Waldmeyer, die Briefpost und die inverse Nachfragekurve

Charlotte, kennst du Roberto Cirillo?“, fragte Waldmeyer seine Frau.
„Du meinst den Designer?“

„Nein, den Postchef. Er ist von Beruf Monopolist und erhöht jetzt die Briefpost-Tarife, obwohl keine Sau mehr Briefe verschicken möchte.“

Charlotte hörte bereits nicht mehr zu, als Waldmeyer ihr das Geheimnis der Preis-/Mengenkurve näherbringen wollte. Er tat dies zuerst anhand des Schweizer Taximarktes: Kein Mensch fährt mehr Taxi in der Schweiz. Ausser in einer Notlage. Die Taxipreise in Zürich sind inzwischen die höchsten weltweit; Tokyo, London oder Beverly Hills sind günstiger. Das war nicht immer so. Aber als die Preise (vor Jahren schon) stiegen, wurde plötzlich weniger Taxi gefahren. Und um den Umsatzrückgang zu kompensieren, beschlossen die mit staatlichem Sukkurs kartellmässig organisierten Taxiunternehmer, einfach die Preise zu erhöhen. Heute sieht man nur noch selten Taxis auf der Strasse. In der Regel stehen sie und warten. Alle Taxifahrer könnten während den kumulierten Wartezeiten in ihren Fahrzeugen locker ein Physikstudium bewältigen. Sie tun es indessen nicht, sondern, wenn sie nicht gerade rauchen, warten sie einfach. Für Waldmeyer stellt dies die Inkarnation einer betriebswirtschaftlichen Ineffizienz dar, denn Mensch und Maschine liegen brach.

Nun aber zurück zur Post: Seit dem Jahr 2000 ging die Briefpostmenge um fast die Hälfte zurück. Das liegt unter anderem daran, so überlegte Waldmeyer, dass ältere Menschen, die früher noch Postkarten schrieben, jetzt wegsterben.

Nun werden also zehn Rappen mehr verlangt für einen  A-Post-Brief. Sollten wir also alle doch besser definitiv umsteigen auf Mail-Korrespondenz? So oder so: Wieso soll man abends noch mit dem SUV zum Briefkasten fahren und dort einen Brief einwerfen, der trotz A-Post am nächsten Tag nicht ankommt? Schneller, kostengünstiger und umweltschonender geht’s in der Tat per Mail – natürlich. Selbst, wenn es eine Rechnung ist. Die Online-Anbieter machen es vor.

Im ersten Semester Volkswirtschaftslehre durfte Waldmeyer allerlei Basics studieren. So der Trick mit dem Angebot und der Nachfrage, auch die Korrelation von Preis und Menge. Steigt der Preis, geht logischerweise das Verkaufsvolumen zurück. Keine neue Erkenntnis, aber die Makroökonomie versteht es, dies kompliziert darzustellen.

Für Leser, die vielleicht nur humanistisch gebildet sind und nicht durch das Stahlbad einer betriebs- oder volkswirtschaftlichen Schulung gingen: Nun gibt es Güter, die kaum preissensibel sind. Wir duschen z.B. kaum weniger lang, wenn der Wasserpreis etwas steigt. Oder wir tanken immer noch voll, obwohl der Benzinpreis um 10 oder 20% gestiegen ist. Und nun dieses besondere Phänomen der inversen Nachfragekurve: Es beschreibt Güter, deren Preis/Menge sich invers zu jeder Logik verhält. Wenn der Preis erhöht wird, steigt ihre Nachfrage! Bei Louis Vuitton beispielsweise ist das so, bei diesen Plastiktäschchen. Wenn man das geschafft hat, ist man im Olymp des Marketings angekommen. Ja, das ist dann gekonntes Branding. Wenn der Preis für das Täschli sinken würde – z.B. um 95%, also nahe an den Produktionspreis in Fernost (von vermutlich 5% des Endverkaufspreises), dann würde kein Hahn mehr nach den Plastikteilen krähen. Also merke: Auf keinen Fall den Preis senken, wenn das Produkt hip ist!

Nun wieder zurück zur Briefpost: Warum wird denn nun der Preis erhöht, obwohl die Nachfrage zurückgeht? Und warum gerade jetzt, wo der ehemalige Gewerkschafter und SP-Protagonist Daniel Levrat Verwaltungsratspräsident der Post geworden ist? Nun gut, er kam ja auch wie die Jungfrau zum Kind zu diesem Job, und vielleicht hat er sich mit dem Designer (Cirillo) noch nicht abgesprochen. Vielleicht kam ja sein B-Post-Brief an ihn noch nicht an. Waldmeyer überlegte: Ist ein Brief vielleicht keine profane Taxifahrt, sondern etwas Hippes? Wird der Preis nun erhöht, damit mehr Briefe verschickt werden? Vielleicht unterschätzen wir den Cirillo? Vielleicht hat er einen Geheimplan? Einer mit der inversen Nachfragekurve vielleicht: Briefe verschicken wird bald so cool, dass wir bereit sind, noch mehr dafür zu bezahlen. Ja, und dann würden wir auch wieder mehr Briefe schreiben, klar. Dieser Cirillo, das ist vielleicht der neue Hayek der Post, ein ganz schlauer Hund!

Waldmeyer im Urlaub: Glück ist relativ

Max Waldmeyer sass in einer Strandbar in Südspanien. Die heissen dort Chiringuitto und servieren auch Tapas und gegrillten Fisch. Seltsamerweise bieten alle haargenau dasselbe Menu an. Waldmeyer verglich es mit den Märkten in Afrika und Fernost: Der USP fehlt eben, also die „unique selling proposition“ – das „Alleinstellungsmerkmal“, wie unsere deutschen Nachbarn zu formulieren pflegen. Bei den Chiringuittos handelt es sich offenbar um eine besonders raffinierte und bewusste Absprache, vielleicht sogar um ein Kartell. Waldmeyer war es egal. Er schaute raus aufs Meer. Weit draussen lag eine grosse Yacht.

Der Co-Founder von Microsoft, Paul Allen, starb bereits 2017. Aber nun lag seine Yacht dort draussen vor Anker. Heute gehört das opulente Schiff, so recherchierte Waldmeyer, einer gewissen Jody Allen. Vielleicht die Witwe? Oder eine Tochter? Oder eine Schwester? Die Schwester erinnerte eher an eine Handarbeitslehrerin, so hatte Waldmeyer ergoogelt. Konnte das sein…? Auf jeden Fall vergnügte man sich dort draussen mit seinem Erbe.

Yachten sind nicht nur teuer, sie kosten auch sau-viel im Unterhalt. Für Betrieb und Unterhalt muss man mit jährlich 10% des Anschaffungswertes rechnen. Crew, Küche, Treibstoff, Gebühren – alles kostet ein Vermögen. Teuer sind auch die Ankerplätze in den Häfen. Wohl darum lag die Octopus jetzt etwas ausserhalb – ganz einfach um Kosten zu sparen? Die Octopus verfügt wohl deshalb über ein 12 m langes Schnellboot, mit dem man den nahen Hafen zügig erreichen kann. Damit kann die Crew locker und elegant an die Uferpromenade gelangen, um dort, nur zum Beispiel, eine Auswahl von Plastiktäschchen von Louis Vuitton zu kaufen, an welchen man sich dann auf der Octopus, inzwischen durchtränkt mit Langeweile, ergötzen könnte.

„Wieso haben wir uns nie ein Boot zugelegt?“, meinte Max zu Charlotte.

„Es reicht, Kinder zu haben. Und ein Schiff ist wie ein Pferd: Es braucht immense Betreuung.“

Stimmt, dachte Waldmeyer und studierte nochmals an den 10% rum. Die Octopus kostet 200 Mio USD, also kommt der Spass auf 20 Mio jährlich zu stehen. Da sind selbst Kinder günstiger.

Und noch etwas erkannte Waldmeyer: Man kann zwar mit einer teuren Rolex oder einem Rolls Royce Cabriolet ein Statement gegen aussen abgeben und so vorführen, dass man vermögend ist. Oder man lacht sich eine teure und repräsentative Villa an, die dann womöglich noch in einer Illustrierten mit einer Homestory gepostet wird. Möchte man indessen so richtig markieren und darstellen, dass man sich in der obersten Liga befindet, so wird die Luft dünn. Da braucht es dann schon einen Privatjet – mit dem Nachteil allerdings, dass man den fast nie vorführen kann. Die intrinsischen Gewinne in Sachen Image sublimieren sich dann quasi in der Luft. Die fette Yacht indessen ist das ultimative Statement. Denn die kann man zeigen, an allen wichtigen Hotspots auf der Erde. Falls man nicht von immer willkommenen Paparazzis abgelichtet wird, würde man notfalls an der Uferpromenade in Cannes oder St. Tropez ankern und an Deck (dieses gegen die Promenade gewandt) ostentativ ein Glas Dom Pérignon schlürfen, um wenigstens so gesehen zu werden.

Mit der App „MarineTraffic“, so entdeckte Waldmeyer, lässt sich übrigens bestens eruieren, über welche Daten jede Yacht verfügt. Dann kann man weitergooglen und entdeckt mit einigem Glück, wer der Eigner der Yacht ist. Oder eben die Eignerin – wie im Falle der Octopus. Ganz praktisch.  

Das Bier, welches Waldmeyer souverän mit „una caña por favor“ bestellt hatte, kostete nur 2 Euro. Charlotte schlürfte einen hervorragenden trockenen Cava: 4.50 Euro.

Und gleichzeitig konnte man – gratis – diese Yachten konsumieren, mittels MarineTraffic. Die Octopus weist eine Länge von 126 Metern auf, hat 38 Angestellte, zwei Helilandeplätze, ein U-Boot und eben dieses Louis Vuitton-Beiboot. In dieser Kategorie muss man mit 1.5 Mio USD pro Meter Schiffslänge kalkulieren. Die 200 Millionen USD konnten also stimmen. 

Charlotte sah blendend aus. Braungebrannt und schlank blinzelte sie gegen die Sonne, genoss ihren Cava und war ganz relaxed. Ja, fast zutraulich und heute weniger bissig als sonst. Die Nachbestellung der dritten Caña liess sie kommentarlos durchgehen – einfach so.

„Nöd gschenkt“, meinte Waldmeyer. Er meinte natürlich nicht die Caña, sondern die Octopus. Was für eine Erleichterung, dass Waldmeyer keine solche Yacht besass!

„Und wenn‘s stürmt, hängst du kotzend an der Reeling und verfluchst die 200 Mio. Dann noch lieber ein Pferd“, analysierte Waldmeyer weiter. Das leuchtete auch Charlotte ein, sie konstatierte jedoch: „Auch Meisterschwanden ist schön – zumindest im Sommer. Wieso sind wir jetzt nicht zuhause?“

„Erstens kostet dann eine Stange Bier 6 und ein Cüpli 18 Franken. Und zweitens schafft es Paul Allans Yacht nicht bis zum Hallwilersee – und wir könnten uns nicht über diesen Kahn amüsieren!“

Ja, schön, besass Waldmeyer keine eigene 200-Millionen-Dollar-Yacht. Manchmal ist Nicht-Besitz attraktiver. Und ja, Glück ist relativ, dachte sich Waldmeyer und war zufrieden über seine Erkenntnis. Er winkte dem Kellner und wollte erst ein beiläufiges „la cuenta por favor“ lancieren. Er besann sich im letzten Moment anders: „Una caña más, por favor!“