Geht jetzt alles unter null…?

Bereits hatten wir uns daran gewöhnt, dass die Zinsen unter null gehen können. Und nun kürzlich sogar das Erdöl (zumindest für Terminkontrakte)! Dass ein Rohstoff, dessen Preis vor nicht allzu langer Zeit durch die Decke ging, einen negativen Preis aufweisen kann, schockiert uns. Aber es entspricht einer ökonomischen Realität. Wir stellen uns die Frage: Welche anderen Werte könnten auch noch unter null gehen?

Schön, dass gewisse Märkte noch richtig spielen, sie kommunizieren die Wahrheit! Lehrbuchmässig nach Angebot und Nachfrage. Und wenn es beispielsweise einfach keine Nachfrage mehr gibt nach Erdöl, alle Lager voll sind und zu wenig verbraucht wird, sinkt der Preis gegen null. Oder eben unter null, wenn mit einem zusätzlichen „Kauf“ zu hohe organisatorische Kosten verbunden sind.

Negative Werte kennen wir doch schon!

Eigentlich hätten wir in Sachen negative Werte bereits genügend konditioniert sein sollen – nur schon aufgrund der unsäglichen negativen Zinsen. Und bis vor kurzem herrschte in der Schweiz teilweise eine negative Inflation – also eine kleine Deflation. Zudem sind in der Finanzwelt negative Werte mit den Futures und Optionen tägliches Brot. Mit der Deflation werden wir wohl bald wieder Bekanntschaft schliessen, denn der Nachfragemangel bei den Konsumgütern wird die Preise drücken.

Auch Firmenwerte können mal ins Negative rücken. Nicht nur im sehr aktuellen Fall von Insolvenzen; kurzweiliger sind eher die Nachrichten von Firmenverkäufen zu Negativpreisen. Der Migros-Konzern kann ein Lied davon singen, stiess sie doch kürzlich ihre über Jahre schlecht geführten Firmen mit einem Zustupf ab – in Millionenhöhe (so Depot oder Office World). Wir sind gespannt darauf, was Coop und Migros demnächst noch als Draufgabe offerieren, wenn sie weitere unrentable Tochtergesellschaften abstossen werden.

Vielleicht könnte im April 2025 die Bundesverwaltung noch ein paar negativ bewertete Firmen übernehmen (dann sollten nämlich die Corona-Kredite zurückbezahlt werden). Auch die Aktien der Swiss darf der Bund vielleicht einmal mit einem negativen Wert übernehmen – so hatte er sich dies ja mit seiner schlecht orchestrierten Kreditvergabe eingehandelt.

Negative Werte auch für Immobilien oder Energie

Auch Immobilienpreise können ins Negative kippen, die Übernahme von Industrie-Brachen beispielsweise muss zusätzlich alimentiert werden, damit sie überhaupt aus dem Markt gehen. Während der Finanzkrise 2008 gingen in Detroit auch Wohnhäuser zu Preisen von einem einzigen symbolischen US$ weg – mit den eingerechneten Transaktionskosten damit auch zu Negativpreisen.

Oder noch ein Beispiel: die Preise für elektrische Energie. Schon seit Jahren beziehen Schweizer Elektrizitätswerke zu gewissen Nachtzeiten Atomstrom aus dem Ausland und erhalten Geld dafür. Die grossen Meiler können eben nicht kurz runter- und dann wieder raufgefahren werden. Also muss der überflüssige Strom raus, koste es, was es wolle. Das ist gelebte einfache Makroökonomie. Wir Schweizer amüsieren uns dann, dass wir nächtlicherweile mit dem Strom, für den wir sogar Geld erhalten haben, Wasser in die Stauseen zurückpumpen. Am Tag darauf produzieren wir mit unseren sauberen Wasserkraftwerken unseren eigenen Strom. Der Schweizer Strom ist dann nicht nur ökologisch konvertiert, sondern auch viel besser, weil mehr wert zu jenem Zeitpunkt, und wir verkaufen ihn womöglich wieder an die Betreibergesellschaften der Atommeiler, die uns den Strom in der Nacht zuvor geliefert hatten. Ja, so geht Mikroökonomie.

Apropos Energie: Wussten Sie, dass unsere Elektrizitätswerke im Sommer auch überschüssigen Strom an die SBB liefern – und dafür noch Geld drauflegen? Nicht, dass dann die sauberen Loks damit betrieben würden, nein: Die SBB stellt mit dem Überschuss-Strom die für den Winter gedachten Weichenheizungen an und vernichtet so Elektrizität. Ein gutgehütetes Geheimnis, keine Fake News!

Noch mehr negative Werte?

Wir meinen damit nicht negative Stimmungen oder gar Beziehungen… Sondern tatsächlich negative Werte. Zum Beispiel Italien: rein bilanztechnisch eigentlich überschuldet, auch Spanien. Müsste man die Länder kaufen, bekäme man vielleicht Bares raus. Denn ihre Bilanzen sind negativ, die Unternehmung Staat ist überschuldet, und sie kriegen aus eigener Kraft kein Geld mehr an den Kapitalmärkten. Sanierungsfälle also. Leider gibt es keinen Markt für Länderkäufe (Donald Trump überraschte zwar kürzlich mit seinem irrlichternden Wunsch, Grönland zu kaufen).

Wir kennen auch die „inversen Nachfragekurven“: Die Nachfrage nach einem Produkt kann steigen, obwohl der Preis steigt. Bei den Nespresso-Kapseln wird es gefühlt wohl auch so sein, allerdings ärgern wir uns dabei, dass mit einer Verkleinerung der Kaffeemenge und einer klugen Verpackung der Preis steigen konnte – ein geniales Geschäftsmodell. Hervorragend funktioniert die inverse Nachfragekurve bei einem Luxusgut mit starkem Brand, so beispielsweise beim Kelly-Bag. Funktioniert es nun auch umgekehrt? Offenbar schon, es ging einfach etwas vergessen in der Lehre. Wenn der Preis komplett sinkt, ist die Nachfrage eben nicht mehr da, weil das Produkt nicht mehr interessant ist. Erst wenn der Preis ins Negative kippt, werden wieder Opportunitätsgewinne geprüft. Wir werden uns daran gewöhnen müssen.

(Vielleicht werden wir 2025 für die Entsorgung von ungebrauchten Masken bezahlen müssen, die wir erst 2020 überteuert eingekauft hatten – ein kleiner ökonomischer Fauxpas.)

Wird doch noch alles gut?

Die Notenpressen werden demnächst auf Hochtouren laufen. Es gibt ja einiges zu finanzieren: laufende und neue Schulden, Rettungskredite, neue Sozialkosten, Auffangschirme für Staaten. Diese neuen, nun noch höheren Schuldenberge überleben die Staaten nur, wenn sie auch längerfristig kaum Zinsen bezahlen müssen. Also ist damit zu rechnen, dass die Zinsen noch für Jahre weiter um null oszillieren werden, für stärkere Währungen sogar unter null. Wir würden uns nicht einmal die Augen reiben, wenn demnächst auch das Fed die Leitzinsen unter null setzen würde. Grossbritannien denkt jetzt gerade an ein solches Unterfangen.

Sollte der Markt die Unmengen an neuen Staatsanleihen von klammen Ländern nicht aufnehmen können, kaufen die Zentralbanken die überschüssigen Anleihen einfach auf. So können die Zinsen schön unten bleiben. Gerade so macht es das Fed im Moment. Also so funktioniert Makroökonomie heute? Unsere grossen verstorbenen Ökonomen werden sich im Grabe umdrehen.

Fazit: Vielleicht werden wir – in der Schweiz – binnen Kürze tatsächlich negative Hypotheken aufnehmen können. Wir arbeiten weiter von zu Hause aus und sparen so viel Geld. Wir legen uns einen grösseren Öltank zu, in der absurden Hoffnung vielleicht, dass wir mit einer Tankfüllung zum richtigen Zeitpunkt obendrauf noch Geld erhalten. Weil draussen im Einzelhandel nichts mehr geht, herrscht Deflation – wir können uns also noch viel mehr leisten. Wir müssen das Geld ja ausgeben, denn sonst werden wir mit Negativzinsen bestraft. Wir studieren die Immobilienangebote und freuen uns, dass doch einiges günstiger geworden ist. Wird also doch alles gut…?

Autor: Paul Carpenter

Paul Carpenter ist ein Pseudonym. Der dahinter stehende Kommentator bleibt anonym. Paul Carpenter lebt seit 15 Jahren in Dubai, ist international vernetzt und beobachtet das Wirtschaftsgeschehen sehr kritisch. Er studierte Ökonomie und Publizistik in St. Gallen und betätigte sich lange als CEO und Unternehmer. Seit einigen Jahren ist er Unternehmensberater und schreibt Kolumnen, welche sich auf den Link von Mikro- und Makroökonomie konzentrieren.