Oder die Grenzen der Smart Society, Teil III
Waldmeyer hatte gefühlt schon mehrmals ein digitales Nahtod-Erlebnis. Es stellte sich genau dann ein, wenn er mit den Logins nicht weiterkam, die QR-Codes nicht funktionierten, er nach Passwörtern suchte und Stunden am PC verlor, um die einfachsten Dinge des täglichen Lebens zu verrichten. Oder mit der Robo-Tante am Telefon nicht weiterkam und in irgendeiner Schlaufe verkümmerte. Es war dann, wenn er jeweils schreiend in den Garten hinausstürzte und sich am liebsten im Hallwilersee ertränkt hätte. Aber jetzt zeigte sich ein Lichtblick: Die neue Digitalbank schien personalisiert zu sein!
Die Digitalisierung von allerlei nützen und unnützen Tätigkeiten wird sich beschleunigen, ohne Frage. Sie wird leider auch vor Waldmeyer nicht haltmachen. Gewisse Dinge sind heute ja ganz praktisch. Im Tre Fratelli z.B. konnte Waldmeyer so seinen Lieblingstisch mit ein paar wenigen Wischs über sein Smartphone reservieren – bisher musste er oft minutenlang am Telefon warten, bis Luigis Frau endlich den Hörer abnahm und ihm dann nicht genau sagen konnte, ob sein Tisch dann wirklich frei sein würde (tavola no. 11).
Allerdings war die Entpersonalisierung von all diesen digitalisierten Tätigkeiten mit Händen zu greifen. Man war oft lost in space, zusehends entseelt, ein alleine gelassener Mensch mit der Maschine.
Die Banken hatten das durchaus erkannt und versuchten nun seit 2022 Gegensteuer zu geben. Man schlug den Kunden vor, zu einer aktiven Digitalbank zu wechseln. Dort ist dann eben das ganze Banking digitalisiert, aber – und das war der Trick – man holte den Kunden trotzdem persönlich ab. „Personal Communication Modem“ lautete das interne geheime Programm. Für viele neue Mitarbeiter ganz neu und ungewöhnlich: einem echten Kunden tatsächlich in Fleisch und Blut gegenüberzustehen. Die biederen oder pseudo-modernen Schalterhallen wurden dafür kurzerhand, und zwar flächendeckend, in diese coolen Cyber-Begegnungsstätten umgebaut. Das neue Konzept funktionierte natürlich nicht richtig.
Waldmeyer wusste das jedoch noch nicht und entschied sich etwas blauäugig, zu dieser neuen komischen Form des Bankwesens zu wechseln. Er entschied so, zumal er gar keine andere Wahl hatte, denn seine Bank zwangswechselte ihn quasi zu dieser seltsamen Digitalbank, weil sie sich selber dieser komplett digitalen Mutation unterzogen hatte.
Das Exotische an den neuen Digitalbanken war nun, dass man sich eben trotz allem physisch mit Bankangestellten treffen konnte. Das war selbstredend ein ganz raffinierter psychologischer Marketing-Schachzug.
Max Waldmeyer trat also, es war Dienstag, der 14. März 2023 um 10:45, in diesen coolen „Schalterraum“ ein, der eigentlich so eine Mischung zwischen Cyberraum und einer Bar war. „Schön, dich wieder mal zu sehen, Max!“, flötete Svetlana ihm entgegen. Sie sass mit ihrem kurzen Rock und den braun gebrannten Beinen in der an die Bar grenzenden Lounge, warf gekonnt ihr blondes Haar nach hinten, sodass ihr nicht unvorteilhaftes Décolleté ziemlich plakativ zur Geltung kam und wartete offenbar nur auf Waldmeyer. Natürlich war es nicht so, dass Svetlana den Waldmeyer erkannt hätte – aber beim Passieren der elektronischen Tür hatte das System „Max Waldmeyer 1965“ sofort gescannt. Und Waldmeyer hatte sich natürlich vorher schon eingeloggt, er hatte einen elektronischen Slot erhalten und war nun pünktlich 10:45 zur Stelle.
Waldmeyer war etwas verwirrt. Er hatte erwartet, dass man ihn zu einer Chesterfield-Lounge führt und ein gepflegter Banker würde ihm einen Single Malt offerieren. So hätte er sich gerne in der Zielgruppe gesehen. Offenbar definierte die neue Bank Waldmeyer nun neu?
Rodrigo war auch da. Früher hätte man ihn Schalterbeamten genannt. Aber seit dem flächenweiten Umbau der Schalterhallen in Cyber-Begegnungstätten war Rodrigo ein Banking Communicator. Es war wohl ein neuer Beruf. Rodrigo trug einen ziemlich engen hellblauen Anzug, die Hosenbeine reichten bis zur Wade und betonten so die weissen Sneakers, in denen seine nackten Füsse steckten. Unter dem knappen Veston trug er ein geschmackvolles Rippenleibchen, über welchem ein ebenso geschmackvolles Tattoo auf der Brust rausblitzte. Rodrigo lachte ihm entgegen: „Tschau Max, schön dich wieder zu sehen! Deine UBS-Aktien bewegen sich ein bisschen, super!“ Waldmeyer staunte, denn er hatte Rodrigo noch nie gesehen! Aber Rodrigo hatte offenbar gute Vorarbeit geleistet und sein Portfolio bereits studiert.
Das DU, das man Max entgegenschleuderte, war im ersten Moment etwas komisch, aber in der digitalen Welt ist das durchaus Standard. Wir sind ja eine Familie. Und Svetlana sah ausserdem blendend aus. Das Piercing in der Augenbraue störte etwas, aber Waldmeyer versuchte, darüber hinwegzusehen. „Du magst den Espresso doppelt, ja?“, lispelte sie ihm entgegen. Erstaunlich, genau vor 12 Monaten hatte er hier, genau an dieser Stelle, einen doppelten Espresso erhalten. Damals hatte ihn noch Pierino Caduff empfangen, sein langjähriger Mann aus dem Private Banking, zusammen mit seiner ebenso langjährigen Assistentin. Damals schon stand die Bank an der Schwelle zur Digitalisierung. Vermutlich wurde Caduff jetzt weg-digitalisiert und eben durch Svetlanas und Rodrigos ersetzt?
Die Faceerkennung vom März 2022 wurde offenbar gespeichert, und jetzt erkannte man den Waldmeyer sofort, wenn er die Bank betrat. Auf dem Prompter bei Svetlana leuchteten online alle Details zu seiner Person auf, und Rodrigo konnte gleich ins Portfolio reinschauen. So geht das heute. Waldmeyer war beeindruckt – aber auch entsetzt. Svetlana wusste vermutlich alles über ihn. Aber sie sah unbestritten gut aus, diese Marketingleute der „neuen“ Bank hatten ganze Arbeit geleistet: Man digitalisiert, das heisst, man sourced die ganze Bankarbeit an den Kunden selber aus, und damit er trotzdem nicht ganz unzufrieden ist, holt man ihn ab und zu persönlich ab, mit ein paar jungen „Freunden“.
Waldmeyer war natürlich klug genug, die Décolleté-Falle zu durchschauen. Er erkannte sofort, dass die Svetlanas wohl für die männlichen Kunden, die Rodrigos für die weiblichen gedacht waren. Charlotte z.B. würde also den Espresso von Rodrigo erhalten, dafür würde dann Svetlana in ihr Portfolio reingucken.
„Cooler Ort hier“, meinte Waldmeyer. „Soll ich nun jede Woche hier reinschauen?“
Svetlana wurde plötzlich ernst und lispelte nicht mehr. „Es gibt eigentlich nur eine solche Einladung pro Jahr. Du hast ja den Slot jetzt erhalten, das war für 2023. Wir möchten einfach den Kontakt nicht verlieren und ein gutes Verhältnis mit dem Kunden bewahren. Die Kunden sind uns sehr wichtig, weisch. Alles ok bei dir…?“
Svetlana hielt ihm auf einem Tablet die neue Datenschutzerklärung entgegen. Datenschutzerklärungen haben es ja so an sich, dass man mit einem Ok auf den Schutz der persönlichen Daten verzichtet. Svetlana legte ihm das Tablet auf die Knie. Der Text entsprach gefühlt etwa der Länge von Goethes Faust. „Es geht darum, dass wir das alles so weitermachen und dich unterstützen dürfen, Max, du kannst hier mit dem Daumen unterschreiben!“
Max lachte gequält, sprang auf und verliess den Cyber-Schalterraum mitsamt seinem ungenutzten Daumen. Er überlegte sich, zuhause in Meisterschwanden in Ruhe seinen Tresor mit dem Bargeld zu plündern und ab sofort alles nur noch bar zu bezahlen.
Das war natürlich keine Lösung, aber die Überlegung tat wohl. Er nahm sich vor, demnächst ein Bier mit Caduff zu trinken. Das wäre tatsächlich interessanter als der Espresso bei Svetlana.