Waldmeyer sass in einem unbequemen und engen Sessel in der Swiss, ärgerte sich über die Auflösung des Mickymaus-Bildschirms, den unbrauchbaren Kopfhörer, die ungehobelten Nachbarn und dachte voraus, nämlich an das Ende der Swiss: Zum Beispiel 2022, nach dem endgültigen Grounding des maroden Carriers. Dann würde er vielleicht mit seinem Grossneffen Tim nach Basel Mulhouse fahren und dort die Flugzeuge anschauen. Der Bundesrat hätte, nach dem Niedergang der nationalen Airline (die allerdings schon lange den Deutschen gehörte), der Bevölkerung versprechen können, wenigstens auf einem Easyjet-Flieger ein kleines Schweizer Kreuz anzubringen. Deshalb auch, so stellte sich Waldmeyer weiter vor, diese Nostalgie-Reise mit Tim nach Mulhouse. Doch noch sind wir nicht soweit.
Waldmeyer beobachtete die Swiss-Misere schon länger. Bereits im Frühling 2020 las er bei True Economics, dass die Lage eigentlich hoffnungslos werden würde; die von der Swiss in Aussicht gestellten Erholungszahlen konnten nie und nimmer erreicht werden. Der damals von True Economics als äusserst pessimistisch prognostizierte Chart mit den Auslastungen für 2020 bis 2022 war im Nachhinein betrachtet sogar zu optimistisch. Der Bundesrat beging einen ordnungspolitischen Sündenfall und schickte eine Milliarde nach Berlin – de facto dem deutschen Staat, denn die Swiss gehört ja schon lange nicht mehr uns. Merkel und Scholz werden künftig als Copiloten bei der Muttergesellschaft Lufthansa im Cockpit sitzen. Die Eidgenossen subventionieren damit den deutschen Staat – eine hehre Haltung. Ähnliches passierte einzig 150 Jahre zuvor, als Helvetien aus purem Mitleid die französische Bourbaki-Armee unterstützte und ihr Asyl bot.
Waldmeyer ahnte nun, wie es demnach kommen würde: Die Auslastungszahlen der Swiss können sich nicht erholen, es wird kaum mehr Business und auch kaum mehr Langstrecke geflogen – und zwar längerfristig. Die stolze Airline mit dem Schweizer Kreuz, die gar nicht den Schweizern gehört, droht endgültig abzustürzen. Oder müsste sinnvollerweise eben vorher gegroundet werden.
Es könnte zuvor weiteres Ungemach drohen, so reflektierte Waldmeyer weiter in seinem unbequemen Gestühl im A330-300 der Swiss: Der digitale internationale Impfpass wird kommen. Aber das Schweizer Parlament und der Bundesrat werden der Swiss verbieten, Impfungen und digitale Impfpässe als Bedingungen für einen Flug festzulegen. Das werden zwar alle Airlines weltweit tun, könnte aber nicht für Flüge mit der Swiss gelten. Eine solche Diskriminierung wäre nämlich unhelvetisch, und ein digitaler Pass könnte die Persönlichkeitsrechte tangieren, und überhaupt. In der Folge würde selbstredend weitergeflogen, aber eben nicht mehr mit der Swiss.
Kann man überhaupt in die Zukunft „reflektieren“? Waldmeyer kann es. Er stellte sich vor, dass die Piloten, seit einem Jahr in Kurzarbeit, einfach weiter in Kurzarbeit bleiben würden, bis sie mindestens 60 sind. Sie könnten auch gar nicht fliegen, denn die Airline würde zum Beispiel am 2. Oktober 2021 endgültig grounden. Es wäre ein schönes Datum, nämlich haargenau 20 Jahre nach dem Swissair-Grounding. Die kranke Lufthansatochter wäre am Schluss nur noch ein fliegendes marodes Geldinstitut gewesen, und alle wären erlöst, wenn dieser Agonie ein Ende bereitet worden wäre. Der Bundesrat würde dann ab Oktober 2021 sofort mit Easy Jet verhandeln, damit wenigstens auf den paar wenigen Fliegern, die Basel anfliegen, das Schweizerkreuz angebracht werden könnte. Ja, und deshalb dann der Ausflug Waldmeyers mit Tim nach Basel-Mulhouse!
Waldmeyer überlegte weiter: Eine alternative Rettung des maroden Carriers könnte nur erfolgen, wenn die ganze Schweizer Bevölkerung – also wirklich alle, auch Kleinkinder und Corona-Geschädigte – sich mindestens zweimal pro Jahr ins Flugzeug setzen würden (weil die Ausländer zum Beispiel nicht mehr können oder dürfen oder wollen). Und dann, ja dann könnte das Ziel vielleicht erreicht werden. Das Ganze müsste 16 Millionen Mal stattfinden, so viel wie 2019 mit der Swiss geflogen wurde. Aber es dürfte nicht nur Mallorca angeflogen werden, sondern es müsste auch mal Singapur oder Sydney drin liegen. Und natürlich auch Business und First. Fazit: Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Flug ins sehr gewisse Ungewisse.
Waldmeyer flog heute auf seinem Trip in den Mittleren Osten nicht Business, sondern, aus ökonomischen Optimierungsgründen, nur Economy. Mit Schrecken musste er feststellen, dass sich die Rotweinauswahl auf einen Billigstwein aus Frankreich, mit sagenhaft tiefen 12.5 Volumenprozenten beschränkte. Das dünne Getränk unterbot damit sogar die Werte von ungeniessbaren Schweizer Landweinen, qualitätsmässig drängte sich ein Vergleich mit Weinen aus dem Tetrapack (für 99 Cent) aus französischen Supermärkten auf. Beschafft („sélectionné“) wird diese önologische Pfütze, laut Etikette, durch Coop. Offenbar gelingt es der international aufgestellten Airline nicht, ihre weltweite Weinbeschaffung direkt sicherzustellen. Das Plastikfläschchen mit 1,87 Deziliter wird von der Swiss wohl für unter einem Franken bei Herrn Loosli bei Coop eingekauft, und Coop wird den Fusel in Hektolitern für eine Fraktion des Preises organisiert haben.
Kurzum: Der Wein war ungeniessbar. Soweit jedoch keine Tragik. Tragisch indessen betrachtete Waldmeyer den Werteverfall bei der Airline. Also nicht nur den Kurszerfall der Aktie der Lufthansa, sondern auch die falsche Wertestrategie der Swiss, als selbsternannte „Premium Airline“. Dieser toxische Wein, ein „Mythique Pay d’oc“, der in einem Blindtest wohl kaum als Rebensaft erkannt würde, widerspiegelt leider diese Agonie des flügellahmen Kranichs mit dem Schweizerkreuz. Der Fusel wird quasi zur flüssigen Metapher, die uns nun nicht nur finanziell mit Direktzahlungen aus der Schweizer Bundeskasse quält, sondern neu auch önologisch.
„Wir müssen Goethe umschreiben, Charlotte“, meinte Waldmeyer zu seiner Frau auf dem engen Nebensitz. „Richtig sollte es heissen: Der Flug ist zu lange, um schlechten Wein zu trinken!“ „Goethe konnte noch nicht fliegen, Schatz“, erwiderte Charlotte wie immer schlagfertig.
„Wer wohl den Fusel ausgesucht hat? Ich meine nicht bei Coop, den würde der Loosli nicht mal probieren. Sondern wer von den Verantwortlichen bei der Swiss?“ Charlotte hatte auch hier eine Antwort: „Das war wohl der Scholz, Max.“