Max Waldmeyer studiert effizientere Gastronomie

Auf seinen vielen Explorationsreisen studiert Waldmeyer nicht nur Land und Leute, sondern immer auch die Gastronomie. So auch kürzlich in Lissabon. Die Küche Portugals hat bekanntlich keinen Blumentopf gewonnen; die Portugiesen können allerdings auch nichts dafür, denn wie sollten sie mediterran kochen, wenn sie gar nicht am Mittelmeer, sondern am rauen Atlantik leben. Waldmeyer berichtet heute von einem gastronomischen Schlüsselerlebnis.

Es muss wohl seltsame Gründe geben, warum in Portugal vor allem deftige Eintöpfe serviert werden. Waldmeyer kennt für solche Fälle jedoch ein Ausweichmanöver: Man muss sich einfach an die Früchte des Meeres halten – da kann weniger schiefgehen. So kam Waldmeyer im Juni 2021 auch zu einer einschneidenden Erfahrung im Restaurant Ramiro in Lissabon:

Also dieses Restaurant Ramiro ist ein angesagter und traditioneller Ort, bekannt insbesondere für seine frischen Fische, Muscheln und andere feinen Früchte des Meeres. 

Vergiss die Reservation: Telefonanrufe nimmt zwar ein wie ein Maschinengewehr artikulierender Portugiese entgegen, jedoch keinerlei Reservationen. Das Maschinengewehr empfiehlt dir, optional doch por favor eine E-mail zu schreiben. Diese E-Mail wird jedoch selbstredend nie ankommen oder nie beantwortet werden.


Max und Charlotte fuhren also besser gleich hin, schon frühzeitig. Dort standen bereits Einheimische und Touris Schlange, bis auf die Strasse hinaus. Irgendwann wies die schlecht angezogene deutsche Dame aus dem Ruhrgebiet, ebenso wartend, Waldmeyer an, er solle jetzt doch bitte eine Nummer ziehen zum Anstehen. Also zog Waldmeyer eine Nummer. Und nun das Geniale: Die Nummer wird nicht sequenziell vergeben. Das heisst, die vierstellige Zahl, 1892 im Falle Waldmeyers, hat nichts mit irgendeiner Abfolge zu tun. Man darf also warten und an der offenen Bar draussen erst einmal konsumieren und aufmerksam den Zahlen horchen. Diese werden in drei Sprachen per Zufallsgenerator mittels plärrendem Lautsprecher ausgerufen.

Dann, vielleicht zwei Cervejas später, so nach einer guten halben Stunde, wurde plötzlich „1892“ ausgerufen und die Waldmeyers durften ins Restaurant reinhetzen. Ein durchschwitzter Kellner mit glänzender schwarzer Sonntagshose prügelte sie in den dritten Stock. Dort wieselte und schrie es nur so rum. Sie wurden in einen der hässlichen Räume (Neonlicht) gescheucht. Glänzende Hose Nummer 2 machte auf Tempo: schnell, schnell den QR-Code einscannen für das Online-Menü. Die Hose gab ihnen gefühlt acht Sekunden Zeit, dann entriss sie Charlotte das Handy und bestellte mehr oder weniger für beide. Inzwischen lag schon das Knoblauchbrot auf dem Tisch (glänzende Hose Nummer 3), 30 Sekunden später bringt Hose Nummer 4 das Mineralwasser und tippt ungefragt eine Weinbestellung in sein speckiges Smartphone (eigentlich wollte Waldmeyer erst einmal nur die Weinkarte für die Wahl des „Vinho Tinto“ verlangen, wie er aus seiner Sicht akzentfrei kommunizierte). Es gibt allerdings nur ganze oder halbe Flaschen in dem Lokal, auch keine Auswahl, und so wuchtete glänzende Hose Nummer 5 beim Vorbeihetzen ungefragt eine Flasche auf den Tisch. Klar, «by the glass» wäre zu umständlich, der Aufwand zum Aus- und Nachschenken und das Management zum Verwalten der Flaschen wäre zu aufwendig. Jetzt war Waldmeyer doch langsam beeindruckt. An Effizienz fehlte es hier offenbar nicht.

Zwei Minuten später, Waldmeyers hatten kaum das Knoblauchbrot runtergewürgt, waren bereits alle Gerichte auf dem Tisch. Es gab nur Meeresfrüchte, keine blöden Beilagen oder Vorspeisen. 15 Gerichte standen zur Auswahl – fertig. Von Muscheln über Langusten bis zu einer knappen, aber ganz gelungenen Fischauswahl. Max und Charlotte hatten vier Positionen bestellt. „Bei 15 Gerichten gibt es beim vierten Besuch dann wieder das Gleiche“, rechnete Waldmeyer scharf vor. 

Nebenan waren die Japaner schon fertig, es waren ja bereits 25 Minuten verstrichen. Der Tisch konnte neu besetzt werden, die nächsten Gäste wurden reingeprügelt: Es waren Einheimische, offenbar Stammgäste, denn sie bestellen noch beim Hinsetzen, und nach 30 Sekunden standen auch wieder die Getränke auf dem Tisch. Die Bestellung hatte glänzende Hose Nummer 2 vorher bereits nach hinten geschrien. Nach zwei Minuten wurde gegessen.

Waldmeyers Fazit: Das Essen war gut im Ramiro, wenn auch nicht hervorragend. Einfach frisch und gut. Die Muscheln waren sogar sehr gut. Die Hosen rannten immer noch weiter um die Waldmeyers rum, begannen unverzüglich mit dem Abtragen und verbreiteten weiter Krisenstimmung.
Waldmeyer schätzte, dass die Tische mindestens zehnmal pro Tag verkauft werden. Es gibt etwa je fünf büroartige Räume (mit scheusslichem Dekor) auf drei Stockwerken, rund zehn glänzende Hosen pro Stockwerk. Charlotte unterbrach Waldmeyer beim Rechnen, sodass er den Jahresumsatz und die Rentabilität nicht abschliessend eruieren konnte. 

Indem Waldmeyer von den leckeren Muscheln nachbestellt hatte, konnte er seinen Besuch etwas in die Länge ziehen (48 Minuten Aufenthaltszeit total). Allerdings war er in der Folge dermassen erschöpft, dass er froh war, dieses Tollhaus raschmöglichst verlassen zu können. Beim Rausgehen erwischte er den falschen Ausgang und konnte plötzlich in die Küche reinspähen: eine ganze Brigade! Aber nur Chinesen, die durcheinanderwuselten und sich Befehle zuschrien.

Waldmeyer war mehr als beeindruckt. Aber das alles war auch ein Rätsel. Denn die Portugiesen sind ja betont introvertiert, schwermütig und bedächtig – wenn nicht langsam. Sie hören Fado und denken dabei (vermutlich) an Selbstmord. Effizienz und Geschwindigkeit sind ihnen fremd. Wie ist es möglich, dass so etwas gerade hier – in Lissabon – funktioniert…? Merkwürdig. Und warum war das Lokal immer voll?

Waldmeyer überlegte sich, was man daraus lernen könnte. Was er gesehen hatte, war nicht Fast Food. Es war auch kein normales Spezialitätenrestaurant. Es war ein Hybrid. Efficient Food? Auf jeden Fall sehr erfolgreich – und ökonomisch wohl besser als die Staatsdefizite, die Portugal jedes Jahr produziert.

Waldmeyer überlegte weiter, wie lange es jeweils ging, bis er in der Kronenhalle in Zürich die Menükarte erhielt, wann er endlich bestellen konnte, wann und wie denn der komplizierte „Wagen“ vorbeigeschoben wurde mit dem nicht immer saftigen Kalbsbraten. Ob man hier vielleicht auch etwas nachhelfen sollte? Leider konnte er darüber nicht mehr mit dem 2005 verstorbenen Gustav Zumsteg sprechen, heute gehört das Restaurant einer Stiftung.

Auf der Heimfahrt in dem verlotterten Taxi meinte Waldmeyer zu Charlotte: „Ich werde nächste Woche mit dem Stiftungsrat der Kronenhalle zusammensitzen“. „Bitte nicht, Max!“, stöhnte Charlotte.

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