion des Verkehrsvolumens. Dann ums Klima. Mit den Elektrofahrzeugen sublimierte sich dieses Argument allerdings schon bald, zumindest vordergründig. Also ging es nur noch um den Lärm. Dieser letzte Ansatz war insofern besonders anspruchsvoll, als dass Elektrofahrzeuge den Lärmpegel in den Strassen bereits deutlich reduzierten. Nun waren sie indessen viel zu leise, sodass sie mit einem künstlichen erzeugten Lärm (oder Sound, auch Musik war erlaubt) versehen werden mussten, um von den Fussgängern nicht überhört zu werden. Waldmeyer hatte aus dem Sound-Generator, über den nun jedes Fahrzeug obligatorisch verfügen musste, „Highway to Hell“ von AC/DC gewählt, Charlotte programmierte jeweils „As slow as possible“ (es handelte sich um das langsamste Musikstück der Welt, von John Cage). 

Dass der Klimawandel ein globales und nicht ein lokales Phänomen ist, wurde von der Politik seit Jahren schlichtweg negiert. Mikro-Management war angesagt. Das Outsourcing von CO2 war jetzt – aus dieser verkürzten Sicht – insofern erfolgreich, als dass die Umweltverschmutzung und der Klimawandel nun zum grossen Teil im Ausland stattfanden. Gebaut und entsorgt wurden Autos und Batterien ja nicht im eigenen Land. Und auch ein grosser Teil der Energie, insbesondere im Winter, kam aus dem Ausland – oft aus CO2-Dreckschleudern wie Kohlekraftwerken, die mangels anderer Energieproduktion immer noch nicht abgestellt wurden. Die Luftsäule über der Schweiz (und insbesondere über vielen grossen Städten) blieb so selbstredend vollkommen rein!

Parkplätze gab es fast keine mehr in der Stadt, fast alle waren abgebaut worden. Oberirdisch wurden sie in Grünflächen konvertiert, die Parkhäuser indessen wurden seit Ende der 20er Jahre als Asylantenheime oder LGBTQ-Begegnungsstätten genutzt.

Max lud Charlotte also verbotenerweise an einer Bushaltestelle im Schneeregen ab und drehte ein paar Kurven, bis Charlotte mit offline Einkaufen fertig war. Der Schneeregen war übrigens eine glückliche Fügung, denn so konnte man sich einigermassen flüssig auf den schmalen Fahrspuren bewegen. Bei gutem Wetter waren diese nämlich meistens von Demonstrierenden und Sit-ins belegt, unter die sich auch regelmässig Exekutivpolitiker mischten. 

Nun gab es einen Fahrerwechsel: Jetzt durfte Max mal offline. Und nach zwei Stunden schlichen sie mit ihrem Langsamgefährt wieder aus der Stadt.

Unterwegs wurden sie erst von einem Pulk aus Lastenrädern überholt, dann noch von ein paar Joggern. Einer war besonders schnell – es musste sich wohl um einen Typen wie Kylian Mbappé handeln (französischer Fussballstürmer 2020/2021, welcher bis zu 35 km/h schnell sprinten konnte). 

Während der Heimfahrt kramte Charlotte an der Stadtgrenze ihre etwas zerknitterte Tablet-Folie aus der Handtasche und überprüfte die Abrechnung für das Roadpricing: CHF 27.50 für den Slot waren bereits direkt von Bankkonto abgebucht worden. Das war soweit ok, schliesslich hatten beide Geld gespart beim Einkaufen – beide hatten nämlich gar nichts gekauft. Charlotte hätte das Geschäft von Grieder so oder so nicht gut erreichen können, da die Magerwiese vor dem Lokal klitschnass war und sie ihre Sneakers aus Recyclingmaterial schonen wollte. Und Max hatte keine Lust, mit den sechs Flaschen Terre Brune in der Jutentasche durch die Stadt zu stapfen und dann irgendwo zu warten, bis die Schleifen ziehende Charlotte mit dem Genesis vorbeischlich – also hatte er den Wein stehen lassen.

„Offline ist für mich gestorben“, brüllte Max zu Charlotte rüber (er versuchte, das etwas zu laute „Highway to Hell“ zu übertönen). Beide beschlossen, ihre Sachen künftig nur noch online zu bestellen. Dann würde eben der schwere Transporter bei ihnen in Meisterschwanden vorfahren. Vielleicht mehr als einmal im Tag, denn Amazon, Alibaba, etc. kamen nach wie vor für jeden Artikel einzeln vorbei. Das war zumindest ganz abwechslungsreich.

Immerhin hatte man in Zürich nun den Klimawandel aufgehalten und die Stadt endlich beruhigt.

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