INTERVIEW MIT DR. REBECKA CARPENTER
„Vielleicht geht es Corona-mässig so nun einfach weiter.“
True Economics: Rebecka, wir führten unser letztes Interview vor gut drei Monaten. Sie hielten damals mit Ihrer Kritik am Pandemie-Management nicht allzu stark zurück. Wie beurteilen Sie dieses nun heute?
Rebecka Carpenter: Nun, leider besteht immer noch kein professionelles Krisenmanagement. Der Bundesrat hatte die heisse Kartoffel einfach an die Kantone weitergereicht und sich in corpore in den Sommerurlaub abgemeldet. Und das BAG rudert seither hilflos durch die Krise. Der Bundesrat ist inzwischen zwar wieder zurück. Er habe sich kurz „orientieren lassen über die Situation“ – und hat anschliessend ein paar widersprüchliche Informationen abgegeben.
immerhin haben wir inzwischen epidemiologisch einiges dazugelernt – allerdings reagieren wir nicht drauf.
„Die Krisenführung offenbart ein verblüffendes Mass an Inkompetenz.“
Sie hatten den Pandemie-Führungsstab in der Schweiz einmal mit einer Muppet-Show verglichen.
Diesen Vergleich hatte ich zurückgenommen! Was ich damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte – und heute sogar noch verstärkt meine: Die Führung ist unkoordiniert und offenbart ein verblüffendes Mass an Inkompetenz. Dabei geht es um die wohl grösste volkswirtschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir schlingern ziemlich führungslos durch diese Misere, vordergründig gemanagt von subalternen Beamten eines Gesundheitsamtes oder durch kantonale Behörden- oder Regierungsvertreter. Tatsächlich erfolgt jedoch alles ziemlich unkoordiniert. Dabei geht es heute primär gar nicht mehr um die Gesundheit – sondern darum, die Lage volkswirtschaftlich in den Griff zu bekommen.
Ursprünglich attestierten die Bevölkerung und die Medien dem Bundesrat und dem BAG gute Noten, deren Protagonisten galten als besonnen. Nun tritt jedoch zunehmend an die Oberfläche, dass diese Ruhe nur mangelnde Reaktionsfähigkeit, schlechte Kommunikation und Führungsmangel übertüncht. Nochmals: Es fehlt ein professioneller Krisenstab. Aber davon haben wir schon vor Monaten gesprochen.
Nun, eine gewisse Lernkurve ist doch auszumachen!?
Epidemiologisch haben wir, wie gesagt, dazugelernt – klar. Aber nicht, wie wir eine Volkswirtschaft optimal aus dieser Krise führen müssen.
Heute wissen wir immerhin mit einiger Sicherheit, wo die Seuchenherde entstehen. Zumindest europaweit sind drei Hotspots auszumachen, welche für den überwiegenden Teil der Infektionen verantwortlich sind: Es sind die Clubs, Bars und Events (und allenfalls Schulen), zweitens verarbeitende Betriebe wie Schlachthöfe oder Gemüseverarbeiter und drittens Erntehelfer- oder ähnliche Gastarbeiter-Setups mit problematischen Unterbringungsmöglichkeiten. In der Schweiz sind die beiden letzten Herde eher zu vernachlässigen. Rein statistisch sind zudem die Ansteckungen im Familienkreis signifikant auffällig – aber das ist auf die Erhebung zurückzuführen, schliesslich wird im nächsten Umfeld nach einer Folge-Ansteckung am schnellsten getestet. Zudem liessen sich die fast vier Millionen Haushalte in der Schweiz ja schlecht verbieten… Abgesehen davon kennt das BAG zum überwiegenden Teil gar nicht den Ursprung der Infektionen. Die Datenlage ist sehr dünn.
„Das Virus kommt nicht durchs Cheminée“
Die letzten Kommunikationskorrekturen des BAG bezüglich der Ansteckungen waren übrigens erneut falsch. Die Feststellung, dass die meisten Ansteckungen nun plötzlich im Familienkreis erfolgen sollen, ist eine komplette Missinterpretation. Das Virus kommt ja nicht, zusammen mit dem Samichlaus, durchs Cheminée rein. Es geht doch darum, die Vor-Ansteckung (oder Initialansteckungen) ausserhalb der Familien einzugrenzen. Diese Ansteckungen finden eben durch Aussenstehende statt, welche sich zum Beispiel über Clubs oder ungeeignet geschützte Arbeitsplätze in ein neues Umfeld verbreiten. Diese Erkenntnis deckt sich übrigens mit der weltweiten Beurteilung – das BAG wird das wohl nicht ändern können.
Hier müssten wir also konsequent ansetzen: Das heisst die Clubs und ähnliche Etablissements bis auf weiteres einfach schliessen, die Schlachthöfe und dergleichen nur mit getestetem Isolationspersonal arbeiten lassen, Gastarbeiter erst Tests unterziehen und dann korrekt unterbringen, aber mit geregeltem Aussenkontakt. Auf diese Weise könnten der Rest des sozialen Lebens und die Wirtschaft fast normal weiterfunktionieren – mit den nötigen Hygienemassnahmen und Distanzhalten natürlich.
Clubs sind europaweit zum grossen Teil geschlossen oder mit erheblichen Auflagen versehen. Warum nicht in der Schweiz?
Es gibt keinen medizinischen Grund dafür. Es ist unerklärlich. In Deutschland wird nicht einmal darüber diskutiert, ob die Clubs wieder öffnen sollen. Es müssen bei uns politische Gründe vorliegen.
Und die Kirchen? Oder die Schulen?
Die Kirchen müssten wir leider so wie Clubs behandeln, und in den Schulen müsste versucht werden, Abstände einzuhalten. Falls das nicht geht: Maskenpflicht. Und die Schulen müssten bei einem Vorfall punktuell geschlossen werden, mit sofortiger Umstellung auf Distance Learning. Das muss inzwischen auch für die Lehrerschaft zumutbar sein, denn auch Lehrpersonal muss lernfähig bleiben.
Nun sollen jedoch grössere Events wieder erlaubt werden.
Unerklärlich – zumal die diesbezügliche Ankündigung mit einer deutlichen Erhöhung der Fallzahlen zusammenfällt. Als die Fallzahlen vor Monaten auf dieser Höhe waren, befand sich das Land mitten in einem Lockdown, mit einer Versammlungsbegrenzung auf fünf Personen.
„Letztlich geht es um Fussball gegen Volkswirtschaft“
Es scheint eben um Wirtschaft gegen Gesundheit zu gehen.
Nicht ganz. In diesem Fall geht es letztlich um Fussball und Eishockey gegen Wirtschaft. Das Einknicken vor der Sportlobby gefährdet letztlich das Funktionieren der Volkswirtschaft. Wenn die Fallzahlen aufgrund von Massenveranstaltungen wieder steigen, werden neue Einschränkungen kommen, welche für die ganze Wirtschaft gelten.
Es herrscht einige Verwirrung im Land: Jeder Kanton macht sein eigenes Ding in Sachen Krisenbekämpfung.
Ja, das nennt sich vordergründig Föderalismus, ist aber nur ein eklatanter Führungsmangel. Das Virus ist ja überall dasselbe, und es verbreitet sich überall gleich. Dass eine Graduierung bei den Epidemie-Massnahmen je nach Gebiet oder Kanton stattfinden muss, ist klar. Die Massnahmen sollten jedoch identische Stufen aufweisen, je nach lokaler Epidemielage. Wie gesagt machen hier weder der Bundesrat, noch das BAG, noch die Kantone bella figura. So entstehen denn auch kuriose Vorschriften, die auf lokalem Kompetenzmangel beruhen: Im Kanton Waadt zum Beispiel herrscht in den Läden Maskenpflicht ab zehn Kunden in einem Laden. In der IKEA laufen die Leute mit der Maske rum, in der kleinen Metzgerei darf man sich jedoch aus nächster Distanz maskenfrei anhusten. Es erinnert an den unsäglichen Bundesratsentscheid im Mai dieses Jahres, Tattoo-Studios wieder zu öffnen, nicht aber die Gartencenter.
„Die Länderrisikoliste des BAG ist nicht nur willkürlich aufgesetzt, sondern zum Teil auch falsch.“
Das BAG hat sich nun schon viele Schnitzer erlaubt. Wie beurteilen Sie die sogenannte „Risikoländerliste“ des BAG, aufgrund derer die Quarantänepflicht für Einreisende aus diesen Ländern definiert wird?
Diese Liste ist sowohl statistisch als auch kommunikationsmässig ein Debakel. Sie beruht auf getesteten und rapportierten Infizierten. Dazu ein Beispiel: In Afghanistan beträgt die Infektionsrate 32%. Die Daten beruhen auf Random-Tests mit einer Hochrechnung – welche international anerkannt ist. Offiziell wurden aufgrund von Tests jedoch nur 37‘000 Infizierte entdeckt, nämlich nur 30-mal weniger als die hochgerechnet über 10 Millionen Infizierten. Das BAG setzt Afghanistan aufgrund der wenigen rapportierten Tests nicht auf die Risikoliste, weshalb auch eine Quarantänepflicht entfällt. Luxemburg jedoch ist auf der Liste, dort wird die komplette Bevölkerung getestet – kein Wunder, entdeckt man so mehr Infizierte.
Russland wurde von der BAG-Liste wohl aus einem ähnlichen Grund entfernt: Die statistisch entdeckten Infizierten pro 100‘000 Einwohner erreichen offenbar den BAG-Schwellwert nicht – die meisten Länder stufen Russland jedoch als Hochrisikoland ein. Das Gleiche gilt für Serbien, das BAG hat in einem beispiellosen Alleingang das Land nun kurzerhand wieder als „sicher“ eingestuft und von der Liste genommen. Dafür Gibraltar und Monaco draufgesetzt – was sicher entscheidend ist, da diese Miniaturländer bestimmt viele Touristen in die Schweiz schicken. Die Liste ist nicht nur willkürlich aufgesetzt, sondern schlichtweg falsch.
„Das BAG irrlichtert nach den Ansätzen von Donald Trump.“
Vielleicht hatte Donald Trump doch recht: einfach nicht testen, dann gibt es auch weniger Infizierte.
Richtig, offensichtlich irrlichtert das BAG nach diesem Ansatz: Länder, die wenig testen, kommen nicht auf die Liste, weil wenig Infizierte entdeckt werden. Nur ganz wenige afrikanische Länder sind deshalb auf der Risikoliste. Namibia wurde diese Tage plötzlich als Risikoland eingestuft. Warum? Namibia verfügt wohl über das beste Gesundheitssystem auf dem Kontinent, es wird viel getestet – also kam es aufgrund der entdeckten und rapportierten Infizierten auf die Liste – fast alle andern Länder in Afrika nicht. Das ist seitens BAG tatsächlich Missmanagement und führt zu falschen Entscheiden. Die so beeinflussten Reiseströme haben mit diesen Fehlentscheiden letztlich einen negativen Einfluss auf die Epidemie in der Schweiz und auch negative wirtschaftliche Konsequenzen. Kommt hinzu, dass die Quarantäne kaum überprüft wird. In einer Krise kommt leider irgendwann ein Punkt, wo nicht mehr nur auf Selbstverantwortung gesetzt werden kann, sondern auf Vollzug und Kontrolle – es kostet sonst volkswirtschaftlich einfach zu viel.
Inwieweit schwingt bei diesen Länderlisten auch Protektionismus mit?
Natürlich besteht die Vermutung, dass man die Gunst der Stunde ergreift und nun die Leute im eigenen Land behalten möchte. Sie sollen hier Urlaub machen und hier konsumieren. Das wäre natürlich ein sehr kurz gegriffener Ansatz, denn beim Reisen geht es ja nicht nur um Urlaub, sondern auch um Geschäftsreisen, welche volkswirtschaftlich relevant sind.
„Es besteht ein Restrisiko, dass überhaupt nie wirklich wirksame Vakzine gefunden werden.“
Wenn der Impfstoff demnächst nicht kommt: Wie geht es dann weiter?
Dann wird es eben genau so weitergehen! Bis Impfstoffe flächendeckend vorhanden sind und verteilt und appliziert werden, kann es vielleicht noch ein bis zwei Jahre dauern. Der Novartis Chef liess jüngst verlauten, ein Impfstoff sei realistischerweise frühestens in 24 Monaten marktfähig. Oder sollten wir eher Donald Trump oder Putin glauben? Dann sprechen wir von diesem Herbst…
Es besteht tatsächlich ein Restrisiko, dass überhaupt nie wirklich wirksame Vakzine gefunden werden. Aber das wäre ein eher unwahrscheinliches Worstcase-Szenario. Das zweite Risiko besteht darin, dass diese Impfungen dann vielleicht gar nicht lange wirken. Das wäre weniger schlimm, aber sehr unangenehm. Die Pharmaindustrie zumindest würde sich freuen.
Das mit der Herdenimmunität ist ja nun wohl vom Tisch, nicht?
Das war eigentlich nie eine reelle Option. Der Weg dorthin kann das Gesundheitssystem bis über die Kollapsgrenze hinaus belasten. Wir schätzen die Infektionsrate in der Schweiz zurzeit auf rund 5%. Das entspricht mehr als dem Zehnfachen der effektiv positiv Getesteten. Leider können wir die genaue Zahl nach wie vor nur schätzen, da wir immer noch keine Random-Tests (wie in der Markforschung üblich) machen. Vielleicht sollten wir von Afghanistan lernen (lacht)! Und ob diese 5% der Bevölkerung nun auch wirklich immun sind – und wie lange sie immun bleiben – wissen wir auch nicht. Wenn wir mehr wüssten, könnten wir auch mehr planen und fundierter entscheiden.
„Wenn wir nun in einem halben Jahr rund 5% Immunität hingekriegt haben, könnte es also sechs bis sieben Jahre dauern bis zur Herdenimmunität.“
Das heisst, es würde in der Tat ewig dauern, bis eine gewünschte Herdenimmunität von z.B. 65% realisiert wird.
Genau. Wenn wir nun in einem halben Jahr rund 5% Immunität hingekriegt haben, könnte es also sechs bis sieben Jahre dauern bis zur Herdenimmunität. Aber das sind nur lineare Hochrechnungen und Zahlenspielereien. Es braucht auf jeden Fall eine wirkungsvolle und möglichst nachhaltige Impfung.
Aber nochmals: Und wenn diese gar nie kommt?
Wie gesagt: Dann geht es einfach so weiter. Distanzhalten, Hygieneauflagen, punktuell Maskenpflicht, Versammlungsbeschränkungen, Reisebeschränkungen. Unser Leben würde sich längerfristig verändern; wir müssten in der Tat durch das Tal der Tränen. Die Pandemie wäre dann kein vorübergehendes Ereignis mehr, sondern ein ziemlich unangenehmer Dauerzustand. Abgesehen davon würde sich aufgrund der sozialen Distanzen unser ganzes Sozialverhalten ändern. Es würde quasi ein negativer sozialer Quantensprung stattfinden, einhergehend mit dem schon laufenden positiven digitalen Quantensprung. Vielleicht hat das BAG eine Antwort darauf…
Schlimm würde es beispielsweise die Luftfahrtindustrie und den globalen Tourismus treffen, auch die Freizeit- und Eventindustrie. Hier wäre mit einer Teilvernichtung dieser Wirtschaftszweige zu rechnen. Schulen müssten sich längerfristig auf einen Online-Betrieb einstellen, Homeoffice würde noch mehr ausgebaut, mit entsprechenden Kollateralschäden z.B. im gewerblichen Immobilienbereich. Das BIP würde weiter unter Druck kommen, die Arbeitslosenraten weiter steigen. Alles ziemlich unappetitliche Szenarien. Wir müssen einfach hoffen, dass Impfstoffe zumindest mittelfristig vorliegen. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Plan B für den Fall, dass dies nicht eintreffen sollte. Inzwischen bleibt zu hoffen, dass die Wirtschaft einigermassen weiterarbeiten kann – ansonsten die Grundlage für alle Problemlösungen entzogen wird.
Also könnten wir vielleicht doch von einer Zeitenwende sprechen?
Hmm. Falls mittelfrisig keine Impfstoffe kommen: ja, vielleicht!
„Ich schliesse Rücktritte im Bundesrat nicht aus, wenn einmal alles an die Oberfläche kommt.“
Was sollte unsere Regierung nun tun?
Als Sofortmassnahme sollte der Bundesrat das Krisenmanagement sofort an einen professionellen Krisenstab abgeben. Und die Köpfe im BAG sollten ausserdem raschmöglichst ausgetauscht werden. Mittelfristig braucht es anschliessend eine Aufarbeitung der Fehler. Auch muss die Arbeit des Bundesrates neu bewertet werden. Ich schliesse Rücktritte nicht aus, wenn einmal alles an die Oberfläche kommt und verarbeitet wird. „The day after“ wird mit Sicherheit Konsequenzen haben.