Die Globalisierung wird nicht abnehmen, sondern zunehmen!

Oder was passiert, wenn China amerikanische Firmen klaut?

Schliesslich sei die Globalisierung an der wirtschaftlichen Misere schuld, welche die Pandemie hervorgerufen hat. In der Tat ist es offensichtlich, wie plötzlich unterbrochene Lieferketten zu punktuellen Engpässen führen konnten. Medikamente wurden knapp, medizinische Ausrüstungen fehlten. Auch im Supermarkt fehlten vorübergehend ein paar Artikel. „Das hat man nun von der Globalisierung.“ Die Pandemie wird zu einem Abgesang auf die Globalisierung führen, Industrien werden heimgeholt. Autonomie ist jetzt angesagt. Soweit viele Stimmen. Alles falsch: Es wird das Gegenteil eintreten, die Globalisierung wird weiter zunehmen! Und wer sich ihr entgegenstellt, wird verlieren.

Der nationale Egoismus nimmt zu

Zur offensichtlich gewordenen, grossen internationalen Abhängigkeit kommt hinzu, dass sich einzelne Staaten in der Krise plötzlich ziemlich egoistisch verhalten: Sie klauen einander Masken, horten Medikamente, kaufen sich bei Impfstofffirmen mit exklusiven Belieferungsverträgen ein. Die Grenzen werden ohne Absprache geschlossen, Risikogebiete zum Teil willkürlich definiert und Quarantänen ohne Absprache und Koordination verhängt. Die Stimmen werden lauter, dass die Globalisierung nun vielleicht Geschichte sein könnte. Wirklich…?

Globalisierungsgegner auf dem Holzweg

Schon vorher gab es (zumeist etwas verklärte) Globalisierungsgegner. Oder die Verschwörungstheoretiker, die eine Weltregierung aufziehen sahen – also sollte die Globalisierung raschmöglichst gestoppt werden. Leider lässt sich die fortschreitende Digitalisierung indessen nicht aufhalten, die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten, die Onlinesysteme, welche den ganzen Globus plötzlich zum persönlichen Supermarkt und Informationszentrum machen. Die fortschreitende Vernetzung lässt sich nun mal nicht per Dekret, Wunsch oder Überzeugung stoppen. Paradoxerweise legt die Corona-Krise die Globalisierung nicht nur offen und macht sie sichtbarer, sondern wird sie auch fördern: Die Abstimmung der einzelnen Staaten aufeinander wird zwangsmässig eher zunehmen, Forschung und Entwicklung von Impfstoffen werden globaler aufgestellt, der Informationsaustausch zwangsmässig ebenso intensiviert. Einzelne egoistisch-nationale Aktivitäten werden das nicht stoppen können.

Das zum Teil kollektive Versagen in der Pandemiebekämpfung und die – vielleicht erst später – einzugestehenden Fehler werden die Globalisierung ebenso eher fördern. Die Pandemiekrise ist nun einmal ein Weltthema.

Globalisierung ist zum Teil technologiegetrieben

Die technologische Entwicklung der einzelnen Branchen und Gesellschaften wird ebenso wenig aufzuhalten sein wie deren globale Verbreitung. Damit wird der Austausch von Information und Wissen beschleunigt und so auch Wertschöpfungs- und Lieferketten noch stärker globalisiert. Auch die Verzahnung der Finanzsysteme wird durch diesen Austausch weltweit gefördert. Diese selbstlaufenden Tendenzen lassen sich genau so wenig aufhalten wie einen Tsunami. 

Die Einwegmentalität bröckelt

Zwar steigt das Nachhaltigkeitsdenken (zumindest in einigen reifen Volkswirtschaften), welche gewisse wenig sinnvolle Globalisierungsexzesse berechtigterweise in Frage stellen. Trotz aller Wegwerfmentalität wird sich damit, zumindest in diesen sozialen Umfeldern, längerfristig vermehrt Qualität durchsetzen. Diese wird sich verbessern, je mehr Anbieter auf den Plan kommen. Es muss in der Tat nicht alles made in China sein. Auch made in Vietnam oder made in Malaysia kann weiterhelfen – für die Qualität, für die Auswahl, zur Reduktion der Abhängigkeit. Der Markt wird die Globalisierung damit jedoch nicht behindern, sondern eher fördern.

Wenn China richtigerweise in der Kritik steht betreffend seiner Zivilrechtsordnung sowie seinem globalen Umgang mit den „Intellectual Properties“ und nun handelspolitisch von den USA ausgebremst werden soll, wird das die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt nur anspornen, noch besser zu werden. Wer war übrigens fähig, binnen Wochen eine weltweite Maskenproduktion in Milliardenhöhe hochzufahren? China. Ob die Firma Flawa in der Schweiz wohl inzwischen die Maschinen (aus China übrigens) für die Maskenproduktion angeworfen hat?

Ist die EU nur etwas „Geografisches“?

Der „coronitte“ Digitalisierungsschub hat alles näher gebracht. Die globale Kommunikation wird selbstverständlicher. Damit wird nicht nur der Austausch von Information gefördert, sondern auch der Austausch von Waren und Dienstleistungen. Die Lieferketten vernetzen sich so nur noch mehr.

Doch da funkte einiges dazwischen in der Krise: Der mangelnde Zusammenhalt in der EU zum Beispiel. Dieser war ziemlich offenkundig. Sehr plakativ erscheinen im Moment die gegenseitig und unkoordiniert verhängten Reise- und Quarantänebestimmung, welche zum Beispiel den Schengenraum als inexistent erscheinen lassen. Mit Verwunderung beobachten wir das alles. Ebenso wundern wir uns heute, dass die Infizierten und Toten der EU nie zu einem Total in der EU zusammengezählt wurden – ein durchaus symptomatischer Vorgang. Offenbar gibt es „Europa“ also gar nicht, und bleibt denn dieses Europa letztlich nur etwas Geografisches? Sollte gerade dieses nationalistische Verhalten ein Zeichen der Entflechtung reflektieren und damit den Abgesang auf die Globalisierung einläuten? Nein, das wäre ein Trugschluss. Selbst ein Auseinanderbrechen der EU hätte nichts mit „Entglobalisierung“ zu tun. Denn ein allfälliges Auseinandergehen würde letztendlich den Austausch von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Informationen wenig hemmen. Die damit einhergehenden Egalisierungseffekte zwischen den Staaten würden grösstenteils bleiben, ungeachtet vieler politischer und sozialer Risse – zumal viele technologiegetrieben und damit nicht aufzuhalten sind. Mehr Föderalismus fördert in der Regel auch den Wettbewerb und die Effizienz. Eines der besten Beispiele dafür ist der kantonale Steuerwettbewerb in der Schweiz.

Verlierer: die USA

Wenn sich die USA mit ihrem nicht sehr erfolgreichen Handelskrieg gegen China und einer verstärkten „America first“-Attitüde weiterhin profilieren wollen, so werden sie damit langfristig nur verlieren. Und alle andern ebenso, die sich vergleichbar abzukapseln versuchen.

Ein neues Konfliktzeitalter ist mit dem Fall TikTok angebrochen: Die Zwangsveräusserung der chinesischen Tochtergesellschaft an einen amerikanischen Konzern stellt staatliches Raubrittertum dar. In dieser Grössenordnung fand ein solcher Vorgang zum letzten Mal in Venezuela statt, als Hugo Chavez die Ölindustrie verstaatlichte. Auch dies ist – etwas sarkastisch – eben Globalisierung: Man klaut sich global Firmen zusammen. Dass Blackrock und andere Finanz-Heuschrecken ziemlich unverfroren und global agieren, muss in einer einigermassen freien und marktwirtschaftlichen Welt hingenommen werden. Dass jedoch die grösste Volkswirtschaft der Welt, welche persönliche und unternehmerische Freiheit auf ihr Banner schreibt, ausländisch dominierte Firmen unter dem Vorwand des Datenschutzes annektiert, ist ein starkes Stück. Was wohl die mögliche neue Eignerin Microsoft, dieser etwas behäbig gewordene Bürosoftware-Konzern, mit den Daten der jungen Nutzer machen wird? Nun, Microsoft wird sie nutzen… Dies entspricht letztlich nichts anderem als dem Geschäftsmodell von TikTok: nämlich aufgrund der Nutzerprofile Algorithmen entwerfen, welche anschliessend Nutzerangebote vorschlagen und passende Werbung platzieren. Microsoft würde alle Nutzerdaten also fein säuberlich speichern und verwenden, wo immer es geht – mit dem Einverständnis der Nutzer gar. Diesen ist es so oder so ziemlich egal, was mit ihren Daten passiert. Was der chinesische Staat (nicht nur die Firma TikTok) wohl mit den Daten gemacht hätte, hätte er tatsächlich Zugriff darauf? Wohl dasselbe: nutzen? Aber wie und wofür? Es herrscht doch etwas Erklärungsbedarf.

Was passiert, wenn China amerikanische Firmen klaut?

Man stelle sich vor, die chinesische Regierung erpresst einen amerikanischen Konzern, um dessen chinesische Tochterfirma in Shanghai (welche einen mehrfachen Milliardenwert darstellt) an einen chinesischen Konzern zu verkaufen. Wenn nicht, so binnen fünf Wochen, würde die Firma geschlossen. Donald Trump würde in einem solchen Erpressungsfall wohl ziemlich überstürzt die amerikanische Botschaft in Peking schliessen und einen Flugzeugträger losschicken. Genau dies tut er jedoch selber mit den chinesischen Eigentümern von TikTok.

Die wahre Qualität dieses Firmenklaus von TikTok wurde jedoch erst augenscheinlich, als der amerikanische Präsident eine fette Kommission von Microsoft für diesem inflagranten Deal einforderte, so dieser zustande kommen sollte.

Das „Nachhauseholen“ von Industrien könnte nun vordergründig als Zeichen der globalen Entflechtung interpretiert werden. Die Stigmatisierung von Huawei geht z.B. in dieselbe Richtung. Es handelt sich meistens um Einzelmassnahmen, insbesondere der amerikanischen Administration. Vorgeschoben werden (berechtigte oder unberechtigte) Vorwürfe der Datenspionage; tatsächlich geht es indessen vorab um „America first“ – also um blanken Protektionismus zugunsten der einheimischen Industrie.

Es gibt genügend Anschauungsunterricht, wohin Protektionismus schliesslich führt: letztlich immer zu Ineffizienz, zu technologischem Rückschritt und am Ende zu einer reduzierten Wettbewerbsfähigkeit. Offene Volkswirtschaften waren schon immer erfolgreicher – das lehren uns nicht nur die meisten Ökonomen, sondern das lehrt uns auch die Geschichte. Wenn die USA nun vermehrt auf Protektionismus setzen, werden sie aus diesem Spiel als Verlierer hervorgehen.

Diesen einzelnen „Entglobalisierungs-Erscheinungen“ steht ein Übermass an nicht aufhaltbaren Globalisierungsfortschritten gegenüber. Einzelne nationalistische Tendenzen fallen also nicht sehr ins Gewicht.

Keine Erdbeeren mehr…?

Einzelne Regierungen können die weiteren Globalisierungsschritte nicht aufhalten. Es ist so, wie wenn man einen Markt steuern wollte – das funktioniert selten. Die Marktteilnehmer möchten die Globalisierung nämlich nicht stoppen. Im Gegenteil, sie tragen täglich entweder mit ihrem Konsum oder als Produzent oder Dienstleister dazu bei. Die Globalisierung ist nun einmal an einem „Point of no return“.

Alle national verbrämten Ideen, „die Industrien zurückzuholen“, sind eine Illusion. Davon träumen vielleicht ein paar populistische Politiker, nicht aber Unternehmer. Übrigens, damit wir es nicht vergessen: Erfolgreiche Unternehmen werden fast ausnahmslos von Unternehmern und nicht von Staaten geführt!

Wenn Renault nun fünf Mia Euro vom Staat erhält, um sich fit zu trimmen, wird dies wohl kaum funktionieren. Produktionen und die Teile- und Knowhow-Beschaffung sollen nach Frankreich repatriiert wird. „Rénationalisation“ oder „réindustrialisation“? Bonne chance.

Natürlich kann jedes Individuum zur weltweiten Ökobilanz im positiven Sinne betragen, wenn wir im Supermarkt im Winter keine Erdbeeren aus Südafrika kaufen oder darauf verzichten, bei Alibaba in China ein Paar Turnschuhe zu bestellen. Selbst eine ansehnliche Summe solcher westlichen vernünftigen Einzelentscheide wird die fortschreitende Vernetzung der globalen Lieferketten jedoch nicht stoppen. Wenn Granitfliesen aus China in unserem Hof verlegt werden, ist das wohl wenig sinnvoll. Wenn die Transportkosten energiebedingt längerfristig jedoch steigen, wird sich das Problem vielleicht von selbst lösen – aufhalten können wir diese zum Teil irrwitzigen Beschaffungswege jedoch kaum.

Alle zum Teil gut gemeinten subjektiven vernünftigen Verhaltensmuster und Handlungen oder einzelne verquere politische Nationalisierungsentscheide sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein, um die Globalisierung zu verzögern. Globalisierung kann nicht gestoppt werden.

Die Pandemie ist letztlich ein Brandbeschleuniger der Globalisierung

Die Pandemiekrise zeigt, dass man diese Krise nicht national lösen kann. Abschottung wird uns nämlich weder die medizinischen Ausrüstungen, noch Medikamente, noch Impfstoffe oder einen ungehinderten wissenschaftliche Zugang garantieren. Eigentlich hat uns Cocid-19 nicht nur de facto, sondern auch psychologisch mehr Internationalität gebracht: Die ganze Welt war plötzlich in unserem Wohnzimmer zu Gast.

Auch aus Sicht der Firmen wurde die globale Vernetzung gefördert: Lieferengpässe und unterbrochene Lieferketten mussten blitzartig behoben werden. Man lernte – und zwar sehr rasch.

Natürlich lernte man auch, wie ohnmächtig abhängig wir sind von diesen perfekt getakteten Just-in-time-Lieferungen, diesen fein austarierten Netzen aus globalen Anlieferungen.

Die Konsequenzen heute sind klar: mehr Redundanz. Das heisst allerdings, eben nicht nur auf Eigenproduktion abstellen, sondern die Beschaffung diversifizieren. Das bedeutet Ausweichen auf möglichst unabhängige Märkte – auf globaler Basis.

Primär- und Zwischenprodukte, aber auch Dienstleistungen (wie z.B. Software) dürfen eben nicht nur von einem einzigen Ort bezogen werden – an sich eine Binsenwahrheit. Es brauchte wohl diese Pandemie-Krise, um die Klumpenrisiken sichtbar zu machen. Die künftigen multiplen Absicherungen werden etwas Geld kosten, jedoch die internationale Vernetzung nur fördern!

Die singuläre Abhängigkeit von sich selbst wäre nicht sehr intelligent

Abgesehen von einzelnen protektionistischen Spielen à la Trump werden längerfristig die Handelsschranken zwischen den Staaten eher abgebaut werden. Der Druck der Industrie auf die Politik wird steigen, die weltweiten Beschaffungsströme möglichst ungehindert fliessen zu lassen. Güter durchlaufen während ihren Entstehungsprozessen bekanntlich oft mehrmals die Länder, quer durch die Welt. Im Zuge der künftigen diversifizierten Beschaffung wird sich dies noch verstärken. Der Abbau von Handelsschranken – und auf einer globalen Basis wird dies kommen, trotz punktueller Handelstreitigkeiten –  wird die Versorgungssicherheit der Industrie nur verbessern. Das gilt übrigens auch für die Landwirtschaft, bzw. die Versorgungssicherheit eines Staates mit Nahrungsmitteln. Gouverner c’est prévoir: Dazu gehört auch die Sicherstellung einer gewissen Autonomie – welche sich mit nationalistischen Manövern gerade nicht erzielen lässt. Die singuläre Abhängigkeit von sich selbst ist nun einmal nicht sehr intelligent, eine breite Aufstellung bringt mehr Sicherheit.

Renationalisierungen und der Abbau der Globalisierung sind einfach zu teuer. Ein paar Politiker möchten diese zwar herbeireden – aber realistisch sind sie nicht. Und wer sollte diese Massnahmen denn, falls tatsächlich in Angriff genommen, bezahlen? Der Staat? Wohl kaum. Das „System“? Der „Markt“? Eine Illusion.

Die Globalisierung wird also fortschreiten. Das können auch ein paar Handelskriege nicht bremsen, denn Handel ist nicht gleich Globalisierung. Die Globalisierung hat uns – trotz ein paar negativen Nebeneffekten – Wohlstand gebracht. Wer sich der Globalisierung in den Weg stellt, kann nur verlieren.

Sollten wir von Afghanistan lernen?

INTERVIEW MIT DR. REBECKA CARPENTER

„Vielleicht geht es Corona-mässig so nun einfach weiter.“

True Economics: Rebecka, wir führten unser letztes Interview vor gut drei Monaten. Sie hielten damals mit Ihrer Kritik am Pandemie-Management nicht allzu stark zurück. Wie beurteilen Sie dieses nun heute?

Rebecka Carpenter: Nun, leider besteht immer noch kein professionelles Krisenmanagement. Der Bundesrat hatte die heisse Kartoffel einfach an die Kantone weitergereicht und sich in corpore in den Sommerurlaub abgemeldet. Und das BAG rudert seither hilflos durch die Krise. Der Bundesrat ist inzwischen zwar wieder zurück. Er habe sich kurz „orientieren lassen über die Situation“ – und hat anschliessend ein paar widersprüchliche Informationen abgegeben.

immerhin haben wir inzwischen epidemiologisch einiges dazugelernt – allerdings reagieren wir nicht drauf.

„Die Krisenführung offenbart ein verblüffendes Mass an Inkompetenz.“

Sie hatten den Pandemie-Führungsstab in der Schweiz einmal mit einer Muppet-Show verglichen.

Diesen Vergleich hatte ich zurückgenommen! Was ich damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte – und heute sogar noch verstärkt meine: Die Führung ist unkoordiniert und offenbart ein verblüffendes Mass an Inkompetenz. Dabei geht es um die wohl grösste volkswirtschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir schlingern ziemlich führungslos durch diese Misere, vordergründig gemanagt von subalternen Beamten eines Gesundheitsamtes oder durch kantonale Behörden- oder Regierungsvertreter. Tatsächlich erfolgt jedoch alles ziemlich unkoordiniert. Dabei geht es heute primär gar nicht mehr um die Gesundheit – sondern darum, die Lage volkswirtschaftlich in den Griff zu bekommen.

Ursprünglich attestierten die Bevölkerung und die Medien dem Bundesrat und dem BAG gute Noten, deren Protagonisten galten als besonnen. Nun tritt jedoch zunehmend an die Oberfläche, dass diese Ruhe nur mangelnde Reaktionsfähigkeit, schlechte Kommunikation und Führungsmangel übertüncht. Nochmals: Es fehlt ein professioneller Krisenstab. Aber davon haben wir schon vor Monaten gesprochen.

Nun, eine gewisse Lernkurve ist doch auszumachen!?

Epidemiologisch haben wir, wie gesagt, dazugelernt – klar. Aber nicht, wie wir eine Volkswirtschaft optimal aus dieser Krise führen müssen.

Heute wissen wir immerhin mit einiger Sicherheit, wo die Seuchenherde entstehen. Zumindest europaweit sind drei Hotspots auszumachen, welche für den überwiegenden Teil der Infektionen verantwortlich sind: Es sind die Clubs, Bars und Events (und allenfalls Schulen),  zweitens verarbeitende Betriebe wie Schlachthöfe oder Gemüseverarbeiter und drittens Erntehelfer- oder ähnliche Gastarbeiter-Setups mit problematischen Unterbringungsmöglichkeiten. In der Schweiz sind die beiden letzten Herde eher zu vernachlässigen. Rein statistisch sind zudem die Ansteckungen im Familienkreis signifikant auffällig – aber das ist auf die Erhebung zurückzuführen, schliesslich wird im nächsten Umfeld nach einer Folge-Ansteckung am schnellsten getestet. Zudem liessen sich die fast vier Millionen Haushalte in der Schweiz ja schlecht verbieten… Abgesehen davon kennt das BAG zum überwiegenden Teil gar nicht den Ursprung der Infektionen. Die Datenlage ist sehr dünn.

„Das Virus kommt nicht durchs Cheminée“

Die letzten Kommunikationskorrekturen des BAG bezüglich der Ansteckungen waren übrigens erneut falsch. Die Feststellung, dass die meisten Ansteckungen nun plötzlich im Familienkreis erfolgen sollen, ist eine komplette Missinterpretation. Das Virus kommt ja nicht, zusammen mit dem Samichlaus, durchs Cheminée rein. Es geht doch darum, die Vor-Ansteckung (oder Initialansteckungen) ausserhalb der Familien einzugrenzen. Diese Ansteckungen finden eben durch Aussenstehende statt, welche sich zum Beispiel über Clubs oder ungeeignet geschützte Arbeitsplätze in ein neues Umfeld verbreiten. Diese Erkenntnis deckt sich übrigens mit der weltweiten Beurteilung – das BAG wird das wohl nicht ändern können.

Hier müssten wir also konsequent ansetzen: Das heisst die Clubs und ähnliche Etablissements bis auf weiteres einfach schliessen, die Schlachthöfe und dergleichen nur mit getestetem Isolationspersonal arbeiten lassen, Gastarbeiter erst Tests unterziehen und dann korrekt unterbringen, aber mit geregeltem Aussenkontakt. Auf diese Weise könnten der Rest des sozialen Lebens und die Wirtschaft fast normal weiterfunktionieren – mit den nötigen Hygienemassnahmen und Distanzhalten natürlich.

Clubs sind europaweit zum grossen Teil geschlossen oder mit erheblichen Auflagen versehen. Warum nicht in der Schweiz?

Es gibt keinen medizinischen Grund dafür. Es ist unerklärlich. In Deutschland wird nicht einmal darüber diskutiert, ob die Clubs wieder öffnen sollen. Es müssen bei uns politische Gründe vorliegen.

Und die Kirchen? Oder die Schulen?

Die Kirchen müssten wir leider so wie Clubs behandeln, und in den Schulen müsste versucht werden, Abstände einzuhalten. Falls das nicht geht: Maskenpflicht. Und die Schulen müssten bei einem Vorfall punktuell geschlossen werden, mit sofortiger Umstellung auf Distance Learning. Das muss inzwischen auch für die Lehrerschaft zumutbar sein, denn auch Lehrpersonal muss lernfähig bleiben.

Nun sollen jedoch grössere Events wieder erlaubt werden.

Unerklärlich – zumal die diesbezügliche Ankündigung mit einer deutlichen Erhöhung der Fallzahlen zusammenfällt. Als die Fallzahlen vor Monaten auf dieser Höhe waren, befand sich das Land mitten in einem Lockdown, mit einer Versammlungsbegrenzung auf fünf Personen.

„Letztlich geht es um Fussball gegen Volkswirtschaft“

Es scheint eben um Wirtschaft gegen Gesundheit zu gehen.

Nicht ganz. In diesem Fall geht es letztlich um Fussball und Eishockey gegen Wirtschaft. Das Einknicken vor der Sportlobby gefährdet letztlich das Funktionieren der Volkswirtschaft. Wenn die Fallzahlen aufgrund von Massenveranstaltungen wieder steigen, werden neue Einschränkungen kommen, welche für die ganze Wirtschaft gelten.

Es herrscht einige Verwirrung im Land: Jeder Kanton macht sein eigenes Ding in Sachen Krisenbekämpfung.

Ja, das nennt sich vordergründig Föderalismus, ist aber nur ein eklatanter Führungsmangel. Das Virus ist ja überall dasselbe, und es verbreitet sich überall gleich. Dass eine Graduierung bei den Epidemie-Massnahmen je nach Gebiet oder Kanton stattfinden muss, ist klar. Die Massnahmen sollten jedoch identische Stufen aufweisen, je nach lokaler Epidemielage. Wie gesagt machen hier weder der Bundesrat, noch das BAG, noch die Kantone bella figura. So entstehen denn auch kuriose Vorschriften, die auf lokalem Kompetenzmangel beruhen: Im Kanton Waadt zum Beispiel herrscht in den Läden Maskenpflicht ab zehn Kunden in einem Laden. In der IKEA laufen die Leute mit der Maske rum, in der kleinen Metzgerei darf man sich jedoch aus nächster Distanz maskenfrei anhusten. Es erinnert an den unsäglichen Bundesratsentscheid im Mai dieses Jahres, Tattoo-Studios wieder zu öffnen, nicht aber die Gartencenter.

„Die Länderrisikoliste des BAG ist nicht nur willkürlich aufgesetzt, sondern zum Teil auch falsch.“

Das BAG hat sich nun schon viele Schnitzer erlaubt. Wie beurteilen Sie die sogenannte „Risikoländerliste“ des BAG, aufgrund derer die Quarantänepflicht für Einreisende aus diesen Ländern definiert wird?

Diese Liste ist sowohl statistisch als auch kommunikationsmässig ein Debakel. Sie beruht auf getesteten und rapportierten Infizierten. Dazu ein Beispiel: In Afghanistan beträgt die Infektionsrate 32%. Die Daten beruhen auf Random-Tests mit einer Hochrechnung – welche international anerkannt ist. Offiziell wurden aufgrund von Tests jedoch nur 37‘000 Infizierte entdeckt, nämlich nur 30-mal weniger als die hochgerechnet über 10 Millionen Infizierten. Das BAG setzt Afghanistan aufgrund der wenigen rapportierten Tests nicht auf die Risikoliste, weshalb auch eine Quarantänepflicht entfällt. Luxemburg jedoch ist auf der Liste, dort wird die komplette Bevölkerung getestet – kein Wunder, entdeckt man so mehr Infizierte.

Russland wurde von der BAG-Liste wohl aus einem ähnlichen Grund entfernt: Die statistisch entdeckten Infizierten pro 100‘000 Einwohner erreichen offenbar den BAG-Schwellwert nicht – die meisten Länder stufen Russland jedoch als Hochrisikoland ein. Das Gleiche gilt für Serbien, das BAG hat in einem beispiellosen Alleingang das Land nun kurzerhand wieder als „sicher“ eingestuft und von der Liste genommen. Dafür Gibraltar und Monaco draufgesetzt – was sicher entscheidend ist, da diese Miniaturländer bestimmt viele Touristen in die Schweiz schicken. Die Liste ist nicht nur willkürlich aufgesetzt, sondern schlichtweg falsch.

„Das BAG irrlichtert nach den Ansätzen von Donald Trump.“

Vielleicht hatte Donald Trump doch recht: einfach nicht testen, dann gibt es auch weniger Infizierte.

Richtig, offensichtlich irrlichtert das BAG nach diesem Ansatz: Länder, die wenig testen, kommen nicht auf die Liste, weil wenig Infizierte entdeckt werden. Nur ganz wenige afrikanische Länder sind deshalb auf der Risikoliste. Namibia wurde diese Tage plötzlich als Risikoland eingestuft. Warum? Namibia verfügt wohl über das beste Gesundheitssystem auf dem Kontinent, es wird viel getestet – also kam es aufgrund der entdeckten und rapportierten Infizierten auf die Liste – fast alle andern Länder in Afrika nicht.  Das ist seitens BAG tatsächlich Missmanagement und führt zu falschen Entscheiden. Die so beeinflussten Reiseströme haben mit diesen Fehlentscheiden letztlich einen negativen Einfluss auf die Epidemie in der Schweiz und auch negative wirtschaftliche Konsequenzen. Kommt hinzu, dass die Quarantäne kaum überprüft wird. In einer Krise kommt leider irgendwann ein Punkt, wo nicht mehr nur auf Selbstverantwortung gesetzt werden kann, sondern auf Vollzug und Kontrolle – es kostet sonst volkswirtschaftlich einfach zu viel.

Inwieweit schwingt bei diesen Länderlisten auch Protektionismus mit?

Natürlich besteht die Vermutung, dass man die Gunst der Stunde ergreift und nun die Leute im eigenen Land behalten möchte. Sie sollen hier Urlaub machen und hier konsumieren. Das wäre natürlich ein sehr kurz gegriffener Ansatz, denn beim Reisen geht es ja nicht nur um Urlaub, sondern auch um Geschäftsreisen, welche volkswirtschaftlich relevant sind.

„Es besteht ein Restrisiko, dass überhaupt nie wirklich wirksame Vakzine gefunden werden.“

Wenn der Impfstoff demnächst nicht kommt: Wie geht es dann weiter?

Dann wird es eben genau so weitergehen! Bis Impfstoffe flächendeckend vorhanden sind und verteilt und appliziert werden, kann es vielleicht noch ein bis zwei Jahre dauern. Der Novartis Chef liess jüngst verlauten, ein Impfstoff sei realistischerweise frühestens in 24 Monaten marktfähig. Oder sollten wir eher Donald Trump oder Putin glauben? Dann sprechen wir von diesem Herbst…

Es besteht tatsächlich ein Restrisiko, dass überhaupt nie wirklich wirksame Vakzine gefunden werden. Aber das wäre ein eher unwahrscheinliches Worstcase-Szenario. Das zweite Risiko besteht darin, dass diese Impfungen dann vielleicht gar nicht lange wirken. Das wäre weniger schlimm, aber sehr unangenehm. Die Pharmaindustrie zumindest würde sich freuen.

Das mit der Herdenimmunität ist ja nun wohl vom Tisch, nicht?

Das war eigentlich nie eine reelle Option. Der Weg dorthin kann das Gesundheitssystem bis über die Kollapsgrenze hinaus belasten. Wir schätzen die Infektionsrate in der Schweiz zurzeit auf rund 5%. Das entspricht mehr als dem Zehnfachen der effektiv positiv Getesteten. Leider können wir die genaue Zahl nach wie vor nur schätzen, da wir immer noch keine Random-Tests (wie in der Markforschung üblich) machen. Vielleicht sollten wir von Afghanistan lernen (lacht)! Und ob diese 5% der Bevölkerung nun auch wirklich immun sind – und wie lange sie immun bleiben – wissen wir auch nicht. Wenn wir mehr wüssten, könnten wir auch mehr planen und fundierter entscheiden.

„Wenn wir nun in einem halben Jahr rund 5% Immunität hingekriegt haben, könnte es also sechs bis sieben Jahre dauern bis zur Herdenimmunität.“

Das heisst, es würde in der Tat ewig dauern, bis eine gewünschte Herdenimmunität von z.B. 65% realisiert wird.

Genau. Wenn wir nun in einem halben Jahr rund 5% Immunität hingekriegt haben, könnte es also sechs bis sieben Jahre dauern bis zur Herdenimmunität. Aber das sind nur lineare Hochrechnungen und Zahlenspielereien. Es braucht auf jeden Fall eine wirkungsvolle und möglichst nachhaltige Impfung.

Aber nochmals: Und wenn diese gar nie kommt?

Wie gesagt: Dann geht es einfach so weiter. Distanzhalten, Hygieneauflagen, punktuell Maskenpflicht, Versammlungsbeschränkungen, Reisebeschränkungen. Unser Leben würde sich längerfristig verändern; wir müssten in der Tat durch das Tal der Tränen. Die Pandemie wäre dann kein vorübergehendes Ereignis mehr, sondern ein ziemlich unangenehmer Dauerzustand. Abgesehen davon würde sich aufgrund der sozialen Distanzen unser ganzes Sozialverhalten ändern. Es würde quasi ein negativer sozialer Quantensprung stattfinden, einhergehend mit dem schon laufenden positiven digitalen Quantensprung. Vielleicht hat das BAG eine Antwort darauf…

Schlimm würde es beispielsweise die Luftfahrtindustrie und den globalen Tourismus treffen, auch die Freizeit- und Eventindustrie. Hier wäre mit einer Teilvernichtung dieser Wirtschaftszweige zu rechnen. Schulen müssten sich längerfristig auf einen Online-Betrieb einstellen, Homeoffice würde noch mehr ausgebaut, mit entsprechenden Kollateralschäden z.B. im gewerblichen Immobilienbereich. Das BIP würde weiter unter Druck kommen, die Arbeitslosenraten weiter steigen. Alles ziemlich unappetitliche Szenarien. Wir müssen einfach hoffen, dass Impfstoffe zumindest mittelfristig vorliegen. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Plan B für den Fall, dass dies nicht eintreffen sollte. Inzwischen bleibt zu hoffen, dass die Wirtschaft einigermassen weiterarbeiten kann – ansonsten die Grundlage für alle Problemlösungen entzogen wird.

Also könnten wir vielleicht doch von einer Zeitenwende sprechen?

Hmm. Falls mittelfrisig keine Impfstoffe kommen: ja, vielleicht!

„Ich schliesse Rücktritte im Bundesrat nicht aus, wenn einmal alles an die Oberfläche kommt.“

Was sollte unsere Regierung nun tun?

Als Sofortmassnahme sollte der Bundesrat das Krisenmanagement sofort an einen professionellen Krisenstab abgeben. Und die Köpfe im BAG sollten ausserdem raschmöglichst ausgetauscht werden. Mittelfristig braucht es anschliessend eine Aufarbeitung der Fehler. Auch muss die Arbeit des Bundesrates neu bewertet werden. Ich schliesse Rücktritte nicht aus, wenn einmal alles an die Oberfläche kommt und verarbeitet wird. „The day after“ wird mit Sicherheit Konsequenzen haben.