Waldmeyer und der Geheimtipp Albanien

Oder: Wohin man auswandern könnte, oder auch nicht

Waldmeyer war seinem Sohn Noa (24, studiert Betriebswirtschaft in Zürich, Freundin: Bekime, albanisch) eine Antwort schuldig. Er wollte ihm einen Auswanderungs-Ort präsentieren, der klimatisch attraktiv ist, wo das Leben günstig ist, und es sollte sich überdies lohnen, dort Geld zu verdienen und zu investieren. Aufgrund der drohenden 99%-Initiative galt es in der Tat, langsam nach Alternativen zur Schweiz Ausschau zu halten. Also warum nicht Albanien? Nur schon wegen Bekime.

Es hätte auch Goa sein können, der Hippieort der Siebziger, die hübsche portugiesische Ex-Kolonie an der indischen Westküste. Oder Nimbin, das Kiffermekka in Australien, nahe dem bekannten Urlaubsort Byron Bay. Oder einfach die USA – mit einer Tellerwäscher-Karriere oder so, wie früher. Waldmeyer wäre indessen nicht Waldmeyer, wenn er nicht out of the box denken würde. Mit einer Prise Provokation natürlich.

Also präsentierte er am nächsten Sonntagvormittag am Frühstückstisch (Noa schien noch etwas eingeknickt, was wohl am Restalkohol lag) seine Albanien-Idee. Albanien ist nämlich ein Geheimtipp: Es ist der verlorene Riviera-Staat am Mittelmeer!

Die drei Millionen Einwohner in dem kleinen Land an der Adria verfügen über ein für Europa rekordverdächtig tiefes Prokopfeinkommen, dreimal kleiner als dasjenige im eh schon gebeutelten Griechenland. Eine Aufnahme in Waldmeyers persönliche Liste der „zivilisierten Länder“ bleibt dem rückständigen und etwas merkwürdigen Nato-Staat damit verwehrt. Beeindruckend ist auch, dass Albanien, pro Kopf gemessen, die stärkste Umweltverschmutzung Europas produziert. Aber Waldmeyer ging es eher um die Faszination des Gedankens, dass Albanien, und das mitten in Europa und am schönen Mittelmeer gelegen, schlichtweg vergessen ging.

An der albanischen Riviera ist das Winterklima mit Griechenland oder Sardinien vergleichbar – nur aus dieser, etwas verkürzten Perspektive müsste man diesen Landstrich also z.B. der Côte d’Azur vorziehen! Und es gäbe hier schon eine absolut stattliche Villa für rund 200‘000 Euro, mit unverbaubarem Meerblick gegen Westen… Überhaupt ist das Leben in diesem vergessenen Land lächerlich günstig, Waldmeyers Index der Lebenshaltungskosten, inkl. Wohnkosten, liegt bei 18% (Zürich: 100%). Selbst die Einkommenssteuern sind gering, zurzeit wird eine Flat Tax von nur 10% erhoben. Und keine Vermögens- und/oder Kapitalgewinnsteuer. Verglichen mit den Zielen der 99%-Initiative also paradiesische Fiskalzustände.

Das Land pflegt eine mediterrane Küche, es verfügt ja auch über 360 km Küste. Die Kriminalität liegt tief, und Gästen im Land wird ausnehmend freundlich und mit Respekt begegnet. Man verständigt sich hervorragend in Italienisch, das Englische ist im Vormarsch. Es gibt auch verschiedene Universitäten, Einkaufen lässt sich problemlos in der Hauptstadt Tirana. Auf dem Markt im Dorf könnte Bekime übersetzen.

Wirtschaftlich liegt das Land aber auf einem traurig tiefen Niveau, hervorragend läuft eigentlich nur der Marihuana-Anbau, v.a. im Süden. Das alles muss jedoch, investitionsmässig, kein Nachteil sein.

Waldmeyer ist nämlich überzeugt: Albanien ist der ungeschliffene Diamant an der Riviera der Adria! In 20 Jahren vielleicht könnte das Land einmal ein Touristen- und Zweitwohnsitz-Hotspot sein. 

Waldmeyer fasste auch die History kurz zusammen: Die grosse Wende 1989 ging an Albanien erst spurlos vorüber; unbeirrt verfolgte es seinen stalinistischen Kurs. Es sollte noch bis tief in die 90er Jahre dauern, bis das Land die wirtschaftliche und gesellschaftliche Isolation aufgab. Als Folge davon finden wir nun an dem Küstenstreifen der Adria, gleich gegenüber dem Belpaese, diesen völlig rückständigen Flecken, welcher das Tourismuspotenzial noch kaum erkannt hat.

Noa hatte sich schon längst seinem Smartphone zugewandt, Waldmeyer dozierte weiter:  Internet und Mobilfunk seien erstaunlicherweise hervorragend in Albanien. Direktflüge gibt es ab Deutschland und Österreich, von Zürich aus dauert es zurzeit noch 3-4 Stunden, mit Umstieg in Mailand, Zagreb oder Ljubljana. Aber man kann auch hinfahren: In zwei Tagen ist man spielend dort.

Erstaunlicherweise sind auch Zara und H&M – zumindest in Tirana – vertreten. Also ist alles hier.

Der kommunistische Groove wurde noch nicht überall vertrieben, das Land leidet immer noch unter krasser Misswirtschaft und Korruption – könnte sich also noch entwickeln! Albanien macht allerdings nur Sinn, wenn eine persönliche familiäre Bande mit Bezug zum Land besteht. Und genau hier kommt eben die Rolle von Bekime zum Tragen! Denn genau dies könnte nun die logische Motivation sein, das Land fundierter zu prüfen. „Bekime“ bedeutet übrigens „die Gesegnete“. Das passt doch. Ein Segen als Puzzleteil im Gesamtkonzept Albanien. So könnten auch die lästigen Zivilisationsdefizite ausgeblendet und etwas längerfristig geplant werden. Sich frühzeitig nun etwas Eigentum an der albanischen Riviera zu sichern, könnte so zum intelligenten Schachzug werden. Ein kleiner Strandabschnitt gar – für einen Apfel und ein Ei erstanden, notabene – könnte den Grundstein für ein Immobilienimperium am Mittelmeer legen. 

Für Waldmeyer selbst kommt das natürlich nicht in Frage – er ist schlichtweg zu alt, der Anlagehorizont übersteigt seine noch angenehm verwertbare Restlebenszeit. Aber Noa könnte das stemmen, er verfügt locker über einen Anlagehorizont von mindestens 30 Jahren. „Das ist natürlich ein sehr langfristiger Anlagetipp!“, schloss Waldmeyer seine umfassende Länderpräsentation.

„Dad, Bekime ist doch nur friend with benefit. Einen Teufel werde ich tun und mich nach Albanien verkriechen! Zudem möchte Bekime nie mehr nach Albanien zurück. Dann noch eher nach Nimbin!“

Damit war diese Perle am Mittelmeer wohl vom Tisch. Aber das mit Nimbin machte Waldmeyer nun doch etwas Sorgen.

Waldmeyer und die 99%-Initiative

Oder das Geheimnis des Soziokommunismus

Waldmeyer hatte sich in letzter Zeit schon mehrmals gewundert: In Zürich sollen private Dachgärten der Allgemeinheit zugänglich gemacht, Baucontainer zwangs-begrünt werden, und schon seit längerem wird ein bedingungsloses Grundeinkommen angedacht. Aber nun diese 99%-Initiative der Jusos: Einkommen und Vermögen sollen also vermehrt kollektiviert werden. Soll die Schweiz ein heiteres Kibbuz werden, natürlich mit nur glücklichen Menschen, welche hochmotiviert für die andern arbeiten? Waldmeyer ist verwirrt. Es geht unter anderem auch um seinen Van Gogh. Aber dazu später.

Die schon vor einiger Zeit lancierte 99%-Initiative verlangt, dass Kapitaleinkommen (Zinsen, Dividenden etc.) mit 150% besteuert werden. Es gilt ein Freibetrag von beispielsweise 100‘000 Franken pro Jahr. Erträge, die darüber sind, werden quasi über-konfisziert, also mehr abgeschöpft, als sie es sind. Das betrifft zwar nur etwa 1% der Leute, deshalb die „99%-Initiative“. 

Der mit der neuen Steuer erzielte Mehrertrag soll dazu verwendet werden, um die Einkommenssteuern für Personen mit tiefen und mittleren Arbeitseinkommen zu senken. Ein schöner Gedanke – doch nicht mal Karl Marx wäre so weit gegangen. 

Waldmeyer dachte schon, dass es sich dabei wieder um einen üblichen Juso-Furz handelt – also nur um eine provokative Idee, um sich wichtig zu machen. Doch weit gefehlt: 13 von 46 Ständeräten stimmten dafür. Heute unterstützt ebenso eine ganze Phalanx der Grünen die Initiative, auch die SP hat die Ja-Parole ausgegeben. Am 26. September soll abgestimmt werden. Das Brisante daran: Könnten sich etwa 99% der Bevölkerung für diese absurde Idee erwärmen? Sie wären ja nicht davon betroffen.

Doch hatten es die Jusos vielleicht nur gut gemeint? Im Sinne von Gutmenschen, welche die Arbeit höher gewichten als das Kapital? Womit wir wieder bei den Grundgedanken von Marx‘ Das Kapital wären.

Waldmeyer – und wohl allen andern auch – war noch nicht ganz klar, was denn alles als  „Kapitaleinkommen“ klassifiziert werden könnte: Dividenden? Zinsen? Eigenmietwerte? Oder einfach allgemein Kapitalgewinne? Oder auch intrinsische Gewinne, zum Beispiel der Genusswert einer kostbaren Mingvase oder eines Van Goghs? Oder gar Waldmeyers Ausblick in Meisterschwanden auf den Hallwilersee?

Waldmeyer taten die grossen Unternehmer etwas leid: Sie sind darauf angewiesen, Dividenden zu beziehen, nur schon um die Vermögenssteuern zu bezahlen, die sich aufgrund der steuerlichen Firmenbewertung ergeben. Eine Über-Steuer auf den Dividenden, also auf klassischen Kapitaleinkommen (genau so, wie es die Jusos definieren), könnte ihnen das Genick brechen. Die Unternehmer würden entweder die Landesflucht antreten (ohne ihre Firma), die Firma einfach ins Ausland verlagern, Harakiri begehen oder in ein Kloster eintreten. Eine solche Krisensituation wäre einfach unlösbar.

Eigentlich sassen Waldmeyer, Charlotte und die beiden noch knapp adoleszenten Kinder an diesem Sonntagmorgen nur friedlich am Frühstückstisch. Doch nun wurde diskutiert.

Lara (22, studiert Kunst in Basel) fragte: „Diese Initiative, ist das nun Kommunismus oder Sozialismus?“ Waldmeyer überlegte: Kommunismus ist es nicht. Denn dann würde man gar nie dazu kommen, ein Vermögen aufzubauen, das der Staat stehlen kann. Vermögen im Kommunismus haben nur die Staatsführer. Sozialismus trifft schon eher zu: Du musst dann zwangs-teilen. „Im Kommunismus gehört dein E-Bike bereits von Anfang an dem Staat, in Sozialismus musst du dein zweites E-Bike der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Du gibst dein E-Bike an den Staat ab, sparst auf ein neues oder nimmst einen Kredit auf, damit du ein neues kaufen kannst, das du dann wieder an den Staat abgibst“. Soweit Waldmeyers spontane Erklärung.

„Aber da müsste einer ja schön blöd sein!“, warf nun Noa (24, studiert Betriebswirtschaft in Zürich) ein.

„Stimmt, blöd ist es eben, wenn du bereits 12 E-Bikes besitzt, diese ausmietest und dann den ganzen Mietertrag plus 50% abliefern musst. Nach ein paar Jahren hast du dann nichts mehr.“

„Vielleicht sollte man den Jusos gleich von Anfang an die E-Bikes wegnehmen?!“

„Schwierig“, entgegnete Waldmeyer. „Die arbeiten nur halbtags, sind z.B. Lehrer oder städtische Angestellte (Kulturpflege) und nutzen gratis die E-Bikes der Stadtverwaltung. Da ist nichts zu holen. Und so lösen wir das Problem nicht.“

Aber: Handelte es sich nun um Kommunismus oder Sozialismus? Es handelt sich auf jeden Fall um Enteignung. Aber auch um Umverteilung. Also ist diese 99%-Initiative vielleicht ein klarer Fall von Soziokommunismus.

Noa warf noch die provokative Idee ein, einfach auszuwandern. Er würde künftig nicht in einem Land wohnen wollen, wo der Staat die persönlichen Errungenschaften klaut. Aber wohin…? Es müsste ein Ort sein, wo es so oder ein bisschen wärmer ist, das Leben jedoch günstiger, sich das Arbeiten lohne, und überhaupt. Er studiere ja nicht vergeblich Betriebswirtschaft! 

Die angespannte Frühstücks-Debatte wurde nun unterbrochen, da Noa dringend gehen musste. Er hatte sich mit Bekime verabredet (seine neue Freundin, albanisch).

Waldmeyer rief ihm nach: „Ich überlege mir was. Wir diskutieren das am nächsten Sonntag.“

Zurück in seinem Büro, eigentlich in seinem Newsroom, blickte Waldmeyer an seinen Van Gogh an der Wand: Ob dieser auch der 99%-Initiative zum Opfer fallen könnte? Zum Glück war es eine Kopie.

Er wollte sich nun Gedanken machen betreffend einem Auswanderungsland. Bekime hatte ihn gleich auf eine seltsame Idee gebracht: Albanien! Zumal Albanien eine stock-kommunistische Vergangenheit hat.

Aber dazu erst nächsten Sonntag.

Waldmeyer wechselte 2023 zur Digitalbank

Oder die Grenzen der Smart Society, Teil III

Waldmeyer hatte gefühlt schon mehrmals ein digitales Nahtod-Erlebnis. Es stellte sich genau dann ein, wenn er mit den Logins nicht weiterkam, die QR-Codes nicht funktionierten, er nach Passwörtern suchte und Stunden am PC verlor, um die einfachsten Dinge des täglichen Lebens zu verrichten. Oder mit der Robo-Tante am Telefon nicht weiterkam und in irgendeiner Schlaufe verkümmerte. Es war dann, wenn er jeweils schreiend in den Garten hinausstürzte und sich am liebsten im Hallwilersee ertränkt hätte. Aber jetzt zeigte sich ein Lichtblick: Die neue Digitalbank schien personalisiert zu sein!

Die Digitalisierung von allerlei nützen und unnützen Tätigkeiten wird sich beschleunigen, ohne Frage. Sie wird leider auch vor Waldmeyer nicht haltmachen. Gewisse Dinge sind heute ja ganz praktisch. Im Tre Fratelli z.B. konnte Waldmeyer so seinen Lieblingstisch mit ein paar wenigen Wischs über sein Smartphone reservieren – bisher musste er oft minutenlang am Telefon warten, bis Luigis Frau endlich den Hörer abnahm und ihm dann nicht genau sagen konnte, ob sein Tisch dann wirklich frei sein würde (tavola no. 11).

Allerdings war die Entpersonalisierung von all diesen digitalisierten Tätigkeiten mit Händen zu greifen. Man war oft lost in space, zusehends entseelt, ein alleine gelassener Mensch mit der Maschine.  

Die Banken hatten das durchaus erkannt und versuchten nun seit 2022 Gegensteuer zu geben. Man schlug den Kunden vor, zu einer aktiven Digitalbank zu wechseln. Dort ist dann eben das ganze Banking digitalisiert, aber – und das war der Trick – man holte den Kunden trotzdem persönlich ab. „Personal Communication Modem“ lautete das interne geheime  Programm. Für viele neue Mitarbeiter ganz neu und ungewöhnlich: einem echten Kunden tatsächlich in Fleisch und Blut gegenüberzustehen. Die biederen oder pseudo-modernen Schalterhallen wurden dafür kurzerhand, und zwar flächendeckend, in diese coolen Cyber-Begegnungsstätten umgebaut. Das neue Konzept funktionierte natürlich nicht richtig.

Waldmeyer wusste das jedoch noch nicht und entschied sich etwas blauäugig, zu dieser neuen komischen Form des Bankwesens zu wechseln. Er entschied so, zumal er gar keine andere Wahl hatte, denn seine Bank zwangswechselte ihn quasi zu dieser seltsamen Digitalbank, weil sie sich selber dieser komplett digitalen Mutation unterzogen hatte.

Das Exotische an den neuen Digitalbanken war nun, dass man sich eben trotz allem physisch mit Bankangestellten treffen konnte. Das war selbstredend ein ganz raffinierter psychologischer Marketing-Schachzug.

Max Waldmeyer trat also, es war Dienstag, der 14. März 2023 um 10:45, in diesen coolen „Schalterraum“ ein, der eigentlich so eine Mischung zwischen Cyberraum und einer Bar war. „Schön, dich wieder mal zu sehen, Max!“, flötete Svetlana ihm entgegen. Sie sass mit ihrem kurzen Rock und den braun gebrannten Beinen in der an die Bar grenzenden Lounge, warf gekonnt ihr blondes Haar nach hinten, sodass ihr nicht unvorteilhaftes Décolleté ziemlich plakativ zur Geltung kam und wartete offenbar nur auf Waldmeyer. Natürlich war es nicht so, dass Svetlana den Waldmeyer erkannt hätte – aber beim Passieren der elektronischen Tür hatte das System „Max Waldmeyer 1965“  sofort gescannt. Und Waldmeyer hatte sich natürlich vorher schon eingeloggt, er hatte einen elektronischen Slot erhalten und war nun pünktlich 10:45 zur Stelle.

Waldmeyer war etwas verwirrt. Er hatte erwartet, dass man ihn zu einer Chesterfield-Lounge führt und ein gepflegter Banker würde ihm einen Single Malt offerieren. So hätte er sich gerne in der Zielgruppe gesehen. Offenbar definierte die neue Bank Waldmeyer nun neu?

Rodrigo war auch da. Früher hätte man ihn Schalterbeamten genannt. Aber seit dem flächenweiten Umbau der Schalterhallen in Cyber-Begegnungstätten war Rodrigo ein Banking Communicator. Es war wohl ein neuer Beruf. Rodrigo trug einen ziemlich engen hellblauen Anzug, die Hosenbeine reichten bis zur Wade und betonten so die weissen Sneakers, in denen seine nackten Füsse steckten. Unter dem knappen Veston trug er ein geschmackvolles Rippenleibchen, über welchem ein ebenso geschmackvolles Tattoo auf der Brust rausblitzte. Rodrigo lachte ihm entgegen: „Tschau Max, schön dich wieder zu sehen! Deine UBS-Aktien bewegen sich ein bisschen, super!“ Waldmeyer staunte, denn er hatte Rodrigo noch nie gesehen! Aber Rodrigo hatte offenbar gute Vorarbeit geleistet und sein Portfolio bereits studiert.

Das DU, das man Max entgegenschleuderte, war im ersten Moment etwas komisch, aber in der digitalen Welt ist das durchaus Standard. Wir sind ja eine Familie. Und Svetlana sah ausserdem blendend aus. Das Piercing in der Augenbraue störte etwas, aber Waldmeyer versuchte, darüber hinwegzusehen. „Du magst den Espresso doppelt, ja?“, lispelte sie ihm entgegen. Erstaunlich, genau vor 12 Monaten hatte er hier, genau an dieser Stelle, einen doppelten Espresso erhalten. Damals hatte ihn noch Pierino Caduff empfangen, sein langjähriger Mann aus dem Private Banking, zusammen mit seiner ebenso langjährigen Assistentin. Damals schon stand die Bank an der Schwelle zur Digitalisierung. Vermutlich wurde Caduff jetzt weg-digitalisiert und eben durch Svetlanas und Rodrigos ersetzt?

Die Faceerkennung vom März 2022 wurde offenbar gespeichert, und jetzt erkannte man den Waldmeyer sofort, wenn er die Bank betrat. Auf dem Prompter bei Svetlana leuchteten online alle Details zu seiner Person auf, und Rodrigo konnte gleich ins Portfolio reinschauen. So geht das heute. Waldmeyer war beeindruckt – aber auch entsetzt. Svetlana wusste vermutlich alles über ihn. Aber sie sah unbestritten gut aus, diese Marketingleute der „neuen“ Bank hatten ganze Arbeit geleistet: Man digitalisiert, das heisst, man sourced die ganze Bankarbeit an den Kunden selber aus, und damit er trotzdem nicht ganz unzufrieden ist, holt man ihn ab und zu persönlich ab, mit ein paar jungen „Freunden“. 

Waldmeyer war natürlich klug genug, die Décolleté-Falle zu durchschauen. Er erkannte sofort, dass die Svetlanas wohl für die männlichen Kunden, die Rodrigos für die weiblichen gedacht waren. Charlotte z.B. würde also den Espresso von Rodrigo erhalten, dafür würde dann Svetlana in ihr Portfolio reingucken. 

„Cooler Ort hier“, meinte Waldmeyer. „Soll ich nun jede Woche hier reinschauen?“

Svetlana wurde plötzlich ernst und lispelte nicht mehr. „Es gibt eigentlich nur eine solche Einladung pro Jahr. Du hast ja den Slot jetzt erhalten, das war für 2023. Wir möchten einfach den Kontakt nicht verlieren und ein gutes Verhältnis mit dem Kunden bewahren. Die Kunden sind uns sehr wichtig, weisch. Alles ok bei dir…?“ 

Svetlana hielt ihm auf einem Tablet die neue Datenschutzerklärung entgegen. Datenschutzerklärungen haben es ja so an sich, dass man mit einem Ok auf den Schutz der persönlichen Daten verzichtet. Svetlana legte ihm das Tablet auf die Knie. Der Text entsprach gefühlt etwa der Länge von Goethes Faust. „Es geht darum, dass wir das alles so weitermachen und dich unterstützen dürfen, Max, du kannst hier mit dem Daumen unterschreiben!“

Max lachte gequält, sprang auf und verliess den Cyber-Schalterraum mitsamt seinem ungenutzten Daumen. Er überlegte sich, zuhause in Meisterschwanden in Ruhe  seinen Tresor mit dem Bargeld zu plündern und ab sofort alles nur noch bar zu bezahlen.

Das war natürlich keine Lösung, aber die Überlegung tat wohl. Er nahm sich vor, demnächst ein Bier mit Caduff zu trinken. Das wäre tatsächlich interessanter als der Espresso bei Svetlana.

Waldmeyer und die Grenzen der Smart Society (Fortsetzung)

Oder der digitale Nahtod

Waldmeyer amüsierte sich nochmals über seine Erlebnisse am letzten Sonntag in Sachen Smart Home (oder Smart Hotel) im Trois Couronnes: Diesen „IT“ musste er doch tatsächlich dreimal rufen, bis nur schon die Basics im Hotelzimmer funktionierten. Bzw. für ihn verständlich waren.

Nun, dieses Wochenende stand weniger Lustiges an: Waldmeyer musste allerlei privaten Büro- und Infrastrukturkram erledigen – was heute in der Regel bedeutet, sich auf einen hoffnungslosen Zweikampf mit Logins, kryptischen Passwörtern und anderen gemeinen digitalen Stolpersteinen einzulassen. Stundenlang. Leider oft ohne Erfolg. 

Wie erwähnt nun also wieder zuhause, gestaltete sich dieser Sonntag weniger amüsant. Es war schon eher zum Verzweifeln. Wobei am Anfang noch alles recht gut lief.

Bei Amazon beispielsweise kam Waldmeyer easy rein. „Charlotte, wie heisst unser Passwort schon wieder?“ Und schon konnte er ordern.

Die neue SRG Sat-Access-Karte fürs Ferienhaus war schon eher tricky. Er schaffte die Aktivierung nicht und beschloss, die blöde Karte einfach unauffällig mit allen Login-Fresszetteln auf Charlottes Arbeitstisch hinzulegen. 

Das Online-Banking wiederum lief besser. Das heisst, das Inland-Banking. Aber dann später, mit der ausländischen Bank, war es komplexer: Dreimal hatte er schon alle Details eingeben, und beim Abschicken dann immer error. Waldmeyer traf einen Management-Entscheid: Das konnte bis Montag warten.

Waldmeyer machte weiter. Mit Schwung hantierte er mit QR-Codes, OT-Passwörtern und anderen kryptischen Codes. Das Abo für den Tennisclub wurde erneuert, die Rotary-Einladung für Dienstag bestätigt. Die neue Nespresso-Maschine online registriert, mit allerlei persönlichen Daten (denn nur so konnte man die Gratiskapseln bestellen).

Auch das Login mittels QR-Code und die Registrierung des neuen Dusch-WCs spulte Waldmeyer ziemlich elegant ab. Nun waren künftige Garantieleistungen bei Geberit sichergestellt. Fäkalien werden also auch digitalisiert. Sei’s drum.

Es lief ganz gut. Bis zum Schraubbohrer von Bosch. Die Garantie musste nämlich, auch mittels QR-Code, jedoch mit einer Geheimzahl angereichert, eingegeben werden – auch hier mit allerlei persönlichen Daten, für welche selbstredend die Datenschutzerklärung, welche die Daten dann nicht schützt, akzeptiert werden musste. Doch bei der Postleitzahl scheiterte Waldmeyer. Es lief nichts mehr. Und bei jedem Versuch musste er alles wieder neu eingeben. Aber wie meistens hatte Charlotte auch hier eine Lösung: „Bosch ist deutsch. Also häng doch einfach eine Zahl ran, ist fünfstellig, weisch!“ Es funktionierte: Meisterschwanden hatte ab sofort die PLZ 56160.

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, aber inzwischen senkte sich die Sonne langsam. Also noch schnell upc. Seit Monaten stimmten die Abrechnungen nicht. Waldmeyer drückte sich behende durch das roboterisierte Telefonprogramm durch, zog ein paar Schleifen, wartete (lange), begann nochmals, dann, endlich, gelangte er an den richtigen Ort, musste allerdings nochmals warten. Waldmeyer erinnerte sich an seine Multitasking-Fähigkeiten als früherer CEO und überbrückte die Wartezeit elegant, indem er zwei subjektiv ziemlich wichtige Emails erledigte, gleichzeitig an den Aperitif dachte und noch kurz aufs Klo schlich – in der Hoffnung natürlich, dass sich upc noch nicht meldet. Aber noch auf dem stillen Örtchen kam die Erlösung: „Unsere Bürozeiten….“. Nun gut, es war Sonntag. Aber warum konnte die Robo-Tante das nicht früher mitteilen? Waldmeyer blieb nachsichtig und verspürte so etwas wie Mitleid für die Sprecherin. Also auch verschieben auf Montag.

Dann wollte Waldmeyer noch schnell die Fahrkarte bei der SBB buchen. Es war ein Primeur, denn Waldmeyer fuhr eigentlich nie mit der Bahn. Aber die VR-Sitzung morgen Abend sollte etwas länger dauern, denn Hansruedi wollte noch die neuen Weine zur Degustation mitbringen. Also besser die Bahn. Bucht man zum ersten Mal online bei der SBB, braucht es mindestens einen Bachelor in IT. Waldmeyer hatte sogar einen Master – aber eben nicht in IT. Er schaffte es nicht. Die Frage der Streckenführung (über Orte, die Waldmeyer gar nicht kannte) war nicht klar, und überhaupt. Entnervt beschloss er, morgen doch besser den Cayenne zu nehmen (schwarz, innen auch).

„Diese Scheiss-Logins“, fluchte Waldmeyer und stürzte hinaus zu Charlotte auf die Terrasse. „Jetzt habe ich endgültig genug. Wann gibt es Aperitif…?“

Charlotte räkelte sich im Bikini auf der Liege und flötete: „Hast du denn einen Login für den Aperitif?“Waldmeyer rannte schreiend in den Garten hinaus. Am liebsten hätte er sich in den Hallwilersee gestürzt. Einzig die Aussicht auf den Aperitif hielt ihn davon ab. Und er verspürte so etwas wie ein digitales Nahtod-Erlebnis.

Waldmeyer und die Grenzen der Smart Society

Die Digitalisierung ist nichts anderes als die grösste Industrialisierung seit Menschengedenken. Die Dampfmaschine, die Elektrifizierung, die Automatisierung etc. – alles ein Klacks. Denn nun werden wir Zeitzeuge eines Vorgangs, der in Sachen Geschwindigkeit und Wandel alles Bisherige in den Schatten stellt. Es ist ein Umbruch, welcher die ganze Gesellschaft erfasst. Und nun steht die letzte Ausprägung dieses Vorganges an: Das Ganze macht nämlich auch vor Max Waldmeyer nicht halt. War früher doch alles besser? Aber dazu später.

Waldmeyer hatte mit Charlotte soeben im Trois Couronnes eingecheckt und studierte die digitalen Gadgets im Zimmer. Es gab sogar ein Gas-Cheminée, welches elektronisch kontrolliert werden konnte. Licht, Musik, Verdunkelung – alles smart. 

Die erste Hürde war das W-LAN: Das Passwort war extra so konzipiert, dass es möglichst kompliziert war und – wie so oft – vorsätzlich gemeine Stolpersteine aufwies. Es waren beispielsweise Nullen und „O“s eingebaut, damit man diese verwechselt. „Herr Waldmeyer, ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben, ich schicke Ihnen den IT“, säuselte die Stimme von der Reception. Der IT kam rasch, es dauerte genau 22 Minuten und klärte auf: „Das sieht man ja ganz klar, die drei „O“s sind Zahlen“. Ganz klar. 

Während Charlotte im Bad nun versuchte, mit der Beleuchtung klarzukommen, wollte Waldmeyer kurz in diese Segel-Regatta reinschauen. Es gab drei Fernbedienungen für den Fernseher. Alle lagen sauber und parallel ausgerichtet neben dem X-Large Bildschirm. Waldmeyer probierte alle – auch in Kombination. Er schaffte es nicht.

Wieder gut 22 Minuten später – Charlotte suchte immer noch nach der besten Lichtkombination im Bad – musste der IT (auf seinem Namensschild stand IT – Krasnowskyschiri), ein sichtlich entnervter Nerd mit einem Tablet, nochmals antreten und die drei Fernbedienungen erklären. Es war ganz einfach. Klar.

Die restlichen Funktionen im Hotelzimmer entdeckte Waldmeyer in der folgenden Stunde. Nach einigem Suchen fand er auch das Tablet im Zimmer, mit dem er – nach kurzem Login – in einem Unterprogramm die Funktion für die elektrischen Vorhänge entdeckte. Es war jedoch Charlotte, welche die Funktion der Sonnenmarkisen aufstöberte – nicht in einem Unterprogramm, sondern in der Szenarien-Funktion „Terace Living“. Ja, ein „r“ fehlte bei Terrace, schade. Waldmeyer gelang es auch, im Nu die Minibar zu öffnen, man musste nur den dafür vorgesehenen Login und eine Handvoll persönliche Daten eingeben und die Datenschutzvereinbarung akzeptieren. Mit den 12 Kissen auf dem Bett kam Waldmeyer indessen nicht ganz klar, obwohl hier für einmal eine ganz analoge Aufgabe anstand. Aber das war ihm eh einerlei.

Nach dem Diner (bis auf die Weinkarte verlief alles ganz angenehm analog), um genau 23:35, musste Waldmeyer leider zum dritten Mal den IT rufen. Diesmal den Nacht-IT, denn Lichterlöschen stand an. Die ganze Zimmerbeleuchtung war nämlich in Szenarien und Ambiancen strukturiert, Waldmeyer fand aber die Schlaf-Funktion nicht (früher: dunkel – oder einfach Licht aus); verschiedene indirekte Dimm-Beleuchtungen liessen sich nämlich nicht ausschalten. IT Nummer drei redete mit Waldmeyer wie mit einem Kind:  „So, das hätten wir jetzt auch, Herr Waldmeyer, jetzt können Sie ruhig schlafen. Ich muss jetzt weiter, es warten noch andere Gäste, im Fall!“ Klar.

Waldmeyer fand dies alles soweit ganz amüsant, vor allem, als er die Kosten der drei ITs für den 24-Stunden-Service kurz überschlug. Er überlegte sich, wie sich der General Manager vor dem Verwaltungsrat wegen den explodierenden IT-Kosten wohl rechtfertigen würde. Zum Beispiel so: „Die Digitalisierung macht auch vor der Hotellerie nicht halt; um diese Ausgaben kommen wir nicht herum, es sind Investitionen in die Zukunft. Und der neue Gästetyp verlangt das einfach.“ Oder ähnlich. Würde er, Waldmeyer, also nicht mehr zur Kernzielgruppe eines Fünf-Sterne-Hotels gehören? Offenbar nicht.

War früher alles besser? Die Einführung des Farbfernsehers zum Beispiel: Diese Revolution war nämlich überblickbar. Dann kam die Fernbedienung: in der Regel lernbar. Aber jetzt die Zäsur, dieser Quantensprung: Das ganze Leben findet eigentlich in sequenziellen Logins statt. Anstatt Schalter zu drehen, zu kommunizieren oder die NZZ in Papierform zu geniessen, machen wir nun stundenlang Logins. Brave, new world.

Waldmeyer lief es kalt den Rücken runter, er dachte ans nächste Wochenende. Denn dann stand nämlich Büroarbeit an. Eigentlich Login-Arbeit. Büroarbeit besteht heute zu 90% aus Logins. Waldmeyer wusste schon jetzt, dass es ein Fiasko werden wird. Aber dazu eben später, in einem nächsten Beitrag.

Die Cheminée-Funktion brachte Waldmeyer im Übrigen nicht zum Funktionieren. Die drei Fernbedienungen liess er ebenso liegen. Doch Waldmeyer ist eine lösungsorientierte Spezies. „Selbst ist der Mann“, dachte er sich und schaute mit Charlotte die 99. Folge von 24 hours auf dem Laptop an. Es funktionierte einwandfrei.